GbP 1-2015 Ingelohre Fohr

vdää meets »Gesundes Kinzigtal«

Besuch bei einem Modellprojekt der integrierten Versorgung

Das im Ortenaukreis/Schwarzwald angesiedelte »Gesunde Kinzigtal« gilt als umfassendes Modellprojekt der integrierten Versorgung. Am 6./7. Februar fuhr eine Gruppe aus dem vdää nach Haslach, um den theoretischen Ansatz kennenzulernen, die praktische Umsetzung aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren und das vielerorts hochgelobte Projekt kritisch zu hinterfragen. Die wichtigsten Diskussionsstränge werden im Bericht von Ingelore Fohr dargestellt.

Der Arbeitskreis »Niedergelassene im vdää« ringt schon lange um Ideen und politische Forderungen die zum Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung sowie zu einer Überwindung der Sektorengrenzen im Gesundheitswesen beitragen. Dabei ist das Ziel eine bessere Versorgung aller, v.a. auch benachteiligter Patienten bei gleichzeitig sorgfältigem Umgang mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen. Diskutiert wurden verschiedene, von der Gesundheitspolitik veranlasste Veränderungen wie Hausarztverträge, MVZ oder Integrierte Versorgung. Es zeigte sich, dass bisher keine der Neuerungen zu nachhaltigen Veränderungen geführt hat. Hausarztverträge reduzieren nicht die Anzahl der Facharztbesuche, Hausärzte werden zu Überweisern statt den Behandlungsprozess zu steuern, weil sie keine Zeit haben, den Sinn von Überweisungen mit den Patienten zu diskutieren und außerdem riskieren, dadurch die Arzt-Patient-Beziehung zu stören. MVZ werden häufig in attraktiven Zentren gegründet und erhöhen tendenziell die dort bereits vorhandene Überversorgung. Verträge zu Integrierter Versorgung und andere Selektiv-Verträge zergliedern die Versorgungslandschaft und behindern damit die flächendeckende Versorgung. Außerdem sind viele dieser neuen Versorgungsformen einige Jahre nach der Einführung gescheitert. Es gibt aber eine Ausnahme: die Integrierte Versorgung des »Gesunden Kinzigtal« scheint ein Erfolgsmodell zu sein und beansprucht, bei zunehmend optimierter gesundheitlicher Versorgung der Bevölkerung sparsamer mit den Ressourcen der Krankenkassen umzugehen als dies andernorts geschieht.
Das wollten wir uns ansehen und haben deshalb eine schon länger bestehende Einladung des Geschäftsführers, Helmut Hildebrandt, genutzt, um das »Gesunde Kinzigtal« zu besuchen.

Geschichte des »Gesunden Kinzigtal«

Das Projekt wurde 2006 von einem schon viele Jahre bestehenden Ärztenetz und Optimedis, einer Gesundheitsmanagement-Gesellschaft mit Schwerpunkt Integrierte Versorgung, gegründet. Optimedis implementierte die neue Versorgungsform und handelte entsprechende Verträge mit den Krankenkassen (AOK Baden Württemberg und LKK, die 45 Prozent der Bevölkerung in dem Tal versorgen) aus. Die Ärzte, die sich in dem Netz zusammengeschlossen hatten, verstanden sich selbst als »Rebellen« im Gesundheitssystem und wollten die Phase des Klagens und der Unzufriedenheit durch aktives Handeln überwinden. Beide Akteure, Ärztenetz und Optimedis, sind Gesellschafter des »Gesunden Kinzigtal GmbH«. Patienten können sich in diese Form der Integrierten Versorgung einschreiben und werden Mitglieder. Davon haben bisher etwa ein Drittel der Versicherten von AOK und LKK Gebrauch gemacht. Die freie Arztwahl bleibt erhalten. Die eingeschriebenen Patienten können auch Ärzte aufsuchen, die nicht zum Netzwerk gehören.

