Über Risiken und Nebenwirkungen der Vorbeugung
Die medizinische Versorgung präventiver zu gestalten war einst eine wichtige Forderung von Patientenbewegung und Medizinkritik. Heute bezweifelt kaum jemand mehr, dass mehr Vorbeugung der gesundheitspolitische Königsweg ist. Aber was eigentlich gesund sein soll, das stellt die herrschende Prävention äußerst einseitig dar – so die These von Matthias Martin Becker.
»Ich kam in die Herzklinik und die Lungenabteilung. Ich lief herum und sagte zu meinen Kollegen: ›Den Typen kenne ich, der war vor drei Monaten schon mal da. Akutes Lungenversagen. Jetzt ist er wieder hier.‹« Dem Medizinstudenten im Praktischen Jahr schien die Art, wie die Patienten im Krankenhaus behandelt wurden, nicht richtig. »Die Leute kamen mit Herzinsuffizienz und chronischen Lungenkrankheiten. Wir flickten sie zusammen, wir schickten sie nach Hause und nach drei Monaten waren sie wieder da!«
Anfang der 1960er Jahre deutete nicht viel darauf hin, dass dieser junge Arzt später »für seinen Beitrag zum Verständnis gesundheitlicher Ungleichheit« in den Adelsstand erhoben werden sollte. Michael Marmot, Sohn armer jüdischer Einwanderer in Großbritannien, wurde zu dem wohl bekanntesten und einflussreichsten Gesundheitswissenschaftler und im Jahr 2002 von der englischen Königin geadelt. Dass Marmot sich von der praktizierenden Medizin abwandte, lag an seiner Frustration über den biomedizinischen Reparaturbetrieb. »Mir kam es so vor, als sei das, was wir da im Krankenhaus machten, lediglich gescheiterte Vorbeugung, besonders in der Chirurgie. Entsprechend meiner damaligen, ziemlich primitiven Vorstellung stellte ich mir die Frage: ›Warum kriegt dieses Kind immer wieder Asthma? Warum kommen die immer wieder?‹ Ich dachte wirklich, wenn wir die Patienten nur richtig behandeln, kriegen wir unsere Abteilungen leer!«
Der Student Michael Marmot
Wie kriegen wir die Lungenabteilungen in den Krankenhäusern leer? Wie verhindern wir den Herzinfarkt, Diabetes, die Depression? Vorbeugend zu denken war damals, als Marmot seine wissenschaftlichen Forschungen begann, keineswegs selbstverständlich. Erst die Medizinkritik der 1970er Jahre kritisierte die damalige kurative Praxis als fehlgeleitet und entmündigend. Statt einzelne Krankheiten abzuwehren, müsse die Selbsttätigkeit und Widerstandskraft der Patienten gestärkt werden. Die präventive Ausrichtung der Gesundheitssysteme war eine Kernforderung von New Public Health. Wie viele Forderungen und Begriffe der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen wurde auch dieser vom (gesundheits-)politischen Establishment aufgegriffen.
Heute bezweifelt kaum jemand mehr, dass Vorbeugen besser ist als Heilen. Mit dem neuen, lange umkämpften Präventionsgesetz verpflichtet die Bundesregierung die Gesetzlichen Krankenkassen, ihre Ausgaben für Vorbeugungsmaßnahmen deutlich zu erhöhen. Die Gelder sollen teils für individuelle Verhaltensprävention aufgewendet werden, teils für Gesundheitsförderung im Setting, also sprich in den Betrieben, sozialen und Bildungseinrichtungen. Besonders erfolgreich ist der präventive Ansatz auf der Ebene der offiziellen Verlautbarungen und Absichtserklärungen. 2013 verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland auf einer UN-Konferenz sogar, die Zahl der vorzeitigen Todesfälle durch nicht-übertragbare Krankheiten bis zum Jahr 2025 um ein Viertel zu senken und die Zunahme von Adipositas, Diabetes und Herzerkrankungen zu stoppen. Die Vereinten Nationen (UN) und die Weltgesundheitsorganisation propagieren mittlerweile das Konzept »Health in all policies« (»Gesundheit in allen Politikfeldern«), was nicht weniger bedeutet, als jede staatliche Maßnahme unter den Vorbehalt zu stellen, diese dürfe der Gesundheit der Bevölkerung nicht schaden. Welche Rolle das wohl spielt, wenn im Arbeitsministerium, Finanzministerium oder Verteidigungsministerium über den nächsten Gesetzesentwurf beraten wird?
Von New Public Health zur Verhaltensprävention
Vorbeugung ist in aller Munde, aber die präventive Praxis sieht anders aus, als Michael Marmot und andere Kritiker der biomedizinisch-kurativen Praxis erwartet und erhofft hatten. Denn gesundheitsschädliche Einflüsse werden keineswegs »oben am Fluss« bekämpft und abgestellt, wie der amerikanische Arzt und Aktivist Irving Zola 1970 formulierte, nicht dort, wo sie gesellschaftlich entstehen, sondern wo sie individuell bearbeitet werden. Die staatlich moderierte Prävention klärt nicht auf über Armut, Arbeitslosigkeit, berufliche und familiäre Überlastung, Wohnungsnot oder Emissionen. Stattdessen warnt sie vor den immer gleichen Verhaltensweisen – Fehlernährung, Bewegungsarmut, Tabak- und Alkoholkonsum – die übrigens schon in der »Gesundheitserziehung« der frühen Bundesrepublik die Rolle des pathogenen Bösewichts spielten.
»Für einen Mann mit einem Hammer, sieht alles wie ein Nagel aus!«, sagt ein schönes englisches Sprichwort: Wenn die Therapie von vornherein feststeht, verengt sich auch die Diagnose. Die konventionelle epidemiologische Theorie, die die präventive Praxis anleitet, thematisiert daher ausschließlich jene »Risikofaktoren«, die angeblich »eigenverantwortlich« bekämpft werden können. Wenn soziale und psychosoziale Belastungen überhaupt auftauchen, dann bezeichnenderweise nur als individuelle Herausforderungen, gegen die geeignete Verhaltensänderungen helfen sollen: Yoga gegen Stress, Ballaststoffe gegen Krebs, Diät gegen Diabetes ... Sicher, der Verzicht auf Tabak, Alkohol und Völlerei kann das Leben verlängern. Aber die gesundheitliche Vorbeugung übertreibt ihren Einfluss maßlos. Dass Frauen mit leichtem Übergewicht die längste Lebenserwartung haben – ein Idealgewicht in dieser Hinsicht also gerade nicht ideal ist –, das passte so wenig ins Bild, dass es zu einem »Paradox« erklärt wurde. Dass viel Sport nicht unbedingt viel hilft, dass gegen Schicht- und Nachtarbeit »Schlafhygiene« kaum etwas ausrichtet, dass der Einfluss bestimmter Ernährungsweisen auf die Inzidenz chronischer Krankheiten keineswegs geklärt ist – solche wichtigen Informationen finden sich nicht in den Aufklärungsbroschüren, die in hohen Auflagen unters Volk gebracht werden, wohl »um die Patienten nicht zu verunsichern«. Damit bringen sich die Experten um Glaubwürdigkeit und verschenken Vertrauen. Noch wichtiger und gesellschaftspolitisch bedenklicher ist aber, dass ihr Fokus auf Genussmittel als dem wesentlichen Gesundheitsproblem und Sport als Therapie der Wahl falsche Körperbilder mit vermeintlich wissenschaftlichen Weihen versieht. Denn wer den Broschüren der Kassen und staatlichen Stellen glaubt, muss ja geradezu auf die Idee kommen, ein jeder sei seiner Gesundheit eigener Schmied, er müsse sich nur »vernünftig« verhalten und die Finger von Zigaretten und Sahnetörtchen lassen!
Die Aufgabe einer kritischen Medizin wäre dagegen, im Gespräch mit den Patienten deren Vorstellungen davon zu weiten, was gesund erhält und was krank macht; sie sollte persönliche Beziehungen, Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse zur Sprache bringen. Kritische Medizin darf ihre Patienten nicht als bloße Opfer der Verhältnisse behandeln und so abermals entmündigen. Sie muss aber auch ehrlich aufzeigen, wie wenig aussichtsreich es ist, Belastungen durch »gesundes Verhalten« auszugleichen. So würde sie wenigstens diejenigen entlasten, die ihr Leiden als ein eigenes Versagen erleben.
Wenigstens bezüglich der Prävention können gesundheitspolitische Aktivisten aus den 1970ern mit Recht behaupten: »Die Revolution ist vorbei, wir haben gewonnen!« Ja, sie stärkt die Selbsttätigkeit der Patienten – im Sinne einer individuellen Investition in den eigenen Körper. Sie fördert seine Widerstandskraft – als Konkurrenzsubjekt. International ist die präventivere Ausrichtung der Versorgungssysteme eng mit der neoliberalen Umgestaltung des Sozialstaates verbunden. Auch diese zielt auf eine Emanzipation und Ermächtigung der Bürger – und setzt sie gleichzeitig untereinander in Konkurrenz und erhöht die Gefahr des sozialen Abstiegs. Diese gesellschaftliche Entwicklung bringt New Public Health in eine dubiose Rolle. »Die Verhältnisse gesund zu gestalten« ist ja in gewisser Weise tatsächlich zu einer staatlichen Aufgabe geworden. Die präventive Praxis zielt aber nicht auf gute Lebensbedingungen, in denen Menschen selbst entscheiden können, was für sie gesund ist. Im Rahmen einer unsystematischen, aber umfassenden Bevölkerungspolitik erschwert der Staat vielmehr Verhaltensweisen, die als gesundheitsschädlich gelten (z.B. Rauchen), um der Bevölkerung einen »nachhaltigen« Umgang mit dem eigenen Körper sozusagen aufzunötigen – auch gegen deren Willen. Diese Art von »Verhältnisprävention« ist nicht fortschrittlicher als »Verhaltensprävention«.
Anfang des Jahres wurde aus Japan gemeldet, die Regierung plane eine Vorschrift, nach der Beschäftigte mindestens fünf Tage Urlaub im Jahr nehmen müssen. Auch in deutschen Betrieben verbreitet sich zunehmend die »interessierte Selbstgefährdung«. Sie stellt Betriebsräte vor das merkwürdige Problem, die Leute davon abzuhalten, sich kaputt zu arbeiten: Beschäftigte verzichten auf Urlaub und Pausen, machen eigenverantwortlich Überstunden bis tief in die Nacht und setzen häufig auch ihre Kollegen unter Leistungsdruck. Solche Verhaltensweisen haben sich aber nachweislich verbreitet, weil die Mitarbeiter Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und neue betriebliche Steuerungsmethoden ihnen die Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens aufbürden. Die betriebliche Gesundheitsförderung setzt dagegen: Rituale der Anerkennung und Mitsprache, Entspannungsübungen, besseres Kantinenessen. Oberflächlich betrachtet wirkt das paradox, tatsächlich hat dieser Wahnsinn Methode: Die gegenwärtige gesundheitliche Prävention stellt sich gerade nicht gegen die Verhältnisse, sondern ergänzt und stützt sie.
Matthias Martin Becker ist Autor des Buches »Mythos Vorbeugung: Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht«, das 2014 im Promedia Verlag erschienen ist.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt Prävention, 1/2015)