GbP 2-2023 Editorial

Liebe Leser*innen,

Dieses Jahr feiert die Weltgesundheitsorganisation ihren 75. Geburtstag. Kritik begleitet die WHO schon lange. Doch ihr bei der Gründung 1948 formuliertes Ziel, Gesundheit als »Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens, nicht nur als Freisein von Krankheit und Gebrechen«, zu ermöglichen, treibt nach wie vor viele Organisationen, Initiativen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen weltweit an.

Das Thema Globale Gesundheit kann nicht in einem Heft abgehandelt werden. Wir hoffen, einige Schlaglichter auf aktuelle Debatten und Themen zu werfen und Denkanstöße zum Weiterlesen zu liefern. Unser letztes Heft zur Globalen Gesundheit erschien 2017 – viele der Themen sind gleich geblieben: Auch vor sechs Jahren wurde auf die Gefahr einer Vereinnahmung des Global Health Diskurses durch neoliberale Interessen und auf den Einfluss privater Geldgeber hingewiesen.

Dennoch ist die Welt 2023 eine andere. Eine Vielzahl von Krisen belastet Gesellschaften weltweit und die Globale Gesundheit ist unter Bedrängnis vieler alter und neuer Gefahren: Steigende Lebensmittelpreise, Kriege und bewaffnete Konflikte, eine sich zuspitzende Bedrohung durch die Klimakatastrophe und die Nachwirkungen der Covid-19 Pandemie, ein neuer Aufschwung für autoritäre Regime und ein fortgesetzter neoliberaler Umbau, der in vielen Staaten die Sozialsysteme ausgehöhlt hat und eine Hauptursache der weltweiten »Care«-Krise ist, die durch Migration von einem Land ins andere verschoben wird.

Unsere Autor*innen blicken auf den Stand der Globalen Gesundheit vor dem Hintergrund dieser Krisen und kritisieren aktuelle Entwicklungen, die den Diskurs um Globale Gesundheit in eine neoliberale Richtung verschieben, die Privatisierungen Tür und Tor öffnet. Neben diesen problematischen Tendenzen spielt auch Neokolonialismus eine große Rolle.

Ein großes Thema, was wir in dieser Ausgabe aussparen, ist der Stand der reproduktiven Gesundheit: Das Recht auf reproduktive und sexuelle Gesundheit steht aktuell global unter Druck. Konservative und rückwärtsgewandte Initiativen, religiöser Fundamentalismus, antifeministischer und anti-LGBTQ Backlash greifen weltweit das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung an und erschweren den Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten. Einschränkungen des Rechtes auf sichere Schwangerschaftsabbrüche, LGBTQ-feindliche Gesetzgebung und erodierte Gesundheitssysteme gefährden Menschen. Alarmierende Zeichen, wie die nach wie vor hohe Sterblichkeit wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche, und die seit einigen Jahren wieder ansteigende Müttersterblichkeit zeigen ganz klar, wie wichtig der Kampf für reproduktive Rechte weiterhin ist.

Wir beginnen das Heft mit einem Text von Roman Vega Romero, der klarmacht, warum die Verwirklichung des Rechts von Gesundheit für alle eine Bewegung für eine neue internationale Wirtschaftsordnung braucht und der Entwicklungen des Diskurses um Globale Gesundheit seit Alma-Ata nachzeichnet.

Daran schließt sich direkt ein Artikel von Andreas Wulf an, der anlässlich des Geburtstags der WHO deren dringend reformbedürftigen Schwachstellen aufzählt und zugleich dafür plädiert, dass es sich doch lohnt, als kritische Zivilgesellschaft an einer Umgestaltung mitzuwirken.

Dian Blandina widmet ihren Artikel einer anderen supranationalen Institution: Sie zeichnet nach, wie die Konditionalitäten des Internationalen Währungsfonds (IMF) für eine Kreditvergabe auch während der Covid-19-Pandemie nicht aufgegeben wurden und welche Auswirkungen das auf Gesundheitssysteme in afrikanischen Staaten hat. Nadja Rakowitz erinnert uns im Anschluss daran, wie eine ganz ähnliche Schuldenpolitik vor wenigen Jahren das griechische Gesundheitssystem ausgehöhlt hat und welche Auswirkungen das bis heute hat.

Aus dem Englischen haben wir einen Artikel der Autor*innen Felix Stein, Katerini Tagmatarchi Storeng und Antoine de Bengy Puyvallée über »Global Health Nonsense« übersetzt, in dem sie auf den zunehmenden »Unsinn« im Diskurs um Globale Gesundheit hinweisen, der in der Sprache moderner Managementdiskure Erfolge suggeriert und reale Probleme verschleiert.

Das nachfolgende Positionspapier der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit, an dem der vdää* mitgearbeitet hat, befasst sich kritisch mit der Abwerbung von Gesundheitsfachkräften aus dem Ausland. Auch Thomas Gebauer setzt sich mit Fragen globaler Gerechtigkeit auseinander, wenn er die Idee einer globalen Bürger*innenversicherung vorstellt.

Unsere Empfehlungen sind in dieser Ausgabe besonders ausführlich, um Euch die Möglichkeit zu geben, Euch noch tiefer mit Themen der Globalen Gesundheit auseinanderzusetzen.

Das diesjährige Gesundheitspolitische Forum mit anschließender Jahreshauptversammlung wird vom 3. bis 5. November in Marburg stattfinden. Das Programm findet Ihr auf der Rückseite und Anmeldungen sind schon jetzt bei der Geschäftsstelle möglich. Ein* Mail genügt.

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Globale Gesundheit, Nr. 2, Juni 2023)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf