GbP 1-2017 Interview - Hermann Gloning

Impfen – Aufgabe des ÖGD?

Interview mit dem Kinder- und Jugendarzt Hermann Gloning

Die Durchführung von Impfungen war über lange Jahre eine Domäne des ÖGD. Heute werden Impfungen in der Regel von niedergelassenen ÄrztInnen durchgeführt, der ÖGD ist nur noch für die Kinder zuständig, die nicht von der Regelversorgung erfasst werden. Über die Vor- und Nachteile dieser Regelung sprachen wir mit dem Kinder- und Jugendarzt Hermann Gloning aus München.

Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) steht im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Kontrolle. Die Überwachung des Impfstatus der Bevölkerung war eine der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens. Die heute durchgeführten Impfungen beruhen auf unverbindliche Empfehlungen, wäre eine generelle Pflicht für bestimmte Erkrankungen sinnvoll?

Hermann Gloning: Eine Impfpflicht ist in Deutschland nicht unbekannt. Bis 1976 gab es in Deutschland die Pockenimpfpflicht. Inzwischen sind die Pocken dank der Impfung weltweit ausgerottet. Auch jetzt sieht das Infektionsschutzgesetz in § 20, Abs. 6, bei einer Ausbreitung von Erkrankungen eine mögliche Pflichtimpfung vor. Eine Impfpflicht ist meines Erachtens aber heute nicht notwendig und kann auch nicht durchgesetzt werden, da die Teilnahme an Impfungen in der BRD freiwillig ist.

Wer bestimmt heute in Deutschland, welche Impfungen durchgeführt werden und wer überwacht den Impfstatus?

H.G.: Die Ständige Impfkommission (STIKO) ist ein Expertengremium, das die Empfehlungen für Impfungen erarbeitet und herausgibt. Diese Regeln gelten in Deutschland als medizinischer Standard. Die von der STIKO empfohlenen Impfungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Grundlage hierfür ist die Schutzimpfungsrichtlinie, die den Anspruch der Versicherten auf Leistungen für Schutzimpfungen regelt (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Das Robert Koch-Institut hat die Aufgabe, medizinische Maßnahmen zu entwickeln, um die Verbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Dazu gehören auch statistische Untersuchungen. Dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) obliegt die staatliche Zulassung und Überwachung von Impfstoffen sowie die Erfassung von Impfkomplikationen.
Es sind in Deutschland mehr Impfstoffe zugelassen, als von der STIKO empfohlen, diese werden also noch nicht oder nur teilweise von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Diese, meist »neuen« Impfungen (z.B. Menigokokken B-Impfung) oder Impfungen mit ausgeweitetem Anwendungsspektrum (HPV-Impfung bei männlichen Jugendlichen) werden von den Herstellerfirmen der Impfstoffe bei den niedergelassenen ÄrztInnen und in der Bevölkerung beworben. Ebenso gibt es abweichende Empfehlungen der Fachgesellschaften zu den Standardimpfungen (z.B. Pneumokokkenimpfung).
Die Impfempfehlungen für Impfungen und Impftermine sind in Europa und den USA z.Z. sehr unterschiedlich.

Früher waren Impfungen Aufgabe des ÖGD. Wir erinnern uns noch an den Schularzt, der gegen Pocken und Polio impfte. Heute wird der ÖGD nur noch subsidiär tätig, d.h. er kümmert sich nur noch um die Kinder, die von den Kinderärztinnen nicht erfasst werden. Warum diese Änderung?

H.G.: Ich denke, das hat verschiedene Gründe: Auf der einen Seite wurden die Ressourcen im ÖGD massiv reduziert, auf der anderen Seite wurden Impfungen inklusive der Impfaufklärung / Einwilligung der Erziehungsberechtigten immer aufwändiger.
Mehr als 90 Prozent der Impfungen werden im niedergelassenen Bereich durchgeführt. Nur ein geringer Teil der Kinder wird vom ÖGD gesehen, die überwiegende Betreuung erfolgt durch Kinderärzte, bei älteren auch durch Hausärzte. In den ersten Lebensjahren sind es vor allem die Kinderkrankenschwestern, die z.B. im Rahmen der Frühen Hilfen Fami­lien aufsuchen und beraten. Impfungen werden nicht regelhaft angeboten, sondern nur in besonderen Fällen (z.B. auch bei Masernausbrüchen). Es gibt natürlich Gesundheitssysteme in Europa, die dies anders regeln. Der ÖGD hat den Vorteil, dass er in die Schulen gehen kann, er also zu den Kindern geht und nicht sie zu ihm kommen müssen. Außerdem kann er ganze Jahrgänge beurteilen. So werden z.B. in Bayern alle SchülerInnen der 6. Klasse auf ihren Impfstatus gescreent.

Aber sind nicht gerade die Kinder, die nicht zum niedergelassenen Kinderarzt oder Hausarzt gehen, das Problem?

H.G.: In Bezug auf das Impfen finden wir in unteren sozialen Schichten häufig eine höhere Akzeptanz und Inanspruchnahme als in den oberen Mittelschichten oder Akademikerfamilien. Trotzdem benötigen wir die Hilfe des ÖGD bei der Betreuung von Familien in schwierigen sozialen Lagen, ebenso bei Familien mit Migrationshintergrund oder bei Asylsuchenden in Unterkünften und Heimen.
Wir betreuen aber in der Regel nur die Kinder, die zu uns in die Praxen kommen, nicht die, die durchs Raster fallen.

Haben die niedergelassenen Kinderärzt­Innen ein wirtschaftliches Interesse an der Durchführung der Impfung?

H.G.: Die Vergütung für die mündliche Impfaufklärung der Eltern, die häufig durch die Unsicherheit der Eltern sehr zeitaufwändig sein kann, die Vorbereitung des Impfstoffes durch die MFA, die Dokumentation sowie die Untersuchung des Patienten, das Risiko der Lagerung und Bevorratung des Impfstoffes werden mit 7-21 Euro vergütet. Impfungen werden zusätzlich zur Quartalspauschale vergütet, Einen unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Anreiz kann ich darin nicht erkennen.

Warum werden Impfungen nicht wie gewünscht von der Bevölkerung angenommen?

H.G.: Ich sehe aus meiner Erfahrung drei verschiedene Ursachen, warum Impfungen in der Bevölkerung nicht oder nur teilweise wahrgenommen werden:
a. Misstrauen oder Ablehnung gegenüber der von der STIKO empfohlenen Impfung, Ängste in Bezug auf die Verträglichkeit und Wirksamkeit, Unsicherheit über den empfohlenen Zeitpunkt der Impfung.
b. Vergesslichkeit, die Impfung rechtzeitig wahrzunehmen, insbesondere bei Auffrischimpfungen;
c. Unkenntnis über die Notwendigkeit von Impfung bzw. über die Inanspruchnahme von Folgeimpfungen.

Warum soll man überhaupt impfen?

H.G.: Das Ziel der Impfung ist die Verhinderung einer gefährlichen Erkrankung. Bei den oben geschilderten Gründen kann die Teilnahme an Impfungen durch Aufklärung und Verbesserung der Organisation gesteigert werden. Im Rahmen der Fürsorgepflicht ist es notwendig, Kinder vor diesen Erkrankungen zu schützen. Diese Fürsorgepflicht betrifft auch Kinder, die von ungeimpften, erkrankten Kindern meist in öffentlichen Einrichtungen (Kindergarten/Schule) angesteckt werden könnten.
Die Zunahme der Impfungen in der Bevölkerung hat auch Auswirkungen auf die Impfnotwendigkeit: Durchgemachte Röteln (eigentlich eine meist harmlose Kinderkrankheit) waren ein Schutzfaktor für eine eventuelle Rötelnerkrankung in der Schwangerschaft für Frauen. Nach Einführung der Rötelnimpfung sank die Zahl der Wildvirusinfektionen in der Bevölkerung und damit auch der Schutz der Frauen, so dass die zweimalige Rötelnimpfung notwendig war, um einen vergleichbaren Schutz aufzubauen

Es sind Nebenwirkungen bei bestimmten Impfungen beschrieben. Rechtfertigt dann das Interesse der Allgemeinheit das Risiko für das einzelne Kind, selbst wenn dieses Risiko verschwindend gering ist?

