GbP 2-2023 Roman Vega Romero

Nicht aufgeben, die Gesellschaft zu verändern

Roman Vega Romero zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen gerechten Gesundheitssystemen, umfassender medizinischer Grundversorgung und einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung

In der People’s Charter for Health (2000) stellte das People’s Health Movement fest, dass sich die Gesundheitskrise der Armen und Ausgegrenzten verschlimmert hat und dass die Ursache dieser Krise in der Vertiefung von »Ungleichheit, Armut, Ausbeutung, Gewalt und Ungerechtigkeit« liege (S. 1). Zweiundzwanzig Jahre später stellt die OECD fest, dass »wir in einer Ära multipler Krisen, Schocks und Ungewissheiten leben«, von denen mindestens 24% der Weltbevölkerung betroffen sein werden, die in 60 fragilen Kontexten wachsender Armut und Ungleichheit leben.

Heute erleben wir jedoch nicht nur die Krise dieser Zusammenhänge, sondern eine allgemeinere Krise, die aus der kombinierten Systemkrise von Kapitalismus, Ökologie und Kriegen resultiert. Diese Krise erklärt die größere Häufigkeit und das Wiederauftreten von Epidemien und Pandemien, Migrationsbewegungen, das Fortbestehen von Chronischen nichtübertragbaren Krankheiten (CNCD = Chronic non communicable diseases), das Wiederauftauchen der Gefahr einer Atombombe und der Auslöschung des Lebens selbst.

Hinter der Verflechtung dieser Krisen steht das neoliberale, kapitalistische und globalisierte Wirtschaftssystem der großen transnationalen Konzerne, das die multilateralen Organisationen und die Staaten gekapert hat, um die Märkte zu kontrollieren und um zu expandieren, um Profite zu akkumulieren. All dies schränkt aber die Fähigkeit der genannten Institutionen ein, auf die Folgen der Krise zu reagieren und Bedingungen zu schaffen, die das Wohlergehen der Menschen und die Sorge um Gesundheit und Leben gewährleisten.

Diese Zusammenhänge haben dazu geführt, dass fragile Gesundheitssysteme nicht mehr in der Lage sind, auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren. Die Fragilität dieser Gesundheitssysteme beruht auf ihrer Unfähigkeit, die Bedarfe der Bevölkerung zu befriedigen und dazu beizutragen, die uns bedrohenden Gesundheitsgefahren abzuwenden. So hat z.B. die Covid-19-Pandemie gezeigt, dass in Lateinamerika und der Karibik 80% der grundlegenden Gesundheitsdienste in Ländern mit niedrigem Einkommen, 35% in Ländern mit mittlerem Einkommen und 24% in Ländern mit hohem Einkommen zusammenbrachen (OECD & The World Bank 2020).

Mit Ausnahme von Kuba und Costa Rica waren die Gesundheitssysteme der Region nicht nur überfordert, die durch die Pandemie verursachten Schäden einzudämmen, sondern auch nicht in der Lage, wirksame Strategien zur Prävention und Bekämpfung der Pandemie umzusetzen. So funktionierte beispielsweise die primäre Gesundheitsversorgung in den meisten lateinamerikanischen Gesundheitssystemen nicht, weil sie unterfinanziert waren, es an Gesundheitspersonal mangelte oder einfach kein umfassendes Primary Health Care-Konzept vorhanden war.

Die Kommerzialisierung und Privatisierung der lateinamerikanischen Gesundheitssysteme hat dazu geführt, dass sie bei der Gesundheitsüberwachung, -prävention und -förderung weniger effektiv sind. Sie sind nicht in der Lage, den ungleichen Zugang zu Gesundheitsdiensten zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass die Ressourcen nach Regionen und sozialen Schichten gerecht verteilt werden. Darüber hinaus werden die Gesundheitssysteme der Region von einem biomedizinischen Ansatz der Gesundheitsversorgung dominiert, der durch jahrzehntelange Kommerzialisierung und Privatisierung verstärkt wurde und das Wissen und die Praktiken der indigenen Gemeinschaften ausschließt und Interkulturalität erschwert.

