Humanitäre Hilfe in Zeiten tödlicher Abschottungspolitik
Zivile Seenotrettung auf der zentralen Mittelmeerroute
Abseits vom diesmaligen Heft-Thema liegt der Bericht von vdää-Vorstandsmitglied Thomas Kunkel über seinen Einsatz als Arzt auf der Sea-Eye, dem Schiff privaten NGO, die über die Ostertage im Mittelmeer vor der libyschen Küste versucht hat, Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten.
Seit Beginn des Jahres 2017 (bis Redaktionsschluss Anfang Juni) sind nach Angaben der Vereinten Nationen 2108 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Der Großteil davon auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien bzw. Malta, die als eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt gilt.
Auf das Ende der italienischen Seenotrettungsmission Mare Nostrum folgten im November 2014 keine weiteren »Search and Rescue«-Missionen durch staatliche Organisationen. Allein einige private Organisationen begannen im Jahr 2015 aufgrund der hohen Zahl von ertrunkenen Menschen auf der Flucht mit eigenen Schiffen auf dieser Route Menschen in Seenot zu suchen und retten.
Ich war während der Zuspitzung der Ereignisse am Osterwochenende dieses Jahres als Mediziner an Bord der Sea-Eye, die allein an diesem Wochenende über 1.380 Menschen versorgen musste und am Ostermontag selbst MayDay funkte, weil über zweihundert Menschen an Bord genommen werden mussten, für die das Schiff eigentlich viel zu klein war.
Meine persönliche Motivation für den Einsatz war die Empörung darüber, dass so viele Menschen bereits seit vielen Jahren an den Außengrenzen der EU sterben, ob nun auf der Balkanroute, im Mittelmeer oder auch in der Sahara. Das Massensterben direkt vor unseren Augen und die Erosion des demokratischen Konsenses, die damit einhergeht, halte ich für eine historische Situation.
Einsatz
Am Gründonnerstag erreichten wir planmäßig das Zielgebiet vor der libyschen Küste, in dem wir Boote vermuteten. Nach einigen Tagen schlechten Wetters war klar, spätestens abends ist das Wetter so gut, dass die Boote vom Strand wegkommen, bei ruhiger See und ablandigem Wind. Die Boote legen in der Regel zwischen 22 und 24 Uhr ab, fahren einige Stunden und sind dann morgens in internationalen Gewässern. Wie erwartet hatten wir Freitagmorgen die ersten Sichtungen. Die Schlauchboote sehen auf den Fotos immer so klein aus, aber mit 120 bis 160 Menschen sind diese heillos überfüllten Boote aus der Nähe ein imposanter Anblick. Wir versorgten an diesem Tag drei Schlauchboote mit insgesamt 438 Menschen mit Rettungswesten in enger Absprache mit dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom, die Rettungsleitstelle für diesen Teil des Mittelmeers. Im Laufe der nächsten Stunden kamen dann größere Schiffe von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen. Sie arbeiten mit großen Bohrinselversorgern und können Menschen aufnehmen. Doch am Karfreitag allein waren schon 3.000 Menschen in unserem Seegebiet unterwegs und auch die großen NGO-Schiffe waren alle voll und sind Freitagabend nach Italien gefahren. Es war allen Akteuren, NGOs ebenso wie den Verantwortlichen von Frontex und der EU-Mission EUNAVFOR/Med vor Ort klar, dass diese großen Schiffe mit ihren wichtigen Kapazitäten für den Rest des Osterwochenendes nicht mehr zur Verfügung stehen würden und dass es große Probleme bei der Versorgung der erwarteten hohen Zahl von in Seenot befindlichen Menschen in den nächsten Tagen kommen würde.
Am Ostersamstag mussten wir im Morgengrauen zunächst ein kleines Holzboot mit 35 Menschen abbergen, was unkompliziert verlief. Dann wurden wir von der Iuventa, dem Schiff von Jugend rettet e.V. , zu einem anderen Szenario gerufen. Bei der Ankunft bot sich ein grauenhaftes Bild: Ein vollkommen überladenes Holzboot, wir konnten die Schreie der Menschen in Panik schon von weitem hören. Es gab an Bord Männer, die mit Gürteln auf die Menschen einschlugen, um Ruhe zu schaffen. Der Seegang war nicht stark, aber das Boot schwankte sehr, weil es durch die vielen Menschen an Deck recht kopflastig war. Es war klar, dass es noch mindestens ein Deck darunter geben musste und dass wir die Menschen auf Deck evakuieren mussten, damit die Menschen von unten raus konnten, um zu vermeiden, dass dieses Boot nicht im Laufe der Zeit instabil wurde. Für ein derartiges Szenario existierten keine Konzepte. Wir haben uns mit den KollegInnen von der Iuventa abgesprochen, die Menschen mit Rettungsinseln versorgt und sie nach und nach von dem Holzboot abgeborgen. Ein teilweise frustrierendes Unterfangen, nach drei Stunden an Deck sah das Holzboot immer noch genauso überfüllt aus wie vorher, weil die Menschen von unten nachkamen auf das Oberdeck. Eine ganze Weile war auch nicht klar, ob überhaupt ein größeres Schiff kommt, um die Menschen aufzunehmen; bis es gegen Mittag hieß, dass ein Bundeswehrschiff der Mission Sophia (EUNAVFOR/Med) komme. Wir mussten diejenigen, die im Wasser schwammen und die auf den Rettungsinseln waren, auf die Sea-Eye und die Iuventa aufnehmen, was eigentlich nicht vorgesehen ist, aber wir hatten keine Wahl. So nahmen wir im Laufe des Tages 286 Menschen an Bord. Für so ein kleines Schiff wie die Sea-Eye, die für neun Besatzungsmitglieder ausgelegt ist, ist das eine gewaltige Zahl.
Am frühen Nachmittag kam es durch ein geborstenes Ventil zu einem Defekt eines unserer beiden Generatoren. Es war klar, dass wir zurück nach Malta müssen, sobald die Gäste von unserem Schiff im Lauf des Nachmittags durch die Bundeswehr übernommen wurden. Um kurz vor Mitternacht gingen unsere letzten Gäste von Bord und wir wollten Kurs auf Malta nehmen. Doch es gab noch zwei offene Positionen, an denen dringend Hilfe gebraucht wurde. Die Bundeswehr lehnte jede weitere Unterstützung ab und verließ das Gebiet. Unsere Crew entschloss sich nach kurzer Diskussion einstimmig, weiter zu fahren und das Team der Iuventa zu unterstützen – trotz des Risikos, bei Ausfall des zweiten Generators manövrierunfähig im Meer zu treiben.
Vor Ort stellte sich schnell heraus, dass unsere Anwesenheit dringend notwendig war. Erneut mussten wir nur wenige Stunden nach dem letzten Einsatz Menschen von zwei Booten an Bord nehmen – weil große Schiffe zur Unterstützung fehlten. Das zweite Schlauchboot, dessen Position uns das Suchflugzeug Moonbird von Sea-Watch meldete, lief bereits mit Wasser voll und drohte in Kürze zu sinken. Nach unserem Eintreffen nahmen wir die Menschen unmittelbar an Deck, weil noch weitere Menschen im Wasser trieben. Zum großen Teil waren sie erschöpft und stark unterkühlt, teilweise nicht mehr fähig, den Transfer vom Schlauchboot auf die Sea-Eye aus eigener Kraft zu bewerkstelligen.
Insgesamt befanden sich mehrere schwangere Frauen an Bord. Eine der behandelten Frauen berichtete während der Wundversorgung davon, dass zwar ihr Mann auch auf die Sea-Eye gerettet wurde, jedoch ihr achtjähriger Sohn zuvor beim Sinken des Bootes ertrunken ist.
Bei einer unterkühlten schwangeren Frau musste direkt nach der Aufnahme an Bord bei uns mit der Reanimation begonnen werden, die leider erfolglos verlief. Während der Reanimation krampfte eine weitere Person wegen der Unterkühlung. Es gab mehrere Verletzte, u.a. eine Person mit einer infizierten Schusswunde im Sprunggelenk. Mehrere Frauen hatten sehr großflächige Verätzungen. Die Frauen sitzen in der Mitte dieser Schlauchboote und dort läuft eine Mischung aus Salzwasser, Benzin und Urin zusammen. Diese Flüssigkeit ist sehr sauer und die stundenlange Exposition führt zu großflächigen, schmerzhaften Verätzungen der Haut an Oberschenkeln, Hüften, im Genitalbereich und am Bauch. Drei der schwangeren Frauen berichteten über starke vaginale Blutungen und abdominelle Schmerzen. Nachdem das Schlauchboot leer war, mussten wir leider feststellen, dass in der Panik mindestens vier Personen im eingeströmten Wasser des Schlauchboots ertrunken waren. Weitere Leichen trieben neben der Sea-Eye im Wasser. Mehrere Leichen ohne Schwimmhilfen sind direkt versunken. Insgesamt wurden unmittelbar bei der Rettungsaktion acht bis zehn treibende Leichen gesehen. Weitere vier Personen versanken im Meer.
Wir hatten über 200 Menschen an Bord, 15 Personen lagen in unserem sechs Quadratmeter großen »Lazarett« und es gab keinerlei Aussicht darauf, dass uns in absehbarer Zeit jemand die Gäste abnimmt. Versuche zur Evakuierung auf einen zivilen Frachter am frühen Abend schlugen fehl, da das Wetter sich rapide verschlechterte und die Wellen auf 2-3 Meter anwuchsen. Die Menschen an Bord der Sea-Eye waren der Witterung fast schutzlos ausgeliefert. Es wurde uns allen klar, dass sie mindestens über Nacht bleiben müssen, wobei auch die Aussichten für das Wetter am Folgetag nicht gut waren. Wir rechneten fest mit weiteren Toten an Bord unseres Schiffes. Auch der nächste Morgen brachte keine Entspannung, im Gegenteil. Zwar haben alle Gäste die Nacht überlebt, die Zustände an Bord waren jedoch desolat – die Menschen saßen dicht an dicht in Urin und Erbrochenem. Das Schiff war so voll, dass wir letztendlich handlungsunfähig waren. Um kurz vor neun Uhr morgens entschieden wir uns, einen Mayday-Ruf abzusetzen, der von einem luxemburgischen Kampfflugzeug an das MRCC in Rom geleitet wurde. Daraufhin liefen Schnellboote der italienischen Küstenwache aus Lampedusa aus, die uns am Abend im Windschatten eines großen zivilen Frachters die Gäste abbargen – nach insgesamt 36 Stunden an Deck.
Rechte Nebelkerzen
Die Situation an Ostern erhielt einiges an medialer Aufmerksamkeit aufgrund der hohen Zahl von in Seenot befindlichen Personen. Laut der Internationalen Organisation für Migration wurden zwischen Karfreitag und Ostersonntag 8.360 Menschen von 55 Schlauch- und drei Holzbooten gerettet und dabei 13 Leichen geborgen. Ich fand es ziemlich ernüchternd, heimzukehren und mich einerseits über die mediale Aufmerksamkeit zu freuen, andererseits musste ich dann aber schnell feststellen, dass eine rechtsradikale Nebelkerze im Diskurs ihre Wirkung voll entfaltete: Die Medienberichte arbeiteten sich an der haltlosen Behauptung von Frontex-Chef Leggeri und einem italienischen Staatsanwalt ab, NGOs wie Sea-Eye würden als »pull factor« die Menschen in Libyen erst zur Flucht über das Mittelmeer animieren bzw. mit den Schleppern zusammenarbeiten. Belege gab und gibt es dafür keine, aber kaum ein Medienbericht widmete sich der eigentlich relevanten Frage – nämlich wie sich das Massensterben durch koordinierte Maßnahmen verhindern lässt.
Obwohl am Osterwochenende etwa 8.000 Menschen aus seeuntüchtigen Booten auf der zentralen Mittelmeerroute gerettet wurden, waren von den insgesamt 25 an den Rettungen beteiligten Schiffen nur eines von Frontex und eines von der EU Mission Sophia. Der Rest bestand aus Schiffen der italienischen Küstenwache, zehn Schiffen von privaten Organisationen wie Sea-Eye, Sea-Watch, Jugend rettet e.V und anderen Organisationen sowie zivilen Frachtschiffen. Dass Amateure wie wir über einen längeren Zeitraum hinweg aushelfen müssen, ohne dass professionelle Stellen wie das Militär einspringen oder die italienische Küstenwache durch die anderen EU-Staaten gestärkt wird, ist zwar ein Unding, aber auch eine politisch bewusste Entscheidung im Rahmen der deutschen und europäischen Abschottungspolitik.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht derzeit von 700.000 bis zu einer Million MigrantInnen in Libyen aus. Der Partner der EU unter den verschiedenen Regierungen in Libyen ist die sogenannte Libysche Einheitsregierung (GNA), eine Art Zweckbündnis, das 2016 gegründet wurde, um zwei konkurrierende Regierungen in Tripolis und in Tobruk zur Kooperation zu bringen. Die tatsächliche Macht der GNA muss sehr skeptisch gesehen werden. Seit Gaddafis Sturz liegt die reale Herrschaft verteilt bei Milizen, islamistischen Gruppierungen wie dem IS und regional verschiedenen Gruppierungen. Die Europäische Union hat trotzdem beschlossen, der libyschen Einheitsregierung 400 Millionen Euro zur Umsetzung des Abkommens zur Eindämmung von Migration zur Verfügung zu stellen.
Bei allen Lippenbekenntnissen zu Demokratie und Menschenrechten – wenn eine sogenannte Wertegemeinschaft wie die EU über Jahre darüber hinwegschaut, wie Menschenmassen an ihrer Außengrenze sterben, hat sie mehr als ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Abschottungspolitik der deutschen und anderen europäischen Regierungen macht aus dieser humanitären Katastrophe vor der Küste Afrikas eine europäische Krise.
Weitere Informationen:
https://missingmigrants.iom.int/
www.seaeye.org
www.jugendrettet.org
www.sea-watch.org
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung des Gesundheitswesens, 2/2017)