Big Data und die medizinische Forschung
Zu den Versuchen, den Datenschutz auszuhebeln
Das deutsche Datenschutzrecht schreibt die informierte Zustimmung als Grundbedingung für die Nutzung der Daten vor. Elke Steven zeichnet nach, wie dieses nicht nur durch die EU-Datenschutzgrundverordnung ausgehebelt wird, sondern schon durch ein in Deutschland öffentlich gefördertes medizinisches Forschungsprojekt.
Der Streit um den Datenschutz ist alt und nimmt immer neue Formen an. In den letzten vier Jahren stritt die EU um eine neue Datenschutzgrundverordnung. Europäisches Parlament, der Rat der Europäischen Regierungen und die Kommission hatten unterschiedliche Vorstellungen. Im Trilog haben sie sich Ende Dezember 2015 auf eine Fassung geeinigt, die am 14. April 2016 vom EU-Parlament verabschiedet wurde1. Und auch dieses Ergebnis bleibt ein umstrittenes, das unterschiedlich interpretiert wird und werden wird.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem Projekt der Nationalen Kohorte (NaKo). Im Auftrag dieses Projekts, öffentlich gefördert, werden Bioproben und Gesundheitsdaten für zukünftige Forschungsprojekte gesammelt. Neben anderen Kritikpunkten hat uns daran auch die Frage beschäftigt, auf welcher Grundlage die Zustimmung der Probanden/Teilnehmenden an der Studie erfolgt. Zu Beginn der Erhebung sollen sie der Nutzung ihrer Daten und Bioproben zu Forschungszwecken zustimmen. Das Projekt ist von vorneherein auf zwanzig Jahre angelegt. Die Ziele der Forschung sind pauschal mit »für alle Arten gesundheitsbezogener Forschung« angegeben. Die Teilnehmenden können zwar ihre Zustimmung zurückziehen, aber sie erfahren im Verlaufe der vielen Jahre nicht, zu welchen konkreten Forschungszwecken ihre Daten genutzt werden. Ob »alle Arten gesundheitsbezogener Forschung« ihren eigenen Interessen entsprechen oder gar diesen zuwider laufen, wird sich erst im Verlauf der Generierung von Forschungsprojekten, an denen zudem auch die Industrie beteiligt sein wird, zeigen.
Das deutsche Datenschutzrecht schreibt die informierte Zustimmung als Grundbedingung für die Nutzung der Daten vor. Dem wird die NaKo mit ihrer pauschalen Zweckbestimmung nicht gerecht. Wissenschaftlich diskutiert wird seit einiger Zeit, auf welche Weise sowohl dem Datenschutz als auch den Interessen der Forschung an Daten, die für viele Forschungsfragen und auf lange Dauer zu nutzen sind, genüge getan werden kann. Die Idee des »dynamic consent« sieht vor, dass ProbandInnen regelmäßig über die Forschungen informiert werden, für die ihre Daten und Bioproben genutzt werden. Gemäß dem »informed consent« müssten sie in jedem dieser Fälle gesondert zustimmen. Das ist aufwändig und entspricht nicht den Interessen derer, die die Daten möglichst umstandslos für ihre eigenen (Forschungs-) Interessen nutzen wollen. Umso wichtiger ist es, für dieses Grundrecht zu streiten.
Erst im Streit um die Volkszählung ist ein Bewusstsein für den Datenschutz entstanden. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Jahre 1983 darüber und leitete aus dem Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« ab. Transparenz bei der Datenerhebung und Selbstbestimmung über die eigenen Daten sind die zentralen Vorstellungen. Eine Erweiterung dieses Rechtsverständnisses zementierte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2008. Es definierte ein »Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit eigengenutzter in-formationstechnischer Systeme«. Es begründete eine digitale Privatsphäre, die schützenswert und schutzbedürftig ist.
Der Streit um die EU-Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) hat einmal mehr deutlich gemacht, dass die Lobbyarbeit derer, die an der Nutzung der Daten Interesse haben, immens ist. Sie wollen allenfalls einen »broad consent « akzeptieren und meinen jeder weitergehende Datenschutz würde unnötige Hürden in der Auswertung der Daten errichten. Schon die regelmäßige Information über neue Forschungsprojekte und die Einholung immer neuer Zustimmungen für die Verarbeitung erscheinen ihnen nur als bürokratische Hürde. Die Probanden sollen eine generelle Zustimmung zur Nutzung erteilen. Immerhin hätten sie ja die Möglichkeit – uninformiert oder informiert von anderer Seite – irgendwann die Zustimmung zur Nutzung der Daten zu widerrufen.
Der Streit um die Interpretation der EU-DSGVO wird demnächst öffentlich erneut anheben. Wolfgang Linder hat sich schon einmal mit dem Teil, der die Nutzung der Gesundheitsdaten für die Forschung regelt, auseinandergesetzt. Er sieht gute Argumente dafür, dass nicht der »broad consent« die Perspektive vorgibt, sondern zumindest der »dynamic consent« als Grundlage dieser Verordnung verstanden werden muss. In Deutschland bleibt der »informed consent« der gesetzlich geregelte Maßstab. ProbandInnen müssen der Nutzung ihrer Daten und Bioproben für konkrete Forschungszwecken zustimmen, jede pauschale Zweckbestimmung verbietet sich. Die NaKo muss also die ProbandInnen je neu über die Auswertung informieren und je neue Zustimmungen einholen.
Leider ist aber in Deutschland mit der NaKo schon der »broad consent« zum gesetzwidrigen Maßstab geworden. Deshalb müssen die Auseinandersetzungen fortgeführt werden.
Elke Steven arbeitet für das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
(Quelle: http://www.grundrechtekomitee.de, 25. April 2016; aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung des Gesundheitswesens, 2/2017)
Anmerkung
1 Mehr Informationen unter: www.bvdnet.de/eu-dsgvo.html (aufgerufen am 11. April 2016)