Theoretischer Hintergrund

Die besondere Ausgestaltung dieses Versorgungsmodels hat Helmut Hildebrandt in einem Artikel in der Zeitschrift »Sozialer Fortschritt« 2009 veröffentlicht. Er analysiert in ihm verschiedene Anreizsysteme auf ihre Wirkungen hin: Einzelvergütungen führen zur Men­gen­ausweitung, Leistungsbegrenzungen zu Reaktanz und negativer Stimmungsmache, Pay for Performance zur Vermeidung »schlechter Risiken« (arme und kranke Patienten) etc. Ziel sollte aber sein, Anreize für sinnvolle Leistungen und den Gesundheitsnutzen aller Patienten zu setzen. Dies wird möglich durch eine in­direkte Gratifikation der Leistungserbringer dafür, dass sich die Gesundheitsversorgung im gesamten System verbessert. Die Idee dahinter ist, dass die Kosten für die Krankenkassen sinken, wenn sich mit hoher Versorgungsqualität die Gesundheit aller Versicherten verbessert. Der Effekt ist besonders stark bei Patienten, die bisher besonders hohe Kosten verursachten. Bei gesünderen und wohlhabenderen Patienten ist dieser Effekt nicht so deutlich. Die Ökonomen sprechen hier von einem schnell abnehmenden Grenznutzen. Diese Prinzipien werden im Gesunden Kinzigtal zugrunde gelegt.

Grundlagen und Maßnahmen des Projekts »Gesundes Kinzigtal«

Das Modell-Projekt »Gesundes Kinzigtal« wurde 2006 gegründet. Die gesetzliche Grundlage waren die Vorgaben zu Selektiv-Verträgen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen nach §140a SGB V. In dem Vertrag, der um eine ausreichende Planungssicherheit zu erzielen über zehn Jahre läuft, wurde festgelegt, dass im Erfolgsfall die GmbH die Hälfte der Einsparungen der beteiligten Krankenkassen bezogen auf die gesamte Region erhält. Aus dem Vergleichswert wurden jährliche Sollwerte von Ausgaben der Krankenkassen in der gesamten Region errechnet. Dem wurden die tatsächlichen Ausgaben pro Jahr als Istwerte gegenübergestellt. Wenn die Istwerte unter den Sollwerten bleiben, erhält das Projekt die Hälfte dieser Einsparungen. Die Einsparungen sollen erzielt werden durch eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung mit dem Ziel, dass die Patienten zufriedener und gesünder werden, was tendenziell und auf längere Sicht zur Kostenreduktion bei den Krankenkassen führt. Dies soll erreicht werden durch Optimierung der Versorgung und Präventionsprogramme. Tatsächlich sind die Istwerte über die Jahre immer unter den Sollwerten geblieben. 2012 lag dieses Delta bei 4,56 Mio. Euro.

Die Optimierungsmaßnahmen setzen bei allen Beteiligten an:
Bei den Leistungserbringern (Ärzte, Therapeuten) führen Weiterbildungen und Benchmarking (Vergleich konkreter Behandlungsaspekte und Verordnungen) zur »best practice«. Schnittstellen zwischen Fachgruppen und Sektoren werden gestaltet durch direkte persönliche Kontakte und Absprachen. Der Informationsaustausch wird erleichtert durch eine elektronische Patientenakte, die jedem am Behandlungsprozess Beteiligten sofort Zugang zu bisherigen Behandlungsdaten ermöglicht, sofern der Pa­tient zustimmt. Leitlinienbezogene Weiterbildungen sollen die Qualität der medizinischen und therapeutischen Interventionen auf einem hohen Niveau halten. Zum Beispiel konnte die Behandlung mit Antibiotika optimiert werden durch Vergleich des Verordnungsverhaltens der einzelnen Praxen und offene Diskussion im Ärztenetz darüber. Beeindruckend war hier das Ausmaß an Transparenz und Vertrauen unter den Kollegen. Ein anderes Beispiel ist die Verordnung von Neuroleptika bei demenzkranken Patienten, die im Gesunden Kinzigtal weit unter den Vergleichsgruppen liegt.
Bei den Patienten führen Informationsveranstaltungen zu einer Verbesserung des Gesundheitswissens und zur Befähigung, eine Behandlung zu beurteilen. Dadurch ändert sich die Arzt-Pa­tient-Beziehung zu einem »shared decision making«.

Das Gesundheitsmanagement generiert neue Konzepte oder übernimmt bewährte Maßnahmen, um sie im System zu implementieren. Die Effekte werden durch externe Evaluation geprüft. Maßnahmen, die sich als sinnvoll erwiesen haben, werden beibehalten und ausgebaut, Maßnahmen, die sich nicht bewähren, werden modifiziert oder aufgegeben. Außerdem gibt es Präventionsprogramme wie gesundes Herz, agile Gesundheitsförderung im Alter oder rauchfreies Kinzigtal.

Ergänzt werden diese Angebote durch Informationsveranstaltungen zu bestimmten gesundheitspolitischen Themen. Die beteiligten Leis­tungserbringer erhalten für die Durchführung dieser Angebote eine Extra-Vergütung. Um die Präventionsprogramme durchführen zu können, werden auch ortsansässige Vereine einbezogen, die Angebote zur Gesundheitsförderung machen können. Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, dass die Pa­tienten durch die Präventionsprogramme zu einem gesundheitsbewussten Verhalten diszipliniert werden sollen. Da die Teilnahme freiwillig ist, scheint dies nicht der Fall zu sein. Tatsächlich beinhalten die Angebote in erster Linie Verhaltensprävention, die eine individuelle Verhaltensänderung bewirken soll. Es gibt aber neuerdings auch einen Ansatz zur Verhältnisprävention in Form des Projekts »Gesundheit im Betrieb«, das die Veränderung von Arbeitsbedingungen zum Ziel hat.

seite10 fahr tabelle

 

Wer zahlt was?

Die Honorierung der Leistungserbringer erfolgt wie üblich über die KV und die Krankenkassen. Die Überschüsse werden dazu genutzt, Mitarbeiter der Verwaltung des Projekts zu bezahlen, zusätzliche angeforderte Leistungen (ausgewählt nach den implementierten Maßnahmen) zu vergüten und ein zusätzliches Einkommen aller Beteiligten zu ermöglichen, wenn die Differenz zwischen Ist- und Sollwerten der beteiligten Krankenkassen besonders günstig ausgefallen ist. Boni können dann sowohl an die Leistungserbringer als auch an die eingeschriebenen Patienten (Mitglieder) ausgeschüttet werden. Ein Teil der Überschüsse wird an die einbezogenen Vereine gespendet.

Obwohl diese Form der Integrierten Versorgung nur einen Teil der Versicherten, der Krankenkassen und der Leistungserbringer in der Region erfasst, generalisiert der gesundheitsfördernde und durch größere Effizienz erreichte Einspareffekt auf die gesamte Versorgungsregion. Dies geschieht indirekt einerseits über die Leistungserbringer, die die nicht eingeschriebenen Patienten in gleicher Weise behandeln wie die eingeschriebenen Patienten. Durch die besondere Art der Finanzierung sind sie an der Gesundheit aller Versicherten interessiert. Außerdem verändert das Projekt Einstellungen und Haltungen innerhalb und zwischen den Praxen sowie das Arzt-Patient-Verhältnis. Anderseits geschieht diese Generalisierung über die Patienten, die auch bei nicht beteiligten Ärzten auf längere Sicht die besondere Art des Umgangs einfordern. Dass sie die Macht dazu haben, wird durch die uneingeschränkte freie Arztwahl gesichert.

Stellungnahme des Patienten-Beirats

Ein Beiratsmitglied berichtet, dass er sich als Patient im »Gesunden Kinzigtal« gut aufgehoben und gut behandelt fühle. Er erlebe gründliche Untersuchungen und sei angetan von dem Recall-System, das ihm helfe, wichtige Maßnahmen für seine Gesundheit beizubehalten (z.B. Impfungen, Termine, Laborergebnisse). Auch die Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sei durch direkte Kontakte der Behandler gut organisiert. Die Organisation der Praxisabläufe (z.B. Wartezeit bei Termin, Aushändigung der Befunde) sei sehr effizient. Er sehe, dass »Gesundes Kinzigtal« viele zusätzliche Mitarbeiter außer den eigentlichen Behandlern habe, er habe aber nicht den Eindruck, dass den Patienten dadurch etwas fehle, weil das Geld anderweitig ausgegeben werde. Auch die trotz der Einschreibung in das Netzwerk weiter bestehende freie Arztwahl kommt den Bedürfnissen der Patienten entgegen. Sie fühlen sich frei, auch eine Zweitmeinung einzuholen. Die Informationsveranstaltungen zu gesundheitlichen Themen werden gerne angenommen. Auch die zentrale elektronische Krankenakte wird als hilfreich wahrgenommen, um die notwendigen Behandlungen schnell und effizient koordinieren zu können, mögliche Probleme mit Datenschutz sind für die Patienten eher nicht essentiell. Der Patientenbeirat hat in dem Netzwerk keine Entscheidungskompetenz, nimmt aber an den Planungen neuer Maßnahmen teil, hat dabei beratende Funktion und kann eigene Ideen einbringen.

Ergebnisse der externen Evaluation

Eine Mitgliederbefragung wurde 2012/13 durchgeführt (Rücklauf 717 = 23,6 Prozent). Im 1. Teil wurde eine Arztbewertung analog zur weißen Liste vorgenommen, im 2. Teil eine Bewertung des »Gesunden Kinzigtal« kombiniert mit Lebens- und soziodemografischen Daten.

