Nein, es ist nicht die Karte…
Über ein von Beginn an undemokratisches Mega-Datenprojekt namens Elektronische Gesundheitskarte / Telematik
Der Hausarzt Wilfried Deiss aus Siegen hat schon sehr früh und sehr gründlich immer wieder auf die Gefahren der elektronischen Gesundheitskarte und die damit zusammenhängenden Datenschutzprobleme hingewiesen. Nach seinem Kommentar zur aktuellen Situation dokumentieren wir ein wenig gekürzt sein ... sein neuestes Wartezimmerinfo.
Gute Idee, die E-Gesundheitskarte / Telematik zum Thema zu machen. In den nächsten ein bis zwei Jahren könnte es spannend werden: Wie werden die Vorgaben des E-Health-Gesetzes erfüllt / umgesetzt? Wie reagiert die Ärzteschaft?
Bei dem Pleiten und Pannen-Projekt scheint ja immerhin in einem Modellprojekt das Online-Versicherten-Stammdaten-Management zu funktionieren. Aber nach weit über zehn Jahren und weit über einer Milliarde Investitionen gibt es noch immer KEIN Modellprojekt, das die Praktikabilität für medizinisch relevante Anwendungen nachweisen kann. Und erst recht kein Modellprojekt, in dem die TeilnehmerInnen zu dem Schluss kommen: Das ist gut, das ist eine Alltagserleichterung, das verbessert die Medizin und die PatientInnenversorgung. Vor Jahren gab es aus den USA eine Vergleichsstudie von Krankenhäusern mit analogem Datenaustauch versus Häuser mit digitaler Kommunikation. Im Ergebnis: keine Änderung der Behandlungsqualität.
In meinem persönlichen ärztlichen Umfeld sieht das Meinungsbild so aus: Die Mehrzahl der KollegInnen (von denen einige begeisterte Digital-Freaks sind, also das Gegenteil vom Klischee des technophoben Arztes) geht davon aus, dass die Implementierung der Technologie in den Praxen vor allem technischen Aufwand, Ärger und Kosten verursachen wird und die Alltagsabläufe davon gestört werden. Erwartet wird mehrheitlich noch weniger Zeit für den PatientInnenkontakt und keine Verbesserung der Behandlungsqualität.
Die Mehrzahl der KollegInnen ist zudem über 55 Jahre alt und einige meinen: Bevor ich mir das alles noch antue, nehme ich lieber die im Gesetz angedrohte »Strafe« von 1 Prozent jährlichen Abzug der kassenärztlichen Einnahmen in Kauf. Der ein oder andere äußert sogar, er/sie würde eher ein paar Jahre früher in Ruhestand gehen, anstatt sich zum Abschluss der beruflichen Tätigkeit noch eine Menge Ärger zu verschaffen und möglicherweise das Arztgeheimnis zu gefährden. Mich würde brennend interessieren, ob dieses Meinungsbild eine Selektion in meinem Umfeld darstellt, oder ob das verallgemeinert werden kann.
Das Projekt Gesundheitskarte war von Anfang an undemokratisch. Es ist hinter den Kulissen vorbei an Öffentlichkeit / PatientInnen geplant worden. Bei anderen die Allgemeinheit betreffenden Großprojekten gibt es im Vorfeld öffentliche Diskussionen, Anhörungen von Betroffenen, Bürgerinnen, Expertendiskussionen. Nichts davon bei der eGK.
Dabei ist besonders auffällig, dass die entscheidende Information und die entscheidende Frage von Anfang an nicht öffentlich gemacht worden sind. Die wesentliche Information zum öffentlichen Verständnis des Projektes ist und bleibt, dass es sich nicht um die Karte, sondern um ein gigantisches bundesweites Datennetzwerk handelt, möglicherweise die größte Datensammlung dieser Art weltweit. In diesem Datennetzwerk sollen persönlich-intime, dem Arztgeheimnis unterliegende PatientInnendaten gespeichert werden. Freilich, offiziell und nach aktueller Verlautbarung nur mit Zustimmung des PatientIn, selbstverständlich nach höchsten Sicherheitskriterien. Aber die bewusste Verheimlichung der relevantesten Informationen ist von Beginn an zu erkennen. Es hat in den vergangenen Jahren sogar schriftliche Akzeptanz-Umfragen bei PatientInnen gegeben, die von Projekt-Lobbyisten in Auftrag gegeben wurden, und wo im ganzen mehrseitigen Fragebogen nicht einmal klar ausgesprochen wird, dass die Karte nur der Schlüssel, aber nicht der Speicherort einer Mega-Datensammlung ist. Der Öffentlichkeit ist also von Anfang getäuscht worden.
Und die entscheidende Frage, die schon vor Start des Projekts den PatientInnen / Versicherten hätte gestellt werden müssen: Möchten Sie, dass in Zukunft Ihre PatientInnendaten nicht mehr beim Arzt, sondern in einem bundesweiten Mega-Datennetzwerk gespeichert werden sollen? (In unserer Praxis habe ich diese in den letzten Jahren mehrfach gestellt, verbunden mit der Versicherung, dass ich selbstverständlich das Projekt in unserer Praxis umsetzen würde – und die Kritik daran einstellen-, wenn eine klare Mehrheit unserer PatientInnen diese Frage mit Ja beantwortet). Diese Frage wurde nur in Einzelfällen bejaht, alle anderen sagen ganz eindeutig: Ich will nicht, dass meine persönlichen Daten in einem Netzwerk (heute wäre die richtige Vokabel »cloud«, und dabei ist es funktionell gleichgültig, ob es sich um einen einzelnen Mega-Server oder eine Server-Gruppe handelt) gespeichert werden. Das passt dann wieder zu meiner ärztlich-persönlichen Grundhaltung: Das Internet ist eine geniale Erfindung... für Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.
Apropos Umfrage: Könnte der vdää nicht eine bundesweite Umfrage anstoßen, zusammen mit den Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen Krankenkassen, gerichtet an die PatientInnen: Wer möchte, dass seine / ihre persönlichen PatientInnen in Zukunft nicht mehr (nur) beim Arzt, sondern in einer Cloud gespeichert werden sollen? Wenn die Befürworter inklusive IT-Lobbyisten von medizinischem Sinn und Nutzen ihres Projektes überzeugt sind, dürften sie keine Angst vor dem Ergebnis haben.
Meine aktuelle Rolle bei der Kritik des Projektes: Ab 2006 hatte ich einige wichtige Anstöße geben können, aus denen die ersten Resolutionen von Kassenärztlichen Vereinigungen gegen das Telematik Projekt »in der geplanten Form« wurden, zuerst in Westfalen-Lippe und Hessen, später beim Ärztetag. Über die Jahre hat sich bei mir eine beachtliche Quellensammlung zum Thema angehäuft, eine Art eGK-Archiv mit etwa 1000 Fundstellen (wer interessiert ist, kann die Informationen bekommen). Ich muss allerdings hinzufügen, dass bezüglich der besonders wichtigen Hintergrundinformationen in den letzten Jahren nicht mehr viel hinzugekommen ist. Da sind andere derzeit sehr viel kompetentere AnsprechpartnerInnen als ich. Mein Haupt-Augenmerkt betrifft weiterhin die demokratische Fundierung, die Praktikabilität von Technik im medizinischen Alltag, die PatientInnen-Orientiertheit und den PatientInnen-Nutzen.
Somit bin ich weiterhin informiert über den Fortgang des Projektes, habe aber im Vergleich zu vor fünf bis zehn Jahren keinen Informationsvorsprung mehr. Bezüglich der ökonomisch-lobbyistischen Kräfte, die im Hintergrund agieren, dürften die Datenschützer Rhein-Main kompetente AnsprechpartnerInnen sein. Ebenso die Initiative Stoppt-die-eCard in Hamburg.
Wilfried Deiß ist Internist / Hausarzt in Siegen.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung des Gesundheitswesens, 2/2017)