H.G.: Eine schwierige Frage. Wir hoffen, auch durch Impfungen niemandem zu schaden. Die Nebenwirkungen sind überschaubar, Schäden sind sehr selten. Wir versuchen, den Eltern bei ihrer individuellen Entscheidung alle Informationen, die wir haben, zur Verfügung zu stellen, damit sie sich entscheiden können. Wir sehen das Interesse der Allgemeinheit, haben in unserem Alltag jedoch die einzelne Familie vor uns, die sich entscheiden soll.

Es fand in den vergangenen Jahren eine Zunahme der empfohlenen Impfungen für Kinder statt. Ist diese Zunahme dem Fortschritt der Medizin geschuldet oder ist die kritisch zu sehen?

H.G.: Was ist wirklich notwendig und zu welchem Zeitpunkt? Dies wird auch in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich beurteilt (z.B. Rücknahme der Rotavirusimpfung in Frankreich). Kritisch sehen wir die rasche Zunahme der Zulassung von neuen Impfungen mit nur kurzer Erprobungsphase, bevor sie auf dem Markt angeboten werden, und auch für Krankheiten, die kein so großes Gefährdungspotential haben. Bei der Einführung der HPV-Impfung war die Informa­tionslage über die Wirksamkeit der Impfung, die Frage der möglichen ernsten Nebenwirkungen, äußerst undurchsichtig und erschwert durch das empfundene Informationsmonopol der Herstellerfirma, die auch in Bezug auf die Preisgestaltung (ca. doppelt so hoch wie Indien, USA, selbst in Österreich war den Impfstoff noch um ein Drittel billiger als bei uns) marktbeherrschend war.
Ein Problem stellen auch die rigorosen Impfanforderungen von privat getragenen Kindertagesstätten dar, die impfkritische Eltern vor das Problem stellen, dass ihre Kinder nur voll durchgeimpft in der Kita aufgenommen werden, auch wenn diese Impfungen nicht von der STIKO empfohlen sind.
 
Besonders die Masernimpfung steht in der Kritik. Was spricht gegen Masernpartys statt Impfung?

H.G.: Die Enzephalitis nach Masern wird mit einer Häufigkeit von 1:1000 – 1:2000 angegeben, teils auch weniger. Masern im ersten Lebensjahr sind gefürchtet wegen der Folgeerkrankung SSPE. Pneumonie, Otitis, hohes Fieber sind sozusagen normale Begleiterscheinungen der Masern. Da die Mehrheit der heutigen Eltern keine Masern mehr durchgemacht haben, sondern nur einmal geimpft sind, haben auch sie ein Risiko, an Masern zu erkranken. Also Masernpartys sind keine gute Idee, auch wenn natürlich eine durchgemachte Masernerkrankung eine lebenslange Immunität zur Folge hat.

Die Hersteller von Impfstoffen haben ein ökonomisches Interesse am Verkauf ihrer Produkte. Beeinflussen diese wirtschaftlichen Interessen die allgemeinen Richtlinien zur Impfung?

H.G.: Aus meiner Sicht Ja, z.B. wie häufig ein Impfstoff geimpft werden sollte (5/6-fach Impfstoff in der BRD Grundimmunisierungsschema 3+1; 4 Impfungen in einem Jahr), in Österreich und Großbritannien 2+1,Häufigkeit der Auffrischimpfung FSME in BRD drei bzw. fünf Jahre, in der Schweiz zehn Jahre etc.. Vermutlich spielen auch bei der Empfehlung zur Impfung (Z.B. Schweinegrippeimpfung) ökonomische Erwägungen eine Rolle.

Sollen zukünftig die Empfehlungen ausgedehnt werden?

H.G.: Sinnvoll sind herstellerunabhängige Information, damit die Betroffenen (Eltern) vernünftig entscheiden können.

Wir danken für das Gespräch.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Vom ÖGD zu New Public Health, 1/2017)


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