So gibt es z.B. in den lateinamerikanischen Ländern im Durchschnitt zwei Ärzte pro 1.000 Einwohner, während in Haiti, Guatemala und Honduras im Durchschnitt nur 0,3 Ärzte auf 1.000 Einwohner kommen. Obwohl die Gesundheitsausgaben in den lateinamerikanischen Ländern im Durchschnitt um 3,6% pro Jahr stiegen, während das Bruttoinlandsprodukt um 3% pro Jahr wuchs, betrugen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt etwa 1.000 USD pro Person, während sie in den OECD-Ländern viermal so hoch sind (OECD & The World Bank 2020).

Wenn die lateinamerikanischen Länder das Niveau der Gesundheitsausgaben der Industrieländer mit dem aktuellen Modell der biomedizinischen Gesundheitssysteme erreichen wollten, müssten sie ihre Gesundheitsausgaben unerreichbar hoch setzen, um die Bedarfe der Bevölkerung zu befriedigen. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge haben sich die »weltweiten Gesundheitsaus­gaben zwischen den Jahren 2000 und 2013 auf 7,35 Billionen US-Dollar verdoppelt, wobei der größte Teil des Wachstums auf Technologiekosten und steigende Nachfrage zurückzuführen ist. Im Jahr 2021-22 gaben die OECD-Länder im Durchschnitt etwa 9,5% des BIP für die Gesundheitsversorgung aus – die USA sogar 17%. Allein in den Jahren 2020-21 beliefen sich die US-Ausgaben für verschreibungspflichtige Medikamente auf 348 Mrd. US-Dollar – das ist das obere Ende der geschätzten jährlichen Gesamtkosten für eine flächendeckende Gesundheitsversorgung in allen Ländern bis 2030. »Jeder auch nur annähernd echte Versuch einer universellen Gesundheitsversorgung, die sowohl den Zugang zur öffentlichen Grundversorgung als auch zu fortschrittlicheren Behandlungen von chronischen nichtübertragbaren Krankheiten umfasst, würde viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen innerhalb weniger Monate in eine Art gesundheitlichen Bankrott treiben« (Taylor 2022, S. 82).

Hinter dieser wachsenden Tendenz bei den Gesundheitsausgaben steht das Streben der Transnationalen Konzerne (TNC = Transnational Corporations) nach Profit, das ohne unbegrenztes Wirtschaftswachstum nicht zu erreichen ist. Dies erklärt gleichzeitig den anhaltenden Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens sowohl in Ländern mit hohem als auch mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die derzeitige Politik der Universal ­Health Coverage als Bestandteil der aktuellen globalisierten neoliberalen Wirtschaftsordnung formuliert.

Healthcare for All (Alma-Ata, 1978) versus Universal Health Coverage (Astana, 2018)

Wir müssen jedoch bedenken, dass die Idee einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NIEO = New International Economic Order) derzeit wiederbelebt wird, um dem ungleichen Handel, der Armut, den sozialen Ungleichheiten und der ökologischen Krise entgegenzuwirken, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder des globalen Südens behindern und die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten im globalen Norden vergrößern und das Leben auf der Erde insgesamt bedrohen. Die Gruppe von Ländern, sozialen und politischen Bewegungen, die heute diese Idee propagiert, verkündet auch die Notwendigkeit, eine Bewegung der blockfreien Länder zu gründen, da die etablierten Mächte angesichts ihrer Bestrebungen wieder ein Szenario des Kalten Krieges zu installieren versuchen. Veränderungen, die es den heutigen und zukünftigen Generationen ermöglichen, Gesundheit für alle zu erreichen, werden innerhalb der vorherrschenden neoliberalen internationalen Wirtschaftsordnung nicht möglich sein. Die Architekten von Alma-Ata haben dies 1978 sehr gut verstanden, und wir müssen diesen Geist wieder aufgreifen, um einen grundlegenden, gerechten und nachhaltigen Wandel zu erreichen.

Das von der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation geförderte vorherrschende und sehr teure Modell der Universal Health Coverage steht im Widerspruch zu den Erfordernissen einer breiteren sozioökonomischen und ökologischen Transformation, die mit einem gerechten und universellen Gesundheitssystem auf der Grundlage eines umfassenden und interkulturellen Primary Health Care-Ansatzes verbunden ist, da dieses den Schwerpunkt auf die Mobilisierung inländischer Ressourcen und die Finanzierung alleine durch die öffentliche Hand setzt. Das Gesundheitsmodell der Weltbank und der WHO ist ein anthropozentrisches, biomedizinisches und krankheitszentriertes, das der Privatisierung und Kommerzialisierung der Gesundheitssysteme und der neoliberalen Wirtschaftsordnung dient. Primary Health Care ist eine Strategie, die einer neuen, in eine Neue Weltwirtschaftsordnung eingebetteten Gesundheitssystempolitik einen anderen Inhalt geben könnte.

Primary Health Care, wie sie 1978 in Alma-Ata proklamiert wurde (WHO & UNICEF, 1978), wurde jedoch ihres umfassenden und interkulturellen Inhalts beraubt und ist einem neoselektiven Ansatz gewichen, um die Reformen der Universal Health Coverage für private und marktwirtschaftliche Interessen funktional zu machen, wie es in der Erklärung von Astana vierzig Jahre später heißt (WHO & UNICEF, 2018).

In der Erklärung von Alma-Ata (1978) heißt es in Absatz 6: »VI. Primary Health Care ist eine grundlegende Gesundheitsfürsorge auf der Grundlage praktischer, wissenschaftlich fundierter und sozial akzeptabler Methoden und Technologien, die dem Einzelnen und den Familien in der Gemeinschaft unter deren voller Beteiligung allgemein zugänglich gemacht wird, und zwar zu Kosten, die sich die Gemeinschaft und das Land auf jeder Stufe ihrer Entwicklung im Geiste der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung leisten können. Sie ist ein integraler Bestandteil sowohl des Gesundheitssystems des Landes, dessen zentrale Funktion und Hauptschwerpunkt sie ist, als auch der gesamten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gemeinschaft« (WHO & UNICEF 1978, S. 1-2). Vor allem aber heißt es in Absatz 3 der Erklärung von Alma-Ata von 1978 über Primary Health Care: »III. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf der Grundlage einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung ist von grundlegender Bedeutung für die größtmögliche Verwirklichung von Gesundheit für alle und für die Verringerung der Kluft zwischen dem Gesundheitszustand der Entwicklungsländer und dem der entwickelten Länder. Die Förderung und der Schutz der Gesundheit der Menschen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung und trägt zu einer besseren Lebensqualität und zum Weltfrieden bei« (WHO & UNICEF 1978, S. 1).

In diesem Sinne ist Gesundheit das Ergebnis eines sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozesses und nicht nur das Ergebnis von Gesundheitsdienstleistungen, und PHC wurde als eine Strategie verstanden, die nicht nur zur Verbesserung der durchschnittlichen Gesundheitsergebnisse, sondern auch zur gesundheitlichen Chancengleichheit und einer effizienten Nutzung der Ressourcen der Gesundheitssysteme beiträgt, indem sie sowohl über die Gesundheitssysteme als auch über die sozioökonomische Entwicklung wirkt.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch »Walking the Talk: reimagining primary health care after covid-19« hat die Weltbank (2022) die Bedeutung der Alma-Ata-Prinzipien anerkannt, einen auf die Bevölkerung ausgerichteten Gesundheitsversorgungsansatz durch multidisziplinäre Teams zu gewährleisten, der den Erstkontakt, die Integration, die Koordination und die kontinuierliche individuelle Betreuung auf allen Ebenen des Gesundheitssystems sicherstellt. Sie hat auch die Notwendigkeit sektorübergreifender Maßnahmen und der Beteiligung der Communities erkannt, um nicht nur auf die Bedarfe der klinischen Versorgung zu decken, sondern auch auf andere soziale Faktoren der Gesundheit zu reagieren. Eines der Probleme des Weltbankkonzepts besteht jedoch darin, dass es die Abhängigkeitzwischen Gesundheitssystemen, Primary Health Care und der internationalen/nationalen sozioökonomischen Ordnung nicht anerkennt. Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Weltbankvorschlag zur Primary Health Care wiederum auf den Grundsätzen eines biomedizinischen, kostenwirksamen und kosteneffizienten Modells der Gesundheitsversorgung beruht.

Die Weltbank (2022) und selbst die WHO (2008) sehen keine Notwendigkeit, die vorherrschende neoliberale internationale/na­tionale sozioökonomische Ordnung zu ändern, die Gesundheitssysteme umzugestalten und zu entkolonialisieren und eine umfassende Gesundheitsversorgung zu stärken, um der Armut und den gesundheitlichen Ungleichheiten, der sozio-ökologischen Krise und der zunehmenden Häufigkeit und Wiederholung von Pandemien und anderen gesundheitlichen Notfällen zu begegnen.

Die Neuen Weltwirtschaftsordnung, wie sie von der Sechsten Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974 verabschiedet wurde, wurde in der Folge ausgehöhlt und durch die Schuldenkrise und die Strukturanpassungspolitik der 80er Jahre, durch die Uruguay-Runde, die 1994 zur Gründung der Welthandelsorganisation führte, und durch den Aufstieg des Neoliberalismus aufgehoben (Legge, 2023). Jetzt wurde sie durch die Ziele für nachhaltige Entwicklung abgelöst und im Gegensatz zur Erklärung von Alma-Ata wurde Primary Health Care von der Art der neoliberalen Gesundheitspolitik innerhalb desselben Kapitalakkumulationsregimes abhängig gemacht. In diesem Sinne wurde Primary Health Care durch einen neoselektiven Ansatz, der sich auf ein biomedizinisches Grundversorgungsmodell konzentriert, für die Privatisierung/Kommodifizierung von Gesundheitssystemen funktionalisiert (People’s Health Movement et al, 2022, S. 85).

Wir sind uns bewusst, dass eine Neue Weltwirtschaftsordnung für den Globalen Süden eine unumgängliche Voraussetzung ist, um die Ziele der Verbesserung der Gesundheit, der gesundheitlichen Chancengleichheit und der Erhaltung des Lebens zu erreichen. Die Forderung nach einer erneuerten Vision dieser Weltwirtschaftsordnung, die an das XXI. Jahrhundert angepasst ist, wurde in der Erklärung von Santa Cruz deutlich gemacht: »For a New world Order for Living Well« (Für eine neue Weltordnung für ein gutes Leben), die von der G77 und China im Juni 2014 anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung der G77 angenommen wurde, vom UNCTAD-Bericht 2022 über Handel und Entwicklung und durch die Erklärung zum 50. Jahrestags der Neue Weltwirtschaftsordnung, 1974-2024, Kongress in Havanna, Januar 2023 (siehe Legge, 2023).

Dieser Vorschlag einer Neue Weltwirtschaftsordnung würde Folgendes beinhalten: die gleichberechtigte Souveränität der Staaten und die freie Selbstbestimmung der Völker und Territorien; die Regulierung des globalen Finanzwesens; die Besteuerung der transnationalen Unternehmen und die Förderung nationaler Steuerreformen; die Gesundheitssouveränität und der gleichberechtigte Zugang zu Know-how und Gesundheitstechnologien; die Regulierung und Überwachung der Aktivitäten der transnationalen Unternehmen (durch die Schaffung eines Verhaltenskodex); die Neuverhandlung der Freihandelsabkommen; die Achtung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen auf nationaler und globaler Ebene; die Veränderung der derzeitigen Praxis der Investitionsabkommen und des ungleichen Austauschs zwischen den Nationen; die Förderung der globalen Solidarität und die Entkolonialisierung der Hilfe für Länder und Völker und der Schutz der Umwelt.

Anstatt jedoch eine Neue Weltwirtschaftsordnung und einen umfassenden Primary Health Care-Ansatz zu fördern, haben sich die Weltbank und die WHO am Programm für nachhaltige Entwicklung (SDG = Sustainable Development Goals) und an mehreren neoselektiven Primärversorgungsprogrammen beteiligt, um das derzeitige Kapitalakkumulationsregime beizubehalten und den Umfang der Alma-Ata-Erklärung einzuschränken (WHO & UNICEF, 1978).

Dieser selektive Ansatz für die Gesundheitsfürsorge, der zur Organisation gezielter und kosteneffizienter Pakete einzelner biomedizinischer Interventionen und versicherbarer Leistungspläne beigetragen hat, zielt nun darauf ab, wesentliche Funktionen des öffentlichen Gesundheitswesens und soziale Unterstützungsmaßnahmen zu integrieren, die durch eine Universal Health Coverage-Politik verallgemeinert werden können.

Ein von The Lancet Commissions (2018) veröffentlichter Bericht unterscheidet zwischen sektoralen und sektorübergreifenden Interventionen. Der Bericht wählt 218 sektorale Gesundheitsmaßnahmen aus, die im Rahmen der Universal Health Coverage-Politik durchgeführt werden können: 13 bevölkerungsbasierte Gesundheitsmaßnahmen (wesentliche öffentliche Gesundheitsfunktionen), 59 gemeindebasierte Maßnahmen, 68 Maßnahmen in Gesundheitszentren, 58 Maßnahmen in Krankenhäusern des Level 1, 20 Referenzmaßnahmen und spezialisierte Krankenhäuser. Davon können die Primary Health Care-Plattformen der Universal Health Coverage 198 Maßnahmenpakete anbieten. Die Lancet-Kommissionen haben außerdem 71 sektorübergreifende öffentliche Maßnahmen auf der Grundlage von Kostenwirksamkeitskriterien vorgeschlagen, die ein Paket von Maßnahmen zur Verringerung oder Beseitigung von verhaltensbedingten und umweltbedingten Risikofaktoren bilden können. Dazu gehören vier Gruppen von sektorübergreifenden Maßnahmen:

  1. Finanzielle/steuerliche Maßnahmen (Steuern auf Tabak, Alkohol, Zucker);
  2. Ordnungspolitische Maßnahmen (Verschmutzung der Luft und der Innenräume sowie Konsum schädlicher Produkte);
  3. Bauliche Maßnahmen (Verkehrsunfälle, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung);
  4. Informative Maßnahmen (Verbraucheraufklärung über unzureichenden Verbrauch von Mikronährstoffen, ungeschützten Sex).

Eingeschlossen sind auch Sozialschutzmaßnahmen wie bedingte Geldtransfers für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten.

In der weltweiten Erfahrung seit 1979 bis heute werden strategische Primary Health Care-Politikkonzepte, die auf Paketen von Primärversorgungsleistungen beruhen, die nach kosteneffektiven, kosteneffizienten Kriterien ausgewählt werden und auf Zielgruppenorientierung und individuelle Wahlmöglichkeiten ausgerichtet sind, durch das selektive und neoselektive Modell der Primärversorgung unterstützt (Walsh und Warren, 1979; Vega Romero, Hernández Torres, Mosquera Méndez, 2012; Vega Romero y Acosta Ramírez, 2015). Die Finanzierungsregelungen, die auf einem auf diese Weise ausgewählten Paket von Primary Health Care-Leistungen und auf dem strategischen Einkauf von Dienstleistungen aus öffentlichen Mitteln für Netzwerke multidisziplinärer Teams basieren, sind funktional für die Kommerzialisierung und Privatisierung der Primary Health Care.

Das aktuelle Modell (Neo selective Primary Health Care) ermöglicht es öffentlichen/privaten Versicherern und Gesundheitsdienstleistern, Märkte für die Erbringung von Primärversorgungsdiensten direkt oder über private Manager zu schaffen, die Verträge mit Netzen privater/öffentlicher Primärversorgungsdienstleister abschließen, die auf dem Einsatz multidisziplinärer Teams in Gebieten mit zugewiesener Bevölkerung, Gateway-Systemen, Kontinuität und Koordination der Versorgung, Kopfpauschalen, finanziellen Anreizen und freier Wahl des Anbieters durch die Patienten basieren (Weltbank, 2022). Mit diesem Ansatz ist es möglich, integrierte Netzwerke von Versicherern, Managern und Anbietern zu schaffen, aus denen private Primärversorgungsunternehmen hervorgehen können. Bestimmte Finanzierungskonzepte, die mit strategischen Einkaufsvereinbarungen und Zahlungsmodalitäten verbunden sind, können dazu führen, dass die Primary Health Care-Strategie fragmentiert und/oder in ihrem Umfang eingeschränkt wird, wie es derzeit im Allgemeinen Kolumbianischen Krankenversicherungssystem (Sistema General de Seguridad Social en Salud, SGSSS) der Fall ist, wenn es keine starke und organisierte staatliche Intervention gibt.

Dieser Ansatz der Weltbank hält eine unnötige Trennung zwischen klinischen Maßnahmen und öffentlicher Gesundheit aufrecht. Er verhindert, dass Primary Health Care mit dem guten Leben von Gemeinschaften und Regionen verknüpft wird, indem er sektorale Gesundheitsmaßnahmen (primäre klinische und öffentliche Gesundheitsversorgung durch multidisziplinäre Teams) drastisch von sektorübergreifenden Maßnahmen und der Einbeziehung von Gemeinschaften trennt.

Die Kollegen vom People’s Health Movement sagen dazu:

1) »Das in der Erklärung von Alma-Ata vorgeschlagene Modell der Primary Health Care legt nahe, dass sich die Fachkräfte und Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht nur auf die Primärversorgung konzentrieren, sondern auch Wege finden können, mit ihren Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, um strukturelle Hindernisse für eine bessere Gesundheit zu verstehen und zu beseitigen, die von den lokal spezifischen bis zu den globalen Hindernissen reichen (Sanders 1998; Schaay und Sanders 2008)« (zitiert nach Legge 2023, S. 94).

2) »Der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung wird nicht allein im Gesundheitssektor entschieden werden, aber Gesundheit hat einen universellen Stellenwert und kann vielleicht ein Narrativ des Wandels liefern, das über Grenzen hinweg geteilt werden kann. Die Sprache der sozialen Determinanten (und der sozialen Determinierung) von Gesundheit kann anknüpfen an eine bestehende Erzählung über die Verbindungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen, dem Mikro- und dem Makrobereich« (Legge, 2023, S. 94).

Wir dürfen nicht aufgeben, die Gesellschaft zu verändern und die Gesundheitssysteme zu transformieren und dekolonisieren. Es ist an der Zeit, den Kampf für die Gesundheit wieder mit dem Kampf für eine Neue Weltwirtschaftsordnung und dem Kampf für den Frieden der Bewegung der Blockfreien zu verbinden. Wie es in der Erklärung von Havanna heißt: Wir müssen einen planetarischen Block aufbauen, der vom Süden angeführt und durch die Solidarität des Nordens gestärkt wird, um die Neue Weltwirtschaftsordnung und den Frieden zu verwirklichen.

(Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Rafaela Voss und Karen Spannnenkrebs.)

Dr. med. Roman Vega Romero ist Globaler Koordinator des People’s Health Movement.

Hier sind die Referenzen aus dem Englischen Original

  • Legge, D, “Political economy for health: Key Terms in Political Economy and their Implications for Population Health and for Health Care”, Draft March 8, 2023
  • Morales, E 2014, ‘Towards a new world order for living well: For a global brotherhood among the peoples’, G77 Special Summit of Heads of State and Governments, Santa Cruz Santa Cruz de la Sierra, Plurinational State of Bolivia, 14 June 2014
  • OECD & The World Bank (2020), Panorama de la Salud: Latinoamérica y el Caribe 2020, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/740f9640-es
  • OECD, States of Fragility 2022. States of Fragility 2022 | States of Fragility | OECD iLibrary (oecd-ilibrary.org)
  • People´s Health Movement, 2000. People´s charter for health. https://phmovement.org/wp-content/uploads/2018/06/phm-pch-english.pdf
  • People´s Health Movement, MEDACT, Third World Network, Health Poverty Action, Medico International, ALAMES, Viva Salud and SAMA. Global Health Watch 6: In the shadow of the pandemic. Chapter B1: The Universal Health Coverage / Primary Health Care Divide. Bloomsbury Academic, 2022
  • Progressive International, 2022. Presenting: The Havana Declaration on the New International Economic Order - New Cold War: Know Better
  • Sanders, D 1998, ‘PHC21 - Everybody's business’, Primary health care: "Everybody's business". An international meeting to celebrate 20 years after Alma-Ata 20th Anniversary of Alma-Ata Conference, Almaty, Kazakhstan, 27-28 November 1998
  • Schaay, N & Sanders, D 2008, 'International perspective on Primary Health Care over the past 30 years : Primary Health Care : in context', South African Health Review, Vol. 2000, Health Systems Trust
  • Taylor S, Health in a Post-COVID World Lessons from the crisis of Western liberalism. Book draft submitted to Bristol University Press, for publication, 2022
  • The Lancet Commissions, Alma-Ata at 40 years: reflections from the Lancet Commission on Investing in Health, www.thelancet.com Vol 392 October 20, 2018
  • UN-United Nations General Assembly 1974, General Assembly Resolution 3201 (S-VI): Declaration on the Establishment of a New International Economic Order, and General Assembly Resolution 3202 (S-VI): Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order, Official Records of the General Assembly, United Nations, New York. https://digitallibrary.un.org/record/218450?ln=en#record-files-collapse-header
  • UNCTAD, 2022, Trade and Development Report UNCTAD, Geneva
  • Vega Romero, Román; Hernández Torres, Jinneth; Mosquera Méndez, Paola A. Una explicación desde el contexto y contenido de las políticas de salud al modelo híbrido y segmentado de atención primaria en salud en Bogotá. Saúde em Debate, Rio de Janeiro, v. 36, n. 94, jul./set. 2012, p. 392- 401
  • Vega Romero, Román; Acosta Ramírez, Naydú. La atención primaria de salud en sistemas de salud basados en el aseguramiento: el caso de Chile, Colombia y Perú. In: Giovanella, Ligia et al. (orgs.). Atención primaria de salud en Suramérica. Rio de Janeiro: ISAGS, 2015. p. 195-256
  • Walsh JA, and Warren KS, Selective Primary Health Care — An Interim Strategy for Disease Control in Developing Countries. N Engl J Med 1979; 301:967-974
  • WHO & UNICEF 1978, Alma-Ata 1978. Primary Health Care., World Health Organisation, Geneva. https://cdn.who.int/media/docs/default-source/documents/almaata-declaration-en.pdf?sfvrsn=7b3c2167_2
  • WHO & UNICEF 2018, Declaration of Astana. Global Conference on Primary Health Care. Astana, Kazakhstan, 25-26 October 2018
  • World Health Organization, The world health report 2008: primary health care now more than ever. https://apps.who.int/iris/handle/10665/43949
  • World Bank 1993, 'Investing in Health', World Development Report, World Bank, Washington DC
  • World Bank 2022, walking the Talk: reimagining primary health care after covid-19. Washington D.C

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Globale Gesundheit, Nr. 2, Juni 2023)


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