Große Erfolge und bleibende Herausforderungen
Über die Geschichte der AIDS-Prävention
Der Umgang mit AIDS war, so Rolf Rosenbrock, ein echter Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik: Erstmals wurde im Kampf gegen eine gefährliche Infektionskrankheit auf Freiwilligkeit, auf die Stärkung der Zivilgesellschaft, auf die Kraft der Selbsthilfe, auf Vertrauen und Kooperation gesetzt. Bis heute ein positives Beispiel für Prävention und Umgang mit Betroffenen.
Als Anfang der 1980er Jahre die ersten AIDS-Fälle zunächst in den USA und dann auch bald in Europa auftauchten, musste sich die Gesundheitspolitik unter hohem Zeitdruck und bei damals noch großen Wissenslücken zwischen zwei Strategien entscheiden. Die Medizin war weitgehend hilflos, eine Heilung oder Impfung nicht in Sicht. Der gesundheitspolitische Schwerpunkt musste deshalb auf die Verhütung von Infektionen, die Primärprävention gelegt werden. Traditionell hatte man sich bei Infektionskrankheiten darum bemüht, möglichst viele Infektionsquellen aufzuspüren und stillzulegen. Die Instrumente dafür waren medizinische Tests auf den Erreger sowie Quarantäne für die Infizierten (›Old Public Health‹).
Aber passte diese Antwort auf eine Krankheit, die durch Eintritt von infizierten Körpersekreten in die Blutbahn eines anderen Menschen, also v. a. durch Sex und Drogengebrauch übertragen wird und die die Betroffenen lebenslang infektiös macht? Abenteuerliche Vorschläge machten die Runde: zwangsweises Durchtesten der Bevölkerung, Tests an allen Grenzen und Flughäfen, Tätowierung der Infizierten, Sex-Verbote, Einrichtung von Lagern zur Internierung etc. Da die Krankheit aufgrund der Infektionswege v. a. bei homosexuell aktiven Männern und bei intravenös Drogen Gebrauchenden auftrat und auch in der Prostitution ein Gefahrenpotenzial vermutet wurde, ging es auch um den – in Deutschland traditionell heiklen bis katastrophalen – Umgang mit Minderheiten: Schwule, Fixer und Prostituierte. Es ging also nicht nur um Gesundheit, sondern auch um Bürgerrechte. Vor allem der damalige bayerische Staatssekretär Peter Gauweiler meldete sich, publizistisch unterstützt vom Spiegel und der Bild-Zeitung, mit seuchenpolizeilich motivierten Vorschlägen für allerlei Zwangsmaßnahmen zu Wort.
Er wurde damit der Gegenpol zur damaligen Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, die für einen humanen Umgang mit den Betroffenen plädierte und die Krankheit, aber nicht die Kranken und Gefährdeten bekämpfen wollte. In diese Debatte hinein veröffentlichte ich 1986 das Buch »AIDS kann schneller besiegt werden. Gesundheitspolitik am Beispiel einer Infektionskrankheit«. Das ›schneller‹ im Titel enthielt die Mahnung, im Kampf gegen AIDS nicht all die – Zeit und Opfer kostenden – Fehler aus dem Umgang mit Syphilis, Tuberkulose etc. zu wiederholen. Das Buch fand in der AIDS-Bewegung großen Anklang. Darin fasste ich den Kenntnisstand zur Prävention durch Verhaltensbeeinflussung, zur Kraft des bürgerschaftlichen Engagements, zur Rolle der Medizin sowie zur Selbsthilfe durch Betroffene zusammen und entwickelte daraus eine Strategie, die auf Bürgerrechte, Freiwilligkeit und Kooperation zwischen den betroffenen Gruppen mit dem Staat orientierte. Das war nicht aus der Luft gegriffen: Denn parallel zur – und zum Teil schon vor der – politischen Debatte hatten schwule Männer und zum Teil auch Fixer-Gruppen im ganzen Land AIDS-Hilfen gegründet und versuchten, die Prävention und auch die Hilfe für Erkrankte selbst zu organisieren. Diese Ressourcen sah dann auch Rita Süssmuth in ihrem 1987 erschienenen Buch »AIDS – Wege aus der Angst« als die entscheidenden Kräfte zur Überwindung der Krise. Ausformuliert – und zum Teil auch gegen die Vertreter der bayerischen Linie mühsam durchgekämpft – wurde diese Strategie dann ab 1987 in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung«. Das Ergebnis war ein echter Paradigmenwechsel, eine grundsätzliche gesundheitspolitische Innovation: Erstmals wurde im Kampf gegen eine gefährliche Infektionskrankheit auf Freiwilligkeit, auf die Stärkung der Zivilgesellschaft, auf die Kraft der Selbsthilfe, auf Vertrauen und Kooperation gesetzt (›New Public Health‹): Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung klärt mit ihrer Dauerkampagne »Gibt AIDS keine Chance« seither die gesamte Bevölkerung auf – im Kino, im Fernsehen, mit Plakaten und Ausstellungen.
