Schluss mit »spannender Zielgruppe«?
Jonas Schaffrath über Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel
1. Die Kaufkraft der heimlichen Familienoberhäupter
»Die Zielgruppe verfügt über mehrere Milliarden Kaufkraft und Mitsprache bei Kaufentscheidungen der Eltern.« [1] – So bewirbt die spread blue educationmarketing gmbh ihre »zielgerichteten und effizienten Werbemaßnahmen«, die Kinder und Jugendliche ab dem stattlichen Alter von 3 Jahren erreichen sollen. Vom Malheft für Kleinkinder bis zur Lobkarte für Schüler*innen kann altersgerecht Werbung durch Kund*innen platziert werden – unter ihnen namhafte Lebensmittelkonzerne wie Nestlé, McDonald’s und funny-frisch [2], die gerne ihre süßen und salzigen Produkte an die Frau, den Mann oder eben das noch brabbelnde Kleinkind bringen möchten. Eine andere Marketingfirma schätzt 2 bis 5-jährige »kids« als »spannende Zielgruppe«, »heimliche Familienoberhäupter« mit immenser direkter und indirekter Kaufkraft [3].
2. Was Kinder essen
Zumindest grundlegend scheinen schon junge Kinder zu spüren, was ihnen hinsichtlich Ernährung gut tut – und das mehr als so manche Erwachsene. Über Hunger und Sättigung können schon Kleinkinder die Energieaufnahme selbst regulieren und Nahrungsmengen auf ihre physiologischen Bedürfnisse abstimmen [4]. Bereits Säuglinge entwickeln Nahrungspräferenzen. Die Vielfalt von Nahrungsmitteln und gemeinsame Mahlzeiten bieten für Kinder so schon früh ein Lernfeld, das ihre Ernährung das Leben lang prägen kann.
Braucht es zur vollwertigen Ernährung Bärchenwurst, Schulmilch und »Kindercerealien«?
In den 2023 veröffentlichten Handlungsempfehlungen »Ernährung und Bewegung im Kindesalter« des bundesweiten Netzwerks »Gesund ins Leben« – Teil des Nationalen Aktionsplans IN FORM des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) – heißt die deutliche Antwort auf die Frage: Nein. »Eine ausgewogene Ernährung gesunder Kleinkinder kann ohne speziell an Kinder gerichtete Produkte erreicht werden. Spezielle Milchgetränke für Kleinkinder sind grundsätzlich nicht notwendig.« Auch den aus Kindergartenrucksäcken und Mülleimern nicht mehr wegzudenkenden »Quetschies« wird eine Absage erteilt: »Pürierte Lebensmittel […] aus quetschbaren Kunststoffbeuteln sind nicht empfehlenswert. Sie sind häufig energie- und zuckerreich, erhöhen bei regelmäßigem Verzehr das Risiko für Karies und Übergewicht und können die Gewöhnung an eine zum Kauen anregende, gröbere Textur der Nahrung erschweren [4]«.
Auch die Verbraucherzentralen stellen mit der Publikation »Kinderlebensmittel: Extrawurst für den Nachwuchs?« fest: Spezