Vier Jahre Frühe Nutzenbewertung
Über die Erfahrungen mit dem AMNOG
Seit dem 1. Januar 2011 muss sich jeder neue Wirkstoff, wenn er auf den Markt kommt, einer Nutzenbewertung unterziehen. Dabei soll der Zusatznutzen gegenüber dem bisherigen Therapiestandard dargelegt werden. Der VdPP hat sich bereits 2010 mit dem Gesetzentwurf der CDU/CSU/FDP kritisch auseinander gesetzt und fragt: Wie sieht die Bilanz der Frühen Nutzenbewertung nach gut vier Jahren aus? Wir dokumentieren einen Text von Ulrike Faber aus dem VDPP-Rundbrief Nr. 91, 2/2015
Das AMNOG (1) ist in erster Linie als Instrument der Preisregulierung gedacht. Das Ziel: Senkung der jährlichen GKV-Ausgaben um 2,2 Mrd. Euro. Der Preis, den die Gesetzliche Krankenversicherung GKV für ein neues Arzneimittel bezahlt, muss sich zukünftig vor allem nach seinem konkreten therapeutischen Nutzen richten. Der schematische Verlauf des Verfahrens ist in Abb. 1 dargestellt.
So funktioniert das AMNOG
Zum Markteintritt des Arzneimittels mit einem neuen Wirkstoffs muss ein Dossier eingereicht werden. Das Verfahren endet mit dem Erstattungspreis, der ab Anfang des 13. Monats gilt. Der Zusatznutzen ist ein Nutzen, der qualitativ oder quantitativ höher ist als der Nutzen der zweckmäßigen Vergleichstherapie, also einer bisher verfügbaren Standardtherapie. Der G-BA entscheidet über die Größe des Zusatznutzens (bewertet als erheblich, beträchtlich, gering, nicht quantifizierbar, geringer oder kein Zusatznutzen) und die statistische Wahrscheinlichkeit (ausgedrückt als Anhaltspunkt, Hinweis, Beleg). Der Beschluss des G-BA wird veröffentlicht, ebenso das Dossier und die Nutzenbewertung des IQWiG und in der »Zusammenfassenden Dokumentation« die schriftlichen Stellungnahmen und das Wortprotokoll der mündlichen Anhörung. Alles ist auf der Homepage des G-BA einsehbar. (2)
Bis Mai 2014 wurden 74 neue Arzneimittel in 134 Indikationen bewertet. In 40 Prozent der bewerteten Indikationen wurde ein beträchtlicher oder geringer oder nicht quantifizierbarer Zusatznutzen festgestellt. Die beste Bewertung »erheblich« kam nicht vor. Aber in 56 Prozent konnte durch die eingereichten Studien kein Zusatznutzen belegt werden (Abb. 2). Dieses Ergebnis lässt aufmerken. Für mehr als 50 Arzneimittel wurden bisher Erstattungspreise zwischen Herstellern und GKV ausgehandelt.
Die Bewertungskriterien für die Zulassung eines Arzneimittels im Arzneimittelrecht sind Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Häufig wird in Zulassungsstudien nur gegen Placebo und nicht gegen einen aktiven Vergleichsarm geprüft. Diese »drei Hürden« der Zulassung beurteilen die therapeutische Wirksamkeit eines Arzneimittels, aber nicht den therapeutischen Nutzen.(3)
Für den Beleg des therapeutischen Nutzens muss der Nachweis erbracht werden, dass das Arzneimittel eine für Patienten relevante Zielgröße verbessert. Diese ist dargestellt in »patientenrelevanten Endpunkten«, nämlich Verbesserung des Gesundheitszustandes, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung des Überlebens, Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität oder Verringerung unerwünschter Effekte (Morbidität, Mortalität, Lebensqualität).
Damit knüpft das AMNOG an den im Sozialgesetzbuch (z.B. § 35 SGB V) schon lange geforderten Nachweis des »therapeutischen Nutzens« einer Leistung an.
In Deutschland gab es bis 2010 traumhafte Vermarktungsbedingungen: Arzneimittel konnten unmittelbar nach der Zulassung mit Preisen, die vom Hersteller frei bestimmt werden, die Erstattungsfähigkeit durch die GKV erreichen. Dagegen sind in fast allen europäischen Ländern seit vielen Jahren Regelungen der Nutzenbewertung und der Preisbildung nach der Zulassung etabliert. Kosten-Nutzen-Bewertungen sind international ein rechtlich geregelter und fester Bestandteil bei Entscheidungen im Gesundheitswesen, insbesondere bei Arzneimitteln. In Deutschland aber nicht.
In den meisten europäischen Ländern gelten die deutschen Arzneimittelpreise als Referenzpreise. In der Gesetzesbegründung zum AMNOG hieß es: »Die hohen Ausgabenzuwächse der vergangenen Jahre haben dazu geführt, dass im Jahr 2009 einschließlich der Zuzahlungen der Versicherten mehr als 32 Mrd. Euro für Arzneimittel ausgegeben wurden. [...] Wachstumsträger sind kostenintensive Spezialpräparate mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten.« (4)
Es ist nachvollziehbar, dass das AMNOG nicht auf Freude bei den Pharmazeutischen Unternehmern stößt, wenn transparente Arzneimittelbewertungen und Preissenkungen und Gefährdung des europäischen Preisniveaus drohen. Ihre offensichtliche Strategie: Die Frühe Nutzenbewertung einerseits begrüßen und andererseits in jedem Detail angreifen: Falsche Vergleichstherapie, bürokratisches Verfahren, intransparentes Vorgehen, Nichtberücksichtigung von Studien, methodische Fehler, Einbeziehung der falschen Experten, Nichtbeteiligung der Fachgesellschaften, keine Mitwirkung von Patienten, Übermacht der GKV, unflexible Preisverhandlungen.
In der Pharmawerbung ist die Frühe Nutzenbewertung angekommen (Abb. 3). Für Sitagliptin imponiert in großer Schrift »beste Nutzenbewertung« (Empfehlung des IQWiG für eine Subpopulation) und verschwindet fast im kaum Lesbaren der Beschluss des G-BA, »Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen«: Dies ist die schwächste Bewertung mit der geringsten Wahrscheinlichkeit, und sie gilt nicht für alle zugelassenen Indikationen von Sitagliptin.
Positive Aspekte des AMNOG
Unsere damalige Bewertung kritisierte vor allem das Übergewicht der ökonomischen Aspekte in der neuen Gesetzesregelung. Nach gut drei Jahren ist eine differenziertere und im Ergebnis auch positivere Betrachtung möglich.
Unabhängigkeit und Transparenz: Eine institutionalisierte unabhängige Aufbereitung der aktuellen Erkenntnisse über einen neuen Wirkstoff gab es bisher nicht. Die öffentliche Auseinandersetzung über neue Wirkstoffe kann das wissenschaftlich fundierte Wissen über Arzneimittel und in der Folge auch die Versorgungsqualität verbessern. Für Ärzte, Apotheker und Patienten wird eine bisher nicht erreichte Transparenz über neue Wirkstoffe geschaffen.
Evidenzbasierte Bewertung: Die Nutzenbewertung erfolgt evidenzbasiert und nach patientenrelevanten Endpunkten (Morbidität, Mortalität, Lebensqualität); Surrogatparameter, also etwa Laborwerte, werden nicht herangezogen werden, es sein denn, sie würden eine valide Aussage zu den relevanten Endpunkten erlauben, was selten ist. Ihre bisher prominente Bedeutung schrumpft erfreulicher Weise.
Aktuelle Patienteninformation über neue Wirkstoffe: Zusammen mit der Nutzenbewertung veröffentlicht das IQWiG eine »Gesundheitsinformation« für Patienten(5). Diese Möglichkeit, sich hochaktuell und verständlich über Innovationen informieren, ist ein unglaublicher Gewinn für Patientinnen und Patienten und auch für die Gesundheitsberufe. In der pharmazeutischen Praxis scheinen diese Informationen noch gar nicht angekommen zu sein.
Mögliche Preissenkungen: Schluss mit überhöhten Preisen! Wenn ein neues Arzneimittel keinen Zusatznutzen belegen kann, darf der Preis nicht höher liegen als der Preis der »zweckmäßigen Vergleichstherapie«. Ein höherer Zusatznutzen dagegen soll mit besseren Preisen »belohnt« werden. Noch ist aber offen, ob dieses Prinzip funktioniert. Im ersten Jahr kann der Hersteller jeden beliebigen Preis fordern, siehe Sovaldi mit 700 Euro pro Tablette. Hohe Erstattungspreise gegen großen Zusatznutzen sollen die Innovationsfreudigkeit der Hersteller anregen; Scheininnovationen sollen sich nicht mehr lohnen. Der Anreiz scheint richtig gesetzt, ist aber noch nicht beurteilbar, weil der zu erwartende Erfolg natürlich einige Zeit braucht.
Marktbereinigung zum Patientennutzen: Hersteller haben insgesamt vierzehn Arzneimittel, für die kein Zusatznutzen festgestellt wurde, vom Markt zurückgezogen (u. a. die Bestandsmarktpräparate Galvus, Eucreas, Jaldra und Icandra mit dem Wirkstoff Vildagliptin). Viele Patienten werden deshalb mit Therapieumstellungen konfrontiert; das Gute ist aber, dass sie nun verschont werden von hochpreisigen Arzneimitteln ohne nachgewiesenen Nutzenvorteil im Vergleich zu bewährten Therapeutika. Das AMNOG-Prinzip Geld gegen Nutzen will Novartis nicht mittragen: »Einen Preis, der auf Generika-Niveau festgelegt würde, können wir nicht mitgehen«(6).
Die Kritik am AMNOG
Keine vierte Hürde: Das AMNOG ist keine vierte Hürde innerhalb des Zulassungsverfahrens, also vor der Zulassung. Wie bisher wird das neue erstattungsfähige Arzneimittel mit dem Markteintritt ohne Nutzenbewertung im Rahmen der GKV finanziert, zunächst für ein Jahr. Kosten-Nutzenbewertungen sind kein elementarerer Bestandteil der Frühen Nutzenbewertung und können erst nach einem Jahr beantragt werden.
Keine Orphan Drug-Bewertung: Arzneimittel für die Behandlung seltener Krankheiten (Orphan Drugs) sind nach dem Willen des Gesetzgebers und gegen heftige Kritik(7) von der Nutzenbewertung ausgenommen; ihr Nutzen gilt als mit der Zulassung belegt. Diese Ausnahme ist durch nichts gerechtfertigt. Patienten mit seltenen Erkrankungen werden dadurch benachteiligt. Aktuelle Untersuchungen des IQWiG haben ergeben, dass die Studienlage auch für Orphan drugs die Nutzenbewertung ermöglichen würde.
Keine Verpflichtung zum Dossier: AMNOG erlaubt, kein Dossier oder ein unvollständiges Dossier einzureichen. Dann heißt das Bewertungsergebnis: »Der Zusatznutzen gilt als nicht belegt«. Ungeklärt bleibt: Ist der Nutzen gleich mit dem der Vergleichstherapie oder ist er sogar geringer? Wenn der Hersteller kein Dossier einreicht und die Chance auf einen besseren Preis nicht nutzt, ist Letzteres eher anzunehmen. Eine Vergleichstherapie auf hohem Preisniveau kann auch den Preis des neuen Präparates ohne Dossier in die Höhe treiben. Das ist unbefriedigend. AMNOG verhindert nicht, dass auch weiterhin Arzneimittel auf den Markt kommen und bleiben, die die Versorgung der Patienten nicht verbessern und vielleicht sogar verschlechtern. Diese Lücke im AMNOG gehört z.B. durch Dossierpflicht geschlossen. Eine kleine Anfrage der LINKEN hat die Debatte darüber befördert(8); aber Änderungen sind nicht vorgesehen. Auch Dossiers ohne jede Aussagekraft sind möglich. Wie so ein formal vollständiges, aber unzureichendes Dossier beschrieben wird, zeigt Abb. 4 am Beispiel der Nutzenbewertung für Dabrafenib gegen Malignes Melanom.
Lebensqualität nicht ernst genommen: Laut SGB V ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität neben Morbidität und Mortalität ein patientenrelevanter Endpunkt. In vielen Dossiers legen die Hersteller aber gar keine bewertbaren Daten zur Lebensqualität vor. Für Patienten besteht die Gefahr, dass geringe Vorteile eines neuen Arzneimittels, etwa eine in Tagen zu messende Verlängerung der Überlebenszeit bei einer Krebserkrankung, mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensqualität erkauft werden müssen; Patienten und Ärzte brauchen auch diese Daten, wenn sie eine individuelle Entscheidung für oder gegen eine solche Therapie treffen müssen. Diese Problematik wird inzwischen deutlicher wahrgenommen.
Keine Bestandsmarktbewertung – Einsparziel verfehlt: Die im AMNOG vorgesehene Nutzenbewertung von Arzneimitteln des Bestandsmarktes (vor dem 1. Januar 2011 zugelassen) wurde als Ergebnis des Koalitionsvertrages CDU/CSU/SPD Anfang 2014 gänzlich aufgehoben. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft hatte gut begründet und energisch dagegen protestiert.(9) Der G-BA musste den Aufruf von 24 relevanten Wirkstoffen zurücknehmen, geblieben sind nur die bereits abgeschlossenen Bewertungen der Gliptine. Das 2-Mrd-Einsparungsziel durch AMNOG ist unerreichbar geworden.
So bleibt z.B. die kostenintensive Oxycodon/Naloxon-Kombination (Targin) unbewertet, Einsparpotenziale um 100 Mio. Euro werden nicht genutzt, während Targin in anderen Ländern (Schweden, Großbritannien, Niederlande, Frankreich) gar nicht oder nur eingeschränkt verordnet werden kann, weil der Zusatznutzen nicht ausreichend belegt ist. Ebenso skandalös ist die Nichtbewertung der neuen oralen Antikoagulantien (Dabigatran, Rivaroxaban) – bei explodierenden Verordnungszahlen, extremen Kosten und nicht bewertetem Zusatznutzen.
Die Interessen der Patientinnen und Patienten an sicherer und wirksamer Arzneitherapie werden mit diesem Beschluss missachtet. Um die Veröffentlichung der Erstattungspreise wird heftig gefochten. Die Hersteller fürchten negative Auswirkungen der Preistransparenz auf das europäische Preisniveau. Dazu schreibt der Arzneiverordnungsreport 2014 treffend: »Die äußerst mangelhafte Transparenz der ausgehandelten Arzneimittelpreise passt nicht zu den Kriterien eines öffentlich-rechtlich finanzierten Versicherungssystems«.(10)
Bisher wurden Einsparungen um 150 Mio. Euro pro Jahr realisiert. Unklar bleibt, wie diese Einsparungen errechnet werden und ob das eingangs erwähnte Credo Geld gegen Nutzen umgesetzt wird. Schwer vorstellbar ist, dass die meist sehr hohen Einstandspreise keinen Einfluss auf die dann zu verhandelnden Erstattungspreise haben sollen. Vorgeworfen wird eine Preisfindung, wie sie Teppichhändlern nachgesagt wird. Dieses Problem ließe sich entschärfen, wenn die nach einem Jahr ausgehandelten Erstattungspreise rückwirkend ab dem 1. Monat des Inverkehrbringens gelten würden. Eine Verlagerung der Preisverhandlungen vom GKV-Spitzenverband hin zu einzelnen Kassenverbänden, wie aktuell gefordert wird, wäre hingegen eher das Ende einer durch AMNOG angestrebten Kostendämpfungspolitik. Der G-BA hat praktisch keine Möglichkeit mehr, ein Arzneimittel wegen fehlenden Nutzens von der Verordnungsfähigkeit auszunehmen. Einmal auf dem Markt heißt immer auf dem Markt, wenn sich keine besonderen Risiken zeigen.
Fazit: Erfolgsmodell, aber...
Zur Sicherung einer qualitätsgesicherten, rationalen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung von Patientinnen und Patienten gäbe es am AMNOG noch einiges zu verbessern. Aber ein erster wichtiger Schritt wurde getan, und nun kommt es darauf an, die Möglichkeiten zu nutzen und vor allem darauf zu achten, dass das Rad in der deutschen und internationalen Entwicklung (Zulassungskriterien in der EU werden diskutiert, Freihandelsabkommen geheim beraten! ...) nicht wieder zurück gedreht wird.
Ulrike Faber ist als Patientenvertreterin beim G-BA an den Verfahren der Frühen Nutzenbewertung beteiligt. Alle hier gemachten Aussagen stammen ausschließlich aus veröffentlichten Unterlagen.
Anmerkungen
1 Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz. http://www.bgbl.de/banzxaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl110s2262.pdf [15.11.2014]
2 https://www.g-ba.de/informationen/nutzenbewertung/ [15.11.2014]
3 Gerd Glaeske: »Das Dilemma zwischen Wirksamkeit nach AMG und patientenorientiertem Nutzen«, Dtsch Arztebl Int 2012; 109(7): 115-6; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0115
4 AMNOG Gesetzentwurf. Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode Drucksache 17/3116 (1.10.2010)
5 http://www.gesundheitsinformation.de/ [15.11.2014]
6 http://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/wirtschaft/news/2014/06/18/novartis-verkuendetvildagliptin-abverkauf/13108.html [15.11.2014]
7 Jürgen Windeler et al.: »Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz: Zu guter Letzt ist alles selten«, Dtsch Arztebl 2010; 107(42): A-2032
8 Kleine Anfrage der Fraktion die Linke und Antwort der Bundesregierung. Deutscher Bundestag 18. Wahlperiode Drucksache 18/2733 (7.10.2014)
9 http://www.akdae.de/Stellungnahmen/BMG/index.html
10 »Arzneiverordnungsreport 2014«, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, S. 186
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt Prävention, 1/2015)