Babykiller
Der endlose Skandal um Muttermilch-Ersatzprodukte - von Bernhard Winter
»Gigant der Skandale« titelte die Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung 2019 wegen der zahlreichen Vorwürfe, mit denen sich der Vorstand des in der Schweiz ansässigen Nestlé-Konzerns in den letzten Jahrzehnten auseinandersetzen musste.1 Sei es, dass der Konzern als Vorreiter der Wasserprivatisierung u.a. für Dürren in Pakistan verantwortlich gemacht wurde, sei es, das großflächige Abholzen des Regenwaldes zugunsten von Palmölplantagen, die Greenpeace kritisierte, oder unnötige Tierversuche bei der Entwicklung von Kosmetika, die Nestlé vorgeworfen werden.2 Diese Liste ließe sich noch durch zahlreiche weitere Skandale ergänzen. Ein Skandal sticht dabei wegen seines langen wirkmächtigen Nachhalls hervor. Seit 50 Jahren steht der Konzern wie auch andere Nahrungsmittelmultis wegen der Marketingmethoden bei der Distribution von Säuglingsnahrung in der Kritik.
Die Entwicklung und Produktion von Babynahrung ist eng verwoben mit der Konzerngeschichte. So legte Henri Nestlé mit seinem in Großproduktion hergestellten »Kindermehl«, ein Muttermilch-Ersatz (Formula-Milch), 1867 die Grundlage für den heutigen multinationalen Konzern. Das Logo des Konzerns ist dann auch ein Vogel, der zwei im Nest sitzende Jungen füttert. Neu- und Weiterentwicklungen ließen in den folgenden Jahrzehnten den Markt für Säuglingsnahrung kontinuierlich anwachsen. Ende der 1960er Jahre häuften sich allerdings die Berichte von Wissenschaftler*innen, die in der unsachgemäßen Verwendung von industriell hergestellten Milch-Ersatzprodukten in ärmeren Ländern eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung von Babys sahen. Sie machten Werbepraktiken von Nahrungsmittelmultis für den Tod zahlreicher Kinder verantwortlich. 1974 erschien auf Englisch eine Broschüre des Journalisten Mike Muller mit dem Titel »The Baby Killer«. Diese wurde von der schweizerischen studentischen Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern unter dem Titel »Nestlé tötet Babys« in abgeänderter Form auch auf Deutsch publiziert.3
Bei der Kritik ging es nie darum, Säuglingsnahrung aus den Verkaufsregalen zu verbannen. Ihr praktischer und bei adäquater Verwendung mitunter lebensrettender Nutzen war und ist unumstritten. Thematisiert wurden die manipulativen Vermarktungsmethoden, die sich, um neue Märkte zu generieren, gezielt an Mütter in ärmeren Ländern wandten, die eigentlich stillen wollten und konnten. Dies stand in diametralem Gegensatz zur Behauptung der Konzernleitung, einen Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit zu leisten. Nestlé wurde dabei ein besonders aggressives Werbeverhalten vorgeworfen. Neben Radiosendungen und Plakaten wurden sogenannte Milchschwestern eingesetzt. Dabei handelte es sich um Konzernmitarbeiterinnen, zum Verwechseln ähnlich wie Krankenschwestern gekleidet, die Mütter vom Stillen abbringen und durch Probepackungen vom Gebrauch der Formula-Milch, insbesondere dem Nestlé-Produkt Lactogen, abhängig machen sollten. Es wurde eine Überlegenheit der Milch-Ersatzprodukte gegenüber dem Stillen suggeriert, die offensichtlich wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprach: In vielen armen Regionen der Welt ist die Anwendung von Milch-Ersatzprodukten wegen der mangelhaften hygienischen Verhältnisse oder der fehlenden Möglichkeit, Wasser abzukochen, für die Säuglinge lebensgefährdend. Hinzu kommt, dass wegen mangelnder finanzieller Möglichkeiten der Eltern, die Kunstnahrung häufig gestreckt wird. Mögliche Folgen sind unter anderem bedrohliche Diarrhoe, erhöhte Infektanfälligkeit und Marasmus. Es ist davon auszugehen, dass dies millionenfacher Tod bedeutete.
Donnerndes Eigentor
Nestlé verklagte gerichtlich die Mitglieder der Berner Arbeitsgruppe wegen übler Nachrede. Deren Mitglieder wurden dann auch zu jeweils 300 € SFR verurteilt. Allerdings erwies sich dieses Urteil als donnerndes Eigentor des Konzerns, da das Gericht zwar den Titel der Broschüre beanstandete aber deren Inhalt explizit als korrekt bezeichnete und den Multi zu einer Änderung seines Marketings aufforderte.4 Rund um diesen Prozess wurde in den westlichen Ländern das Thema aufgegriffen, es bildeten sich Aktionsgruppen, es gab unzählige Veranstaltungen, Filme wurden gedreht (z.B. Peter Krieg: Flaschenkinder) und das Thema in den Medien diskutiert. Es bildet sich als internationales Netzwerk der Konzernkritiker die Infant Formula Action Coalition (heute unter Corporate Accountibility International agierend), die 1977 zu einem vielbeachteten Nestlé-Boykott aufrief. 1981 erließ die World Health Assembly, das höchste Organ der WHO, einen internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilch-Ersatzprodukten, der Werbung oder das Verteilen von Gratisproben untersagte.
Wie stellt sich die Situation heute dar? Eine Studie der WHO und Unicef zufolge, die im Februar 2022 publiziert wurde, manipulieren viele Säuglingsnahrungshersteller weiterhin im großen Ausmaß Eltern. Die Hälfte aller 8.000 in acht Ländern befragten Mütter war einer aggressiven Werbung durch Nahrungsmittelkonzerne ausgesetzt gewesen.5 Verantwortlich seien ein halbes Dutzend weltweit führender Konzerne, die in der Studie nicht benannt werden, die aber alle ein vergleichbares Marketing betreiben.
Lediglich 25 Länder haben den Verhaltenskodex der WHO aus dem Jahr 1981 vollständig umgesetzt.6 Deutschland gehört nicht dazu. Ein WHO-Bericht vom April 2022 dokumentiert akribisch den umfassenden Einsatz personalisierter digitaler Werbung beim Vertrieb von Säuglingsnahrung.7 Mit den Beteuerungen der Nahrungsmittelkonzerne, auf Werbung verzichten zu wollen, ist es also nicht weit her.
Die WHO geht heute davon aus, dass eine Optimierung des Stillens, was im Umkehrschluss den geringeren Einsatz von Milch-Ersatzprodukten bedeutet, die jährliche Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren um ca. 820.000 Leben reduzieren könnte.8 Dem steht allerdings die Bedeutung eines ständig wachsenden Marktes mit Milch-Ersatzprodukten gegenüber, dessen weltweites Volumen von der WHO mit 55 Mrd. US-$ berechnet wurde. Durchaus ein Anreiz für konkurrierende Nahrungsmittelmultis, den Kodex wann immer möglich zu umgehen.
Bernhard Winter ist niedergelassener Gastroenterologe in Offenbach und Co-Vorsitzender des vdää*
Verweise
- SZ-online 06.06.2019; zuletzt aufgerufen 21.03.2023
- Handelsblatt-online 05.10.2019; zuletzt aufgerufen 21.03.2023
- Wikipedia-Eintrag: Nestlé tötet Babys; zuletzt aufgerufen 21.03.2023
- Der Spiegel 27/1976: Kleiner David
- https://www.who.int/news/item/22-02-2022-more-than-half-of-parents-and-pregnant-women-exposed-to-aggressive-formula-milk-marketing-who-unicef
- Zeit-Online 23.02.2022: WHO wirft Firmen skrupelloses Marketing vor; zuletzt aufgerufen 23.03.2023
- https://www.who.int/news/item/28-04-2022-who-reveals-shocking-extent-of-exploitative-formula-milk-marketing; zuletzt aufgerufen 22.03.2023
- https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/infant-and-young-child-feeding; zuletzt aufgerufen 22.03.2023
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023)