Die Prävention (›safer sex‹, ›safe use‹) in und mit den betroffenen Gruppen wurde – mit staatlicher Unterstützung – Aufgabe der selbst organisierten, mittlerweile ca. 150 AIDS-Hilfen und ihrem Dachverband, der Deutschen AIDS Hilfe. Zudem wurde in Gesundheitsämtern, mit hotlines, und auch in Schulen für leicht zugängliche und auf Wunsch anonyme Beratungsmöglichkeiten gesorgt. Der seit 1984 verfügbare Test auf HIV-Antikörper – in der ›Old Public Health‹-Strategie das zentrale Instrument zur (im Zweifel zwangsweisen) Ermittlung von Infizierten – kam jetzt nur noch nach Beratung und auf eigenen Wunsch zum Einsatz. Denn fürs Verhalten galt und gilt: Man weiß nie, wer infiziert ist. Deshalb immer Kondom bei penetrierendem Geschlechtsverkehr außerhalb strikter Monogamie, und immer saubere Spritzbestecke bei intravenösem Drogengebrauch.
Mit dieser Strategie ist Deutschland gut gefahren: Im internationalen Vergleich zeigt sich: Je früher und je vollständiger Präventionsstrategien nach dem Muster von ›New Public Health‹ eingesetzt wurden, je stärker und direkter die hauptsächlich betroffenen Gruppen über die Prävention vor Ort entscheiden und diese auch selbst organisieren konnten, desto geringer war und ist die Anzahl der neuen Infektionen. Deutschland hat insofern von der heftigen und von großen Ängsten in der Bevölkerung begleiteten Kontroverse zu Beginn der Epidemie profitiert. Das zwang die Politik zu klaren, schnellen und konsequenten Entscheidungen, wie sie in der Gesundheitspolitik sonst eher selten sind. Am heftigsten von AIDS sind hingegen jene Länder betroffen, in denen – meist aus religiösen Gründen – über Sex und sexuelle Tabus, insbesondere im Hinblick auf Homosexualität öffentlich nicht oder nur verklemmt geredet werden konnte, in denen das Zutrauen zur Kraft der Selbsthilfe wenig Tradition hat und wo es wenig Vertrauen in die Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft gibt. Im Ergebnis verzeichnet Deutschland heute – gleichauf mit Finnland – die geringsten Raten an neuen Infektionen. Daran hat sich auch nichts geändert, nachdem seit Beginn des 21. Jahrhunderts wirksame Medikamente gegen das Virus verfügbar wurden, die die Krankheit zwar nicht heilen, aber lebenslang in Schach halten können und den Infizierten ein weitgehend normales Leben ermöglichen.
Dabei wird oft übersehen, dass die Wirksamkeit der Strategie nicht nur von der Organisation der Prävention, von der Qualität der Botschaften und ihrer Übermittlung oder vom sozialen Zusammenhalt in den betroffenen Gruppen abhängt, sondern vor allem auch von der Akzeptanz und dem Respekt, den die betroffenen Gruppen in der Gesellschaft genießen. Denn die gewählte Präventionsstrategie funktioniert nur so gut wie die vertrauensvolle Kooperation zwischen Staat, Gesellschaft, Medizin und den Betroffenen. Kooperation und Vertrauen aber setzen Respekt voraus. Das bedeutet z. B. für Menschen, die von harten Drogen abhängig sind, dass sie nicht polizeilich verfolgt und erst – wie vor AIDS – abstinent sein müssen, bevor ihnen geholfen wird. Sondern dass ihre Abhängigkeit zunächst einmal akzeptiert wird, um dann ihr Drogenproblem gemeinsam mit ihnen zu bearbeiten. Das hat – gewissermaßen als erfreuliche Nebenwirkung – zu einem erheblichen Rückgang der Anzahl von Drogentoten geführt.