Ergebnisse

Das Gesundheitswissen hat bei den Mitgliedern leicht zugenommen. Das Gesundheitsverhalten hat sich bei einem Viertel der Mitglieder verändert. Ebenfalls bei einem Viertel der Mitglieder hat der behandelnde Arzt mit dem Patienten Gesundheitsziele vereinbart, bei chronisch Kranken mehr als bei nicht chronisch Kranken. Die gesundheitliche Betreuung insgesamt bewerteten die Mitglieder zu 53  Prozent als unverändert, zu 23 Prozent als etwas besser und zu 13 Prozent als deutlich besser. Die Mitglieder- und Patientenzufriedenheit wurde mit der Frage untersucht, ob die Befragten das »Gesunde Kinzigtal« weiterempfehlen würden. Gesamtergebnis: ja bestimmt (40 Prozent), ja wahrscheinlich (49 Prozent). Diese gemessene Zufriedenheit wurde mit weiteren Faktoren korreliert, um zu bestimmen, wovon die Mitglieder-Zufriedenheit abhängig ist. Dabei zeigte sich, dass die Zufriedenheit steigt mit einer positiven Beurteilung der gesundheitlichen Betreuung, mit der Vereinbarung von Gesundheitszielen (hier v.a. bei chronisch Kranken), und mit einem positiven Gesamteindruck vom behandelnden Arzt, mit erweitertem Wissen über Gesunderhaltung sowie mit der Teilnahme an Programmen des »Gesunden Kinzigtal«. Der Faktor »chronisch krank« alleine zeigte eine negative Korrelation mit Zufriedenheit (besonders kritische Haltung von chronisch Kranken).

Ein überraschendes Ergebnis ist der hohe Stellenwert von Zielvereinbarungen. Die beteiligten Praxen unterschieden sich sehr stark in der Häufigkeit von Zielvereinbarungen mit ihren Patienten (20-60 Prozent). Neben der Häufigkeit scheint auch die Art der Zielvereinbarungen eine Rolle zu spielen, d.h. wer die Ziele festlegt (Arzt oder Patient selbst?) und ob die Ziele grundsätzlich für den betroffenen Patienten erreichbar sind. Die Wirksamkeit der Gesundheitsziele korreliert wiederum mit chronischen Erkrankungen und der Konsultationshäufigkeit.

Möglichkeiten und Grenzen der Vervielfältigung des Projekts

Trotz begrenzter Forschungsmittel wurde versucht, die Integrierte Versorgung im »Gesunden Kinzigtal« bzgl. Über-, Unter- und Fehlversorgung zu evaluieren. Dazu wurden adjustierte Vergleiche zwischen eingeschriebenen und nicht eingeschriebenen Versicherten in einer Längsschnittuntersuchung durchgeführt. Als Ergebnisse zeigten sich weniger Verordnungen von Benzodiazepinen, kein Unterschied in der Anzahl stationärer Behandlungen sowie geringere Pflegestufen bei eingeschriebenen im Vergleich zu nicht eingeschriebenen Patienten. Kosteneinsparungen ergaben sich im gesamten Versorgungsgebiet bei Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Hilfsmitteln. Die positive Differenz zwischen Ist- und Sollwerten (Delta) ist über die Jahre geblieben. Das Delta wurde kleiner, als im Jahr 2009 der Morbi-RSA eingeführt wurde und Deutschland kurzfristig auch von der Wirtschaftskrise betroffen war. Die »Kinzigtaler Rebellen« verweigerten zeitweise die exakte ICD-Codierung, was zu geringeren Einnahmen der Krankenkassen aus dem Morbi-RSA führte. Hier zeigte sich deutlich, in welchem Ausmaß in diesem System eine ökonomische Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Situation der beteiligten Krankenkassen besteht und wie diese Abhängigkeit dazu führt, dass jeder Akteur auch die anderen Akteure und deren Interessen im Auge behalten muss. Eine Verfolgung egoistischer betriebswirtschaftlicher Interessen oder Alleingänge können das Ganze gefährden und damit auch die Verdienstmöglichkeiten des Einzelnen.

