Für einen »Veganismus der Massen«
von Christian Stache
Christian Stache kritisiert an der kapitalistischen Produktionsweise, dass sie Tiere zu Produktionsmitteln mache und entwickelt dagegen – ebenfalls an Marxsche Kategorien anknüpfend – ein Konzept der »Ausbeutung der Tiere«, um so den Veganismus zu begründen. Auch hier wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier tendenziell aufgehoben.
Die Erkenntnis, dass die Ausbeutung der Tiere in den Züchtungsfabriken, Mastanlagen und Schlachthäusern ungerecht für die Tiere ist, den Klimawandel fördert, eine Brutstätte für neue Krankheiten ist und in Tateinheit mit der Ausbeutung von ArbeiterInnen geschieht, ist mittlerweile im Alltagsverstand der Menschen angekommen. Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung streiten jedoch darüber, wie man dem industriellen Schlachten begegnen soll.
Die vegane Lebensweise gehört zwar für nahezu alle AktivistInnen zum Kampf dazu. Aber ihr Stellenwert und ihre Funktion unterscheiden sich je nach Weltanschauung und Strategie. Für die einen antizipiert sie das Zusammenleben in einer besseren Welt. Für andere ist sie ein Weg, die bürgerliche Gesellschaft zu verbessern. Für Dritte bildet sie eine Komponente einer proletarischen Gegenkultur auf Höhe der Zeit, die es für den sozialistischen Klassenkampf zur Befreiung der Subalternen braucht, die nicht alle Homo sapiens sind.
Element einer präfigurativen Kulturrevolution
Ende September 2022 blockierten rund 100 Aktivisten im niedersächsischen Badbergen die Zufahrt zum Rinderschlachthof des größten deutschen Fleischkonzerns Tönnies. Auf ihren Transparenten waren unter anderem Forderungen und Slogans zu lesen wie »Menschen und Tier sind kein Kapital« oder »Agrarindustrie: Hauptschuld an Massenaussterben und Flächenverbrauch«. Organisiert wurde die Blockade vom Bündnis »Gemeinsam gegen die Tierindustrie«, einem überregionalen Zusammenschluss von Gruppen aus der Tierrechts- und Tierbefreiungs- sowie aus der Umwelt- und Klimabewegung.
Die Aktion war Teil einer Protestwoche im Oldenburger Land, einem der Hotspots der deutschen Fleischindustrie. Beim dazugehörigen Camp tauschte man sich mit Landwirtschafts-NGOs aus dem Grünen-Milieu über die Agrarwende aus. Es gab Workshops zum Thema »Ernährungssouveränität« genauso wie Aktionstrainings und einiges aus dem Werkzeugkasten linksliberaler Selbsterziehung.
Beim Camp genoss man »vegane Verpflegung« – eine Selbstverständlichkeit. Die meisten Aktivisten betrachteten zweifellos einen veganen Lebensstil als integrativen Teil ihrer Identität und politischen Arbeit. Aber die Inhalte und Aktionen der herrschaftskritischen und intersektionalen Strömung innerhalb der deutschsprachigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sind nicht allein darauf ausgerichtet. Das Ziel ist vielmehr die »totale Befreiung« von einer Kultur und Politik der Herrschaft.
»Gemeinsam gegen die Tierindustrie« ist derzeit das vielleicht größte Projekt dieser Bewegungsfraktion. Für sie ist Veganismus in der Regel Teil einer präfigurativen kulturrevolutionären Politik, wie sie auch in zahlreichen anderen sozialen Bewegungen praktiziert wird. Man konsumiert die Tiere nicht, die man befreien oder zumindest mittelfristig von ihrem jetzigen Joch erlösen will. Man lebt vegan als eine Vorwegnahme des Richtigen im Falschen, als Modell für eine Zukunft, in der auch anderen Spezies Gerechtigkeit angediehen lassen wird.
Friederike Schmitz, eine der Führungsfiguren dieser Strömung, formuliert in ihrem neuesten Buch Anders satt den »Ausstieg aus der Tierindustrie« und »eine umfassende Transformation von Landwirtschaft und Ernährung« mittels radikaler Reformpolitik im Staat und in Konfrontation mit Konzernen als Strategie der Bewegung. Schmitz‘ und ihre Mitstreiter sind die KautskyianerInnen der Tierbewegungen: Sie bilden gegenüber den beiden anderen Lagern das politische Zentrum.
»Tierfreundliche« Modernisierung des Kapitalismus
Den rechten, liberalen Flügel stellen überwiegend Tierrechts- und Tierschutz-NGOs. Der deutsche Ableger von »People for the Ethical Treatment of Animals (PETA)« zählt ebenso dazu wie ProVeg Deutschland. Hier tummeln sich auch die Anhänger- und zahlreiche VertreterInnen bürgerlicher Tierethik verschiedener Couleur, deren Horizont die Moral und das Verhalten des bürgerlichen Marktsubjekts bilden.
ProVeg Deutschland strebt laut Gründer und Präsident Sebastian Joy an, das Greenpeace auf dem Feld der Ernährung zu werden. Anders als bei den anderen beiden Strömungen der Tierbewegungen, dreht sich bei Joy und den Seinen buchstäblich alles ums Essen von Pflanzen. Ihr Ziel ist es, »den globalen Tierkonsum bis 2040 um 50% zu reduzieren und damit das Ernährungssystem nachhaltiger, tierfreundlicher, gesünder und gerechter zu machen«.
Der Komparativ ist hier entscheidend. Es geht nicht darum, eine tierfreundliche, nachhaltige oder gerechte Produktion und Gesellschaft zu erkämpfen und gegen deren dominante Kräfte durchzusetzen. Vielmehr sollen Innovationen und politische Reformen die Herstellung und den Konsum pflanzlicher Lebensmittel zu Lasten des Fleischkonsums fördern. Es geht um eine marktkonforme Modernisierung der bürgerlichen Gesellschaft im Namen der Tiere.
Dazu vergibt die ProVeg etwa ein Label für vegan-vegetarische Waren und berät Konzerne wie die Supermarktkette Lidl bei der Produktentwicklung. Auch bei der Entstehung einer auf pflanzlichen Produkten basierenden Branche und der entsprechenden Märkte wirkt ProVeg mit. InvestorInnen und UnternehmerInnen bietet die NGO eine Bühne bei verschiedenen Konferenzformaten, zu deren PartnerInnen auch Fleischunternehmen wie die Rügenwalder Mühle gehören, und mit der »führenden veganen Publikumsmesse«, der sogenannte Veggieworld, promotet sie die schöne neue Warenwelt und die entsprechenden Lebensstile.
Mehr Konsum pflanzenbasierter Waren wird hier per se als sozialer Fortschritt missverstanden und »das Essen auf unseren Tellern als genialer Multiproblemlöser« imaginiert. Durch »eine stärker pflanzliche Ernährung« ließen sich Joy zufolge »mehrere der drängendsten globalen Herausforderungen unserer Zeit – wie Tierleid, Klimawandel, Welthunger und Zivilisationskrankheiten – erfolgreich angehen«. Tatsächlich ist es nicht falsch, dass eine vegane Ernährung dazu beitragen könnte, all diese Probleme zu lösen. Aber dafür bräuchte es zunächst einmal eine andere Produktionsweise und andere Machtverhältnisse im Staat und in der Gesellschaft.
ProVeg arbeitet hingegen dem grün-konservativen Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir, zu, der gar nichts gegen die Tierausbeutung, geschweige denn den neoliberalisierten Kapitalismus hat. Statt auf Konfrontation setzt ProVeg auch auf die Kooperation mit Konzernen. Jens Tuider, internationaler Direktor der NGO, erklärt: »In einer Welt, in der Privatwirtschaft eine solch dominante Rolle spielt, ist ein globaler Transformationsprozess nur mit der Wirtschaft möglich.«
Eine sozialistische Lebensweise in spe
Der linke Flügel der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung hält von dieser auf Konsum, der Schaffung neuer Waren und Märkte sowie auf Bewegungskorporatismus angelegten Strategie herzlich wenig. Die verschiedenen Varianten des »Vegan for Profit«, kritisiert etwa John Lütten in seinem Beitrag zur Zeitung Das Schlachten beenden, die die Tierrechtsgruppe Zürich herausgegeben hat, lenkten »das Streben nach einem gesellschaftlichen Wandel in konformistische, marktförmige Bahnen«. Das Versprechen, die Welt durch Konsum zu einem besseren Ort zu machen, sei so alt wie der Kapitalismus selbst.
Tatsächlich lehnen die SozialistInnen in der Tierbefreiungsbewegung wie das deutsch-schweizerische »Bündnis Marxismus und Tierbefreiung« auch nicht vegane Produkte, neue Technologien zu ihrer Erzeugung oder den Veganismus ab. Nur sind diese nicht der Dreh- und Angelpunkt ihrer Theorie und Praxis. Ihnen geht es vielmehr darum, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, der Natur und der Tiere durch einen revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsverhältnissen abzuschaffen und alle drei von der Herrschaft des Kapitals zu befreien.
Frei nach Überlegungen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci teilen sozialistische TierbefreierInnen die Überzeugung, dass die Revolutionen nicht in »der Küche« gemacht werden, sondern »die Revolutionen (…) die Ernährung« verändern. Die Ernährung ist Gramsci zufolge vielmehr »eine der Ausdrucksweisen der gesellschaftlichen Verhältnisse«. In anderen Worten: Die soziale Produktionsweise manifestiert sich massenkulturell darin, was und wie wir essen.
Dass sich heute beim Essen nach wie vor alles ums Fleisch dreht, ist also kein Zufall. Es entspricht bürgerlichen Eigentumsverhältnissen, in denen die Tiere Produktionsmittel sind, die Privatunternehmen gehören, und nach Belieben zu Esswaren zwecks Profitakkumulation verarbeitet werden. Fleischprodukte sind gewinnträchtiges Warenkapital, dessen Realisierung die allgegenwärtige Fleischkultur stützt.
Unter solchen historischen Bedingungen muss eine vegane Lebensart ein kulturelles Mittel im Klassenkampf für die Befreiung der Tiere sein. Die brasilianische Feministin und Kommunistin Maila Costa sieht etwa im »Veganismus der Massen«, wie er in Südamerika entwickelt wird, eine »konkrete Utopie« für die Lohnabhängigen und Marginalisierten. Als Teil einer modernen, gegenkulturellen proletarischen Lebensweise könnte er die Solidarität mit den Tieren zum Ausdruck bringen, reale Alternativen für die Landwirtschaft, Nahrungsmittelproduktion und Ernährung anbieten und schließlich das Klassenprojekt eines veganen Sozialismus kulturell stützen. Für dessen Verwirklichung, insistiert der italienische Tierbefreiungsphilosoph Marco Maurizi in seinem Buch Jenseits der Natur, müsse aber »die Frage nach der Kontrolle über die Produktionsmitteln« gestellt werden.
Christian Stache ist promovierter Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er lebt und arbeitet in Hamburg. 2017 ist sein Buch Kapitalismus und Naturzerstörung. Zur kritischen Theorie des gesellschaftlichen Naturverhältnisses erschienen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Marxismus, Ökologie, Kapitalismusgeschichte und das Mensch-Tier-Verhältnis.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023)