Geradezu spektakulär sind die Veränderungen im Umgang mit Homosexualität. Zwar ist Homosexualität in Deutschland seit 1994 vollständig straffrei, und seit 2001 gibt es die gesetzliche Möglichkeit der Lebenspartnerschaft zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Die öffentliche Akzeptanz schwuler Männer und ihrer Lebensweisen hat aber – Ironie der Geschichte – ganz wesentlich davon profitiert, dass es im Zuge der AIDS-Prävention zum zwingenden Gebot wurde, diese Gruppe nicht mehr zu diskriminieren und im Abseits zu halten, sondern sie als Partner auf Augenhöhe im Kampf gegen die Epidemie zu akzeptieren und zu respektieren. Zwar gibt es immer noch Vorurteile und auch Gewalt gegen Schwule, zwar gibt es gegenüber HIV-Infizierten immer noch – unbegründete – Berührungsängste und auch Diskriminierung. Die kontinuierlichen Anstrengungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Deutschen AIDS-Stiftung, der Deutschen AIDS Hilfe und vieler weiterer Akteure zeigen aber, dass diese – auch zivilisatorisch tief unerfreulichen – Phänomene und die hinter ihnen stehenden Haltungen erfolgreich bearbeitet und vermindert werden können, wenn man Flagge zeigt gegen Ausgrenzung und Diskriminierung – und für Solidarität und Unterstützung.
Das wird auch weiterhin notwendig bleiben. Denn auch die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte des Umgangs mit HIV und AIDS in Deutschland hängt davon ab, dass Kranke, Infizierte und Gefährdete nicht bzw. immer weniger diskriminiert werden. Hinzu kommt die bleibende Notwendigkeit sozialer Unterstützung: Zwar gehen – ein großer Erfolg der Medizin – mittlerweile ungefähr drei Viertel der HIV-Infizierten in Deutschland einer Arbeit nach und führen auch sonst ein von der Krankheit weitgehend unbelastetes Leben. Es gibt aber eben auch die anderen: z. B. die, für die die Medikamente zu spät kamen, um den Ausbruch der Krankheit zu verhindern. Oder auch diejenigen, denen die Krankheit all ihre Lieben genommen hat und die dies nicht verwinden können. Sie leben oft an oder unter der Armutsgrenze und brauchen unbürokratische Hilfe.
Die ganz großen Aufgaben und oft auch noch ungelösten Probleme des Kampfes gegen AIDS allerdings liegen im südlichen Afrika, in Südostasien, in Lateinamerika und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Zwar sinken auch dort fast überall die Zuwachsraten bei den Neuinfektionen. Aber die notwendige Unterstützung beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen für die Prävention und Versorgung, bei der Linderung unmittelbarer Not, bei der Bekämpfung von Diskriminierung und Ausgrenzung und bei der Beschaffung und Verteilung wirksamer Medikamente kann von den internationalen Organisationen und Stiftungen allein nicht abgedeckt werden. Verglichen mit dieser Not leben wir in Deutschland im Hinblick auf AIDS auf einer Insel der Glückseligen. Das sollte zur Hilfe motivieren und verpflichten.
Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, war von 1988 bis 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und lehrt Gesundheitspolitik u.a. an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin. Seit Veröffentlichung seines Buches »AIDS kann schneller besiegt werden« (3. Auflage 1987) ist er in Deutschland und international an der AIDS-Debatte beteiligt. Er war Mitglied er Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages »Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung« und ist seit 1995 Mitglied des Nationalen AIDS-Beirats. Im April 2012 wurde er zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband – gewählt.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Vom ÖGD zu New Public Health, 1/2017)
(Dieser Text erschien zuerst im Dezember 2014 in einer Beilage des Tagesspiegel zur Aids-Gala)