Das Projekt »Gesundes Kinzigtal« ist eine systemische Antwort auf die Herausforderungen des solidarischen Gesundheitssystems durch den Anstieg chronischer Erkrankungen, die Änderung der Patientenrolle (hin zu informiertem Patienten mit Anspruch auf partnerschaftlichen statt paternalistischen Umgang) sowie die grundsätzliche Begrenzung von Beitragssteigerungen bei den Krankenkassen. Dies ist nicht möglich durch immer mehr des Bisherigen, sondern mit einer diskursiven Weiterentwicklung und einer disruptiven Innovation. Voraussetzungen dieser Innovationen sind technologische Erneuerung, einfachere Prozesse sowie das Aufbrechen autoritärer und hierarchischer Denkstrukturen. Dabei ist die Implementierung einer geeigneten IT ein wichtiger Teilprozess. Kooperation gelingt vor diesem Hintergrund besser. Außerdem gehören dazu auch neue Geschäftsmodelle mit ge­ringeren Kosten und höherer Effizienz. Der Prozess ist im Gesunden Kinzigtal zustande gekommen durch die Auseinandersetzung zwischen einem Ärzte-Netz und der Dissonanz aus der Wissenschaft. Dadurch konnte Erstarrung überwunden werden. Das Setting entspricht einem Public Health Ansatz. Voraussetzungen für Gelingen sind eine ausreichende Startinvestition, Motivation, Patienteninteresse und eine entsprechende Positionierung der Krankenkassen.

Die Übertragbarkeit des Modells auf andere Regionen ist abhängig von kleinen Einheiten, der Vereinbarung von Gesundheitszielen (können zu weniger Arztbesuchen und weniger Krankenhaus-Einweisungen führen), des Vorrangs von Gesundheitszielen für die Bevöl­kerung vor kurzfristigen ökonomischen oder Sparinteressen, der Koordination der Projekte durch Gesundheitswissenschaftler, der Kooperation mit Universitäten sowie der Ausbildung von Gesundheitsmanagern.

Bewertung des Projekts durch die Gruppe des vdää

Die Gruppe war beeindruckt und überrascht von den Maßnahmen und Effekten im »Gesunden Kinzigtal«. Es entstand der Eindruck von hoher Arbeitszufriedenheit bei den Behandlern. Beindruckend war auch der offene und kollegiale Umgang der Ärzte untereinander, mit dem Praxisteam und anderen Berufsgruppen, was sich wohl auch auf die Patienten überträgt. Dieses Klima macht es möglich, dass die Evaluationen der einzelnen Praxen gemeinsam reflektiert werden können. Die Stellung der MFA scheint sich in den beteiligten Praxen ebenfalls verändert zu haben, hin zu mehr Kompetenzerleben und Selbstbewusstsein. Eine Verbindung von sozialem Anspruch und besserer Qualität wird spürbar. Im Vergleich zum Hausarztmodell oder Primärarztmodell steht ein partnerschaftlicher Ansatz in der Arzt-Patient-Beziehung stärker im Vordergrund. Es geht auch ohne Verpflichtung des Patienten, bei einem Arzt zu bleiben!

Auffallend ist die Macht der indirekten Effekte: Die Interventionen verlaufen indirekt. Es gibt keine Vorgaben von oben, sondern ständige Diskussionsprozesse. Die Stellschrauben in diesem systemischen Ansatz sind die gemeinsame Budgetverantwortung, die Evaluation und die freie Arztwahl, die die Patientenseite stärkt. Beeindruckend waren auch das klare Denken und die klare Analyse von Herrn Hildebrandt und die Tatsache, dass diese fachliche und gesundheitsökonomische Perspektive etwas in Bewegung bringt. Alle Akteure reden miteinander, gehen offen miteinander um, sind vernetzt und weniger in Konkurrenz. Am Beispiel dieses Projekts wird die Ineffizienz des herrschenden Gesundheitssystems deutlich. Die Effizienz beruht nicht auf einer Steuerung durch Ökonomie, Sparmaßnahmen oder Verordnungen von oben. Die Menschen der Region werden in gleicher Weise versorgt und können frei darüber bestimmen. Auch die Transparenz im Gesunden Kinzigtal kontrastiert mit der Intransparenz im Gesundheitssystem.

Ein Potential wird deutlich, das im Allgemeinen zu wenig genutzt wird. Die Frage ist: Geht da noch mehr? Gesundheitsverhalten wird gefördert, aber nicht repressiv verordnet. Das Modell scheint übertragbar auf andere Regionen mit bedürftigen Patienten. In dieser Gruppe sind die Spareffekte besonders hoch, wenn die Versorgung optimiert wird. Das Modell ist demnach besonders geeignet, gerade die bedürftigsten Patienten besser zu versorgen und nicht die Reichen und Gesunden zu bevorzugen.

Ingelore Fohr

 (aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt Prävention, 1/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf