GbP 1-2023 Helmers

Diagnosen werden gemacht, nicht gefunden

Rezension von Kai-Uwe Helmers

Auf der JHV 2017 haben wir Norbert Donner-Banzhoff als kompetenten Referenten zum Thema alltägliche Versorgung – wissenschaftliche Erkenntnis kennengelernt. In der GbP 4/2017 erschien von ihm Artikel dazu mit dem Thema »Archäologie einer Beziehung zum Arzt-Patient Verhältnis«.1 Nun ist im Dezember 2022 ein Buch von ihm erschienen, das sich neben diesem Thema intensiv dem Prozess und den Umständen des Diagnostizierens in der deutschen Medizinlandschaft widmet. Es hat 356 Seiten und ist in 17 Kapiteln aufgebaut, die unabhängig voneinander gelesen werden können und es so ermöglichen, sich zunächst interessante Themen herauszugreifen. Es gibt online zusätzlich ein Register für vertiefende Anmerkungen und weiterführende Literaturangaben. Ein ebenfalls abrufbare PowerPoint-Präsentation ermöglicht es, die Inhalte für Seminare und Fortbildungsveranstaltungen leichter zugänglich zu machen.

Das erste Kapitel »Voraussetzungen« ist etwas sperrig und es braucht Mühe, die sich aber lohnt. In diesem Kapitel wird die zentrale Voraussetzung des Buches, dass Diagnosen gemacht und nicht gefunden werden, deutlich. Es geht also um die aktive Rolle der Ärzt*in beim Stellen der Diagnose und damit auch um die subjektive Dimension derselben. Diese wird man nicht »ausschalten« können, aber sie muss permanent reflektiert werden.

Für die, die es praktischer mögen, wäre das 2. Kapitel »Adaptive Intelligenz« als Einstieg gut. Es geht dabei um das Vorgehen während einer Konsultation im Bemühen um eine Diagnose. So schlägt Donner-Banzhoff ein induktives Streifen zu Beginn vor, dem das Abfragen getriggerter Routinen folgt und diesem wiederum – wenn nötig – ein deduktives Testen. Für viele Praktiker*innen mit langjähriger Erfahrung besonders im ambulanten und primärmedizinischen Bereich fasst es die alltägliche diagnostische Arbeit in Worte und zugleich hilft es Studierenden und weniger Erfahrenen dadurch, sich dieses Vorgehen bewusst zu machen und sich so bestenfalls kritisch und reflektiert anzueignen.

Aus meiner praktischen hausärztlichen Sicht sind die Kapitel 4 zu Studienevidenzen und 5 zu Wahrscheinlichkeiten besonders hervorzuheben. Sie stellen die rationale Basis des Diagnostizierens insbesondere in der primärmedizinischen Versorgung dar. Die meisten Ärzt*innen folgen diesen Prinzipien, wenn auch nicht immer bewusst. So kann mit dem Satz von Bayes2 mathematisch plausibel gemacht werden, dass ein offenes Screening auf eine seltene Erkrankung schädlich ist und keinerlei Benefit bringt. Die Vor-Test Wahrscheinlichkeit entscheidet über die Qualität des Ergebnisses einer eingeleiteten diagnostischen Prozedur (Labor Bildgebung aber auch Fragen und körperliche Untersuchungen usw.).

In den 17 Kapiteln vertieft Donner-Banzhoff das Wissen um die Diagnosestellung und deren Bedeutung. Er thematisiert u.a. Früherkennung, Normalität, die Analogie der Ärzt*in als Detektiv*in, er thematisiert Fehler und Pseudofehler und den Umgang damit, kritisiert die verkürzte biomedizinische Sichtweise als Hinterweltler-Medizin, die ihren Hort an den Universitäten hat, und er zieht in einem Kapitel Konsequenzen daraus für die Lehre.

Das Buch ist eklektisch, in einem positiven bereichernden Sinne. Es weitet nicht nur den diagnostischen Horizont. Kritisch sehe ich, dass die gesellschaftliche Bedingtheit von Diagnosen und Erkrankungen gesehen wird, aber eine Einbettung in eine sozioökonomische Kritik, die die Ursachen dafür in Blick nimmt, fehlt. So ist es einerseits interessant, dass es in den USA eine größere Bedeutung hat, ob ein Symptomenkomplex als neue Krankheit anerkannt wird. Im Falle einer Anerkennung müssen die privaten Versicherungen nämlich die Kosten für die Versorgung übernehmen. Eine Alternative dazu gibt es häufig nicht, da die Daseinsvorsorge in den USA nicht wie Deutschland als gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, die staatlich umgesetzt werden sollte. Eine neue Diagnose ermöglicht also eine Versorgung für Menschen, die einen Bedarf haben. Somit hat eine neue Diagnose auch die Funktion eine notwendige Versorgung zu ermöglichen.

Auf der anderen Seite finden die sozialen Determinanten von Krankheit und Gesundheit bei Donner-Banzhoff kaum Erwähnung. Es sterben weiterhin in Deutschland die Ärmsten zehn Jahre früher als die Reichsten. Zudem haben Ärmere noch erheblich weniger gute Jahre, bevor sie sterben. International sind diese Ungleichheiten weit stärker und überdeutlich. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck von kapitalistischer Produktionsweise und Reichtumsverteilung. Diese Ungleichheit wird durch verschiedene patriarchale Herrschaftsstrukturen und spezifische Diskriminierungen ausdifferenziert. Dem Autor ist das sicher bewusst und ich hätte mir hier eine aufzeigende und parteilichere Haltung gewünscht. Ich hätte mir ebenso eine explizit stärkere Abgrenzung zu den pseudowissenschaftlichen Diskursen während der Pandemie gewünscht, sowie ein explizite Verteidigung und Solidarität mit wissenschaftlichem Vorgehen, um das sich der Autor ohne Zweifel sehr bemüht gemacht hat.

Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Die soziale und kritische Sichtweise des Autors ist ohne Zweifel und wird besonders deutlich, wenn er schreibt: »Die Bezahlung von Ärztinnen mit Einschreibepauschalen oder einem festen Gehalt erscheint nach Jahrzehnten neoliberaler Definitionsmacht etwas altbacken, sie reduziert jedoch Interessenskonflikte und macht die Köpfe frei für die Überlegung, wie Patientinnen am besten versorgt werden (und nicht, wie sie am besten ausgenommen werden).« (S. 317) Selbstredend spricht er sich gegen das IGeLn aus, lobt das Sachleistungsprinzip und möchte die tendenzielle De-Ökonomisierung, die er darin erkennt, ausbauen.

Es ist die große Stärke dieses Buches, eine methodensichere Kritik auf Augenhöhe an der gegenwärtigen Medizin zu üben. Eine soziale Sichtweise wird dadurch gestärkt. Konsequent wird die diagnostische Welt vom Kopf auf die Füße gestellt. Es wird sehr gut differenziert zwischen den Bedingungen und Bedarfen in der Primärversorgung und der universitären Maximal- und Spezialversorgung. Dabei wird auch klar, dass es eine Fehlallokation gibt auf Kosten der Lehre an den Universitäten. Dieses Buch ist facettenreich und lädt ein, Perspektiven zu prüfen. Es liefert Werkzeuge für Kritik und Praxis. Es ist dabei eine zeitgenössische Kritik an der gegenwärtigen Medizin, wobei der Autor bemüht ist, die Medizin durch Kritik, Wissenschaft, Lehre und Didaktik zum Positiven zu verändern. Ich wünsche dem Buch ein großes und – wie könnte es auch anders sein – ein wohlwollend kritisches Publikum.

Kai-Uwe Helmers ist niedergelassener Allgemeinmediziner in Hamburg und Mitglied des vdää*.

Verweise

1 https://gbp.vdaeae.de/index.php/143-2017/2017-4/1064-gbp-4-2017-norbert-donner-banzhoff

2 Thomas Bayes (1701-1761) war ein englischer Mathematiker. Nach ihm ist das Bayes-Theorem benannt worden, das von bedingten Wahrscheinlichkeiten handelt. Es hatte großen Einfluss in vielen Bereichen, aber erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Bedeutung richtig erkannt worden.

Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023


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