GbP 1-2023 Negrete

Verlorene Jahre

Von Carmela Negrete

Das spanische Gesundheitssystem war einst das Vorzeigeprojekt der Sozialdemokratie, mit den Maßnahmen in der Finanzkrise wurde es arm gespart. Dagegen gibt es nun Widerstand.

Noch heute verstehen vor allem ältere Menschen in Spanien nicht, dass sie in die Kasse der Seguridad Social (soziale Sicherheit) zahlen oder gezahlt haben, und nun, da sie gebrechlich sind, wie alle anderen sehr lan­ge auf medizinische Behandlungen warten müssen und dass bestimmte Behandlungen gar nicht angeboten werden. Dass in Spanien alle unabhängig davon, ob sie irgendwo ein­gezahlt haben oder nicht, in gleichem Maße gesundheitlich versorgt werden, verdanken sie der Verfassung von 1978 und dem allge­meinen Gesetz zur Gesundheitsversorgung (Ley General de Sanidad) von 1986. das erstmals auch diejenigen, die keinen Arbeitsvertrag haben, absichert.

Erst während der Zweiten Republik wurde 1931 eine Krankenversicherung für Arbeiter eingeführt. Eine Rentenversicherung Eine Rentenversicherung gab es bereits. In Ausnahmefällen, in denen die öffentliche Gesundheit gefährdet war, sprang der Staat auch für die Ärmeren ein: bei Tuberkulose, Pandemien oder sexuellen Krankheiten. Unter der Franco-Diktatur hat es erst ab 1942 eine »verpflichtende Krankenversicherung« für Arbeiter und deren Familien gegeben. 1963 kam dann die bereits erwähnte Seguridad Social, die nicht nur die Krankenversicherung der Spanier regelte, sondern auch ihren Rentenbezug.

In den Siebzigern, nach dem Tod von Franco und der Einführung der Demokratie, wurde das Gesundheitssystem mit Steuergeld finanziert. Das sogenannte Beveridge-Modell, das in anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen bereits Standard war, sollte alle Bürger umfassend und kostenlos versorgen. Jede Comunidad Autónoma (spanische Region) erhielt die Kontrolle über das dortige Gesundheitssystem. Eine Gesundheitsversorgung für alle, auch für Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis sowie ein Netzwerk von Gesundheitszentren, das die Versorgung auch für Notfälle in der Nacht oder am Wochenende flächendeckend sicherstellte, machten das spanische Gesundheitssystem in den neunziger und zweitausender Jahren zum Vorzeigeprojekt der Sozialdemokraten.

Doch bereits in den neunziger Jahren fingen einige Politiker an, über die Finanzierbarkeit dieses Gesundheitssystems zu diskutieren. Ab Mitte der Neunziger wurden die ersten Privatisierungen durchgeführt. Und nach dem Immobiliencrash 2008 setzte der PSOE das Diktat der Troika um. Der damaligen Ministerpräsident Jose Luis Rodriguez Zapatero verkündete 2010 eine Reduktion des gesamten Haushalts um 15 Milliarden Euro sowie eine Senkung der Löhne aller öffentlichen Angestellten um fünf Prozent. Außerdem keine Anpassung der Renten an die Inflation, die Verringerung der Ausgaben für Medikamente und andere Maßnahmen. In den nächsten Jahren kamen mehr und mehr Kurzungen hinzu, beispielsweise die Streichung einer kostenlosen Behandlung von Migranten ohne Papiere. Zwischen 2010 und 2018 wurden allein beim Etat für das Gesundheitswesen rund zwei Milliarden Euro eingespart.

Laut einem Bericht von Amnesty International von 2020 führten die Sparmaßnahmen im nationalen Gesundheitssystem »zu einer Verschlechterung der Situation in Bezug auf die die Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit und Qualität der Gesundheitsversorgung«. Menschen mit geringen Einkommen, »mit chronischen Krankheiten, mit Behinderungen, Menschen, die sich in psychologischer Behandlung befinden, und alte Leute« seien besonders betroffen. Die Wartelisten für dringende Operationen wurden länger und die Prekarisierung des medizinischen Personals nahm zu.

Ärzte müssen seitdem immer mehr Patienten im gleichen Zeitraum versorgen. Die Zahl der unbefristeten Verträge wuchs von 28 Prozent auf 49 Prozent. Arbeitsverträge für einen Monat, eine Woche oder einen einzigen Tag sind seitdem nicht selten. Hinzukamen die niedrigen Gehälter Laut der Gewerkschaft der Ärzte in Granada verdienten Mediziner 2021 nach fünf Jahren Arbeitserfahrung im Schnitt 1.353 Euro netto ohne Gehaltszuschläge. Seit 2009 haben Ärztegehälter nach dieser Berechnung durchschnittlich 25 Prozentihrer Kaufkraft verloren. Gleichzeitig wuchs das Arbeitsvolumen um 2,5 Stunden pro Woche.

Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Ärzte und Krankenschwestern seit dem Anfang der Kurzungen ausgewandert sind. Laut Aussagen, dieda.9 Gesundheitsministerium gegenüber der Tageszeitung »EI Diario« machte, sollen es aktuell rund 8.000 Arzte sein, die mindestens sechs Jahre Studium in Spanien absolvierten und nun im Ausland tätig sind. Die spanische Regierung hat im Juli angekündigt, 67.000 Mitarbeiter der öffentlichen regionalen Kassen entfristen zu wollen. Diese Entscheidung ist auch gefallen, weil die Europä­ische Kommission im Mai festgestellt hatte, dass in Spanien im medizinischen Bereich zu wenige Mitarbeiter einen unbefristeten Vertrag haben. Das gilt insbesondere für Krankenpfleger, die in den rund 13.000 öffentlichen Gesundheitszentren arbeiten, die für hausärztliche Untersuchungen zuständig sind.

Heute haben rund elf Millionen Spanier eine private Rentenversicherung, was 19 Prozent der Bevölkerung ausmacht, also fast doppelt so viele wie in Deutschland. Dieser Prozess wurde durch die Kurzungen und das Chaos während der Pandemie noch beschleunigt. Zugleich gibt es eine seit 2012 relativ stabile Protestbewegung, die gegen die Privatisierung von Krankenhäusern auf die Straße geht. Die »weiße Flut« demonstrierte im letzten Jahr unter dem Motto: »Die öffentliche Gesundheitsversorgung verkauft man nicht, sondern man verteidigt sie!« Mittlerweile sind überall in Spanien dutzende Vereine und Plattformen entstanden. Die letzte große Demonstration fand im Dezember in Madrid statt. In dieser Region, die seit Jahr· zehnten von der konservativen Volkspartei Partido Popular regiert wird, ist die Privatisierung des Gesundheitsbereichs besonders weit vorangeschritten.

In Madrid hat das neue Jahr mit einem Ärztestreik begonnen, nachdem Isabel Diaz Ayuso, die Präsidentin der dortigen Regionalregierung, einen Plan vorgelegt hatte, hatte, der die Gesundheitszentren verschlanken soll. Außerdem soll hier nicht nur Personal überall in der Region eingesetzt werden, es sollen auch an mehreren Orten Notfälle ohne die Präsenz von Ärzten behandelt werden.

Carmela Negrete schrieb in konkret 8/22 über das europäische Grenzregime und sein immer brutaleres Vorgehen gegen Migranten und Migrantinnen.

(Quelle: Konkret 02/2023 – Wir danken für die Erlaubnis zum Nachdrucken.)

Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023


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