GbP 1-2015 Nadja Rakowitz

Klassenmedizin

Rezension über: Bernd Kalvelage: »Klassenmedizin. Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst«, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg 2014,218 Seiten, 34,99 Euro, ISBN 978-3-642-54749-2

Schon der Titel macht stutzig: Erst einmal irritiert an Bernd Kalvelages Buch die Kombination eines marxistisch anmutenden Begriffs wie Klassenmedizin mit dem eher altertümlich konservativ daherkommenden der Heilkunst – und dieser auch noch kombiniert mit Reformation statt Reform. Noch mehr irritiert aber der affirmative Bezug zum Begriff Klassenmedizin. Man hätte eine Kritik derselben erwartet, wie sie von Linken geführt wird – oft mit einer zum Zwecke der Dramatisierung versehenen quantitativen Bestimmung (Zweiklassenmedizin, Dreiklassenmedizin etc.). Kalvelage meint dagegen mit Klassenmedizin »eine Sicht auf Medizin und Gesellschaft von unten«, es geht ihm darum, an der Utopie einer konfliktfähigen und solidarischen Gesellschaft festzuhalten und deshalb dem Leser zuzumuten, den »selektierenden Einfluss der Schicht- und Klassenzugehörigkeit auf das Krankwerden und Kranksein« anschaulich und damit angehenden ÄrztInnen bewusst zu machen (S. VII).

Denn das Buch von Bernd Kalvelage ist als Lehrbuch für Medizinstudierende und angehende ÄrztInnen gedacht. Es ist aus der medizinischen Praxis in Wilhelmsburg, einem sozialen Brennpunkt in Hamburg entstanden. Dort wachsen »Hochhäuser und nicht Utopien« in den Himmel, dort muss »ein Minimalstandard gehalten werden« und die Herstellung von Chancengleichheit muss »am Existenzminimum versucht« werden (S. 20). Von hier aus, und nicht von dem geographisch gegenüberliegenden Villenvorort Blankenese, will das Buch – angelehnt an T.W. Adornos »Minima Moralia« – ein »Minima Utopia« einer patientenorientierten schichtsensiblen Medizin entwerfen, denn Wilhelmsburg sei stärker für Zukunftsentwürfe offen, weil ihrer mehr bedürftig (ebd.). Von hier aus erklärt sich aber auch die massive Kritik an den eklatanten Qualitätsdefiziten der in Deutschland praktizierten Medizin.
Dass dem Buch ein Adorno-Zitat vorangestellt und dieser auch mehrfach im Buch zitiert wird, ist nicht bloß Attitüde, sondern spiegelt sich auch im methodischen Herangehen an den Gegenstand: Statt vermeintlich wissenschaftliche Objektivität zu behaupten (wie der bürgerliche Mainstream, der dabei immer auch Partei ergreift), wird hier klar und transparent Partei ergriffen (S. 9) – für die armen und kranken Menschen, die diese Gesellschaft nicht zufällig »produziert«, in Deutschland ca. ein Fünftel der Gesellschaft. Armut und Ausgrenzung, Herrschaft zu bekämpfen wird hier als Teil der praktischen Medizin vorgestellt. Kalvelage nennt diese Perspektive – sympathisch old school und ohne Angst vor neoliberalem Zynismus – die Perspektive »von unten« (S. 10). Es geht dabei um den Spagat, einerseits die sozialen Determinanten von Gesundheit/Krankheit zu erkennen und damit den Einfluss der medizinischen Versorgung auf dieselbe als sehr beschränkt anzuerkennen, andererseits aber den Spielraum der praktischen Medizin, der trotz dieser Erkenntnis bleibt, für den Patienten und mit dem Patienten möglichst gut und im Interesse der Betroffenen zu nutzen. Der Grund dafür, dass Kalvelage hierfür den eher patriarchal anmutenden Begriff der »Heilkunst« wieder auspackt, erschließt sich dem Leser nicht, zumal das, was er konkret beschreibt, weniger an Kunst als an solides und reflektiertes Handwerk erinnert.

Was heißt das nun konkret?

Das Buch ist in acht Abschnitte eingeteilt und endet mit »Thesen zur Reformation der Heilkunst« und dem Kapitel »Gesundheit und soziale Ungleichheit« aus der programmatischen Schrift des vdää, dessen Mitglied Kalvelage ist und den er für den einzigen politisch-motivierten Zusammenschluss von Ärzten in Deutschland hält, »der den Patienten und nicht die eigenen Standesinteressen in den Mittelpunkt seiner Programmatik stellt« (S. 214).

Der erste Abschnitt »Minima utopia« (S. 1-22) beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, also mit sozialer Ungleichheit und dem Problem des Anspruchs auf Gleichheit in der Behandlung, wie es z.B. Medizinstudierende anhand der Theorie von Parsons lernen sollen. Kalvelage setzt dagegen eine »individuelle« Medizin, weil eine Lehrbuch-Behandlung »ohne Ansehen der Person« nicht die Lösung des Ungleichheitsproblems sein kann, weil etwas Entscheidendes ausgeblendet oder gar nicht erst wahrgenommen wurde, dass nämlich jeder Kranke eine individuelle Medizin benötige, die »seinen sozialen Status, seine Möglichkeiten und Grenzen kennt und berücksichtigt« (S. 5). Klassenmedizin bedeute dementsprechend, Patientenerwartungen aufzunehmen, nachzufragen und nachzuschauen, wo der Patient steht und was er braucht. (S. 6) Selbstredend müssen, um dieses Anliegen deutlich zu machen, viele praktische Beispiele bzw. Beispiele aus der Praxis dargestellt und diskutiert werden. So werden uns durch alle Kapitel hindurch Fallbeispiele/Patienten und ihre individuellen Geschichten vorgestellt und Erfahrungen und Vorschläge für den Umgang mit ihnen. Bei vielen Beispielen wird deutlich, dass eine gute Behandlung sich oft nicht erschöpft in der »rein« medizinischen Behandlung des Leidens, sondern dass die Angehörigen, die Arbeits- und Lebensbedingungen miteinbezogen werden müssen – die sich freilich oft sehr viel schwerer »heilen« lassen als Krankheiten.

Das zweite Kapitel widmet sich unter dem Titel »Vorsicht Arzt« (S. 23-40) der Funktion und Rolle des Arztes und der Frage, was ein guter Arzt sei. Dabei bekommen Halbgötter in Weiß genauso ihr Fett weg wie zu IGeL-Verkäufern verkommene KollegInnen. Die Fallbeispiele in diesem Kapitel – meistens Patienten, die Kalvelage von den Erfahrungen bei anderen (Fach-)ÄrztInnen berichten – zeugen davon, wie weit die Ökonomisierung im deutschen Gesundheitswesen oder hier besser: unter deutschen ÄrztInnen fortgeschritten ist. Da das Anliegen des Buches auch immer die Selbstreflexion des Arztes ist, endet dieses Kapitel mit dem »Arzt als Patient« und der Selbsterfahrung des Autors, die Informationen preisgibt, die ich als Leser lieber nicht erfahren hätte. Die Passagen, in denen auch die eigene Rolle, die eigenen Probleme mit bestimmten Situationen geschildert werden, sind ansonsten aber lehrreich und nützlich.

Kapitel 3 »Arzt werden und Mensch bleiben« (S. 41-50) setzt die Überlegungen des vorherigen Kapitels fort und reflektiert zunächst den Umgang mit Krankheit, Tod und Angst – nicht nur des Patienten, sondern auch des Arztes und endet mit einer Wendung in Positive: dass man nämlich als Arzt sich aller menschlichen Sinne bedienen solle. Es endet mit einem Plädoyer für die Medizin als Erfahrungswissenschaft, einer kleinen Wahrnehmungskunde.

Kapitel 4 »Preis, Wert, Würde« (S. 51-84) und Kapitel 5 »Hierarchie: Das Sakrament der heiligen Herrschaft« (S. 85-104) beschäftigen sich dann mit den strukturellen Momenten des Gesundheitswesens. Dort räumt Kalvelage als erstes – und zu Recht! – auf mit der Propaganda des »zu hohen Anspruchsdenkens« vor allem bei PatientInnen aus der Unterschicht, die man z.B. in dem Buch von Paul Nolte (2004) aber auch in vielen anderen Büchern über das Gesundheitswesen bzw. in Kritiken des solidarischen Gesundheitswesens findet. Erstens ist diese eher auf der Seite der Leistungserbringer zu finden und zweitens werde dies auch gefördert durch IGe-Leistungen etc. Wenn man Anspruchsdenken auf Seiten der PatientInnen finde, dann »besonders bei gesunden Angehörigen der ›Mittel‹- und ›Oberschicht‹« (S. 54). Es erfordere vom Arzt »eine ehrliche (!) Aufklärung über berechtigte Ansprüche und ihre Grenzen und gelegentlich ein überzeugendes, emotionsloses NEIN.« (ebd.) Hier setzt sich das Buch auch mit der Honorierung von ÄrztInnen und folgerichtig (im Denken der ÄrztInnen) mit der Zweiklassenmedizin auseinander, die das Gegenteil von Klassenmedizin ist, nämlich die Ungleichbehandlung von PKV- und GKV-PatientInnen aus finanziellen Gründen. Kapitel 4 endet mit einer massiven Kritik an Ärzte-Streiks. Bei allen Unterschieden zwischen Streiks von angestellten und niedergelassenen Ärzten (letzteres ist streng genommen gar nicht »Streik« zu nennen), laufen Ärzteforderungen aus Klinik und Praxis, so Kalvelage, auf »2 unvereinbare Wünsche hinaus: alles zu belassen, wie es ist, und mehr Geld« (S. 82). Die Streiks der Niedergelassenen hält Kalvelage für verlogen: »Die ehrliche Aussage müsste lauten: Wir Ärzte wollen mehr Honorar. Du, Patient sollst es bezahlen.« (Ebd.)

In Kapitel 5 erinnert Kalvelage dankenswerter Weise noch einmal an das demokratische Konzept des »klassenlosen Krankenhaus« aus den 70er Jahren als Moment der antiautoritären (im Krankenhaus antihierarchischen) Bewegung, die an den Krankenhäusern mehr oder weniger spurlos vorüber gegangen sei. Auch wenn Kalvelage in diesem Kapitel auf die Veränderungen eingeht, die durch die Ökonomisierung der letzten Jahre die Krankenhäuser erfasst hat und die zu Überversorgung (»diagnostische und therapeutische Maßnahmen ohne ausreichende Indikation«, S. 94) und zu Unter- und Fehlversorgung (»Unterlassung aus Kostengründen«, ebd.) führt, hätte man sich hier eine genauere Auseinandersetzung mit den DRG und ihren fatalen Konsequenzen gewünscht. Freilich ist die Kritik an der Hierarchie im Krankenhaus nach wie vor notwendig und berechtigt, aber die Zwänge und Veränderungen, die durch das DRG-Preissystem und die mit diesem einhergehende Konkurrenz Einzug im Krankenhaus gehalten und die bis in die Prozeduren hinein die Versorgung verändert haben, bleibt in dem ansonsten so (gesellschafts-)kritischen Buch zu wenig belichtet.

Sehr verdienstvoll ist dagegen, wie viel Gewicht das Buch dem Thema »Aesculap und andere Ausländer« (Kap. 6, S. 105-148) gibt. Hier diskutiert Kalvelage Probleme der Kommunikation und der Compliance, die zusammenhängen, mit migrantischen PatientInnen. Es werden aber auch politische Probleme von Diskriminierung, Ungleichbehandlung und einem zunehmend rassistischen politischen Diskurs als auch ethische Probleme der Medizin thematisiert – z.B. wenn sich Ärzte beim Brechmitteleinsatz gegen den Willen des »Patienten« zum Handlanger der Staatsgewalt machen (S. 111). Es werden aber auch – vor dem Hintergrund der Arbeit der MediBüros – ganz praktisch – rechtliche Fragen bezüglich der Behandlung von Menschen ohne Papiere diskutiert (S. 115f.). Genauso wie praktische Probleme des Dolmetschens in der Praxis mit Hilfe von Angehörigen. Zurecht endet das Kapitel mit der These, dass die »Qualität der Versorgung von Migranten … ein Indikator für soziale Verantwortung und Humanität in unserem Gesundheits- und Gemeinwesen« sei (S. 139). Gemessen daran ist der Reformbedarf freilich extrem hoch in Deutschland!

Im Kapitel 7 »Chronifizierung und die Folgen« (S. 149-184) werden nicht nur die Chronifizierung von Krankheiten bei PatientInnen diskutiert, sondern auch die »Chronifizierung des Arztseins«, die »Chronifizierte ärztliche Standespolitik«, die »Chronifizierung der sozialen Lage« und letztlich die »Chronifizierung der Gesundheit« selbst thematisiert. In letzterem Abschnitt geht es um die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, von IGeL bis zur Erfindung neuer Krankheiten zwecks Steigerung der Profite.

Kapitel 8 widmet sich dann der »Solidarität« (S. 185-206) und fragt – frei nach Tina Turner – ob diese nicht inzwischen eine »second hand emotion« sei, denn »Geiz ist geil«-Kampagnen, aber auch Priorisierungsdebatten unter der Ärzteschaft haben gesellschaftliche Solidarität ausgehöhlt. Kalvelage hält mit den Erkenntnissen von Wilkinson/Picket dagegen, die zu zeigen versuchten, »warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind« (S. 188). Und gegen bislang unnötige Rationierungsforderungen schlägt Kalvelage vor, ungenutzte Rationalisierungsreserven zu nutzen, wie z.B. die Beseitigung von Fehl- und Überversorgung, Veränderung der Gebührenordnungen für Niedergelassene, um unsinnige Mengenausweitungen zu vermeiden, Kontrolle von Großgeräteeinsatz, Kontrolle und Steuerung der pharmazeutischen Produktion und Zulassung etc. (S. 196). Diese Forderungen findet man dann auch in den insgesamt 30 »Thesen zur Reformation der Heilkunst«, die allerdings gesundheitspolitisch noch grundsätzlicher sind: Es gehören die Forderung einer Rekommunalisierung der Krankenhäuser, das Verbot von IGe-Leistungen, ein Vorrang der Verhältnisprävention, eine gemeinsame Ausbildung von Medizinstudierenden mit Auszubildenden in Pflegeberufen etc. dazu (S. 208f.) Die Forderungen ergeben sich schlüssig aus der vorher entwickelten Kritik der aktuellen Verhältnisse und aus den Erfahrungen der praktischen Klassenmedizin.

Aus meiner langjährigen Erfahrung in der gesundheitspolitischen Zusammenarbeit mit ÄrztInnen und in Forschung und Lehre der Medizinsoziologie, deren Lehrbücher ein eher verzwergtes wissenschaftliches Niveau haben, kann ich nur sagen: Wie froh wäre ich gewesen, hätte ich für die Lehre von Medizinstudierenden schon mit dem Buch von Kalvelage arbeiten können!

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt Prävention, 1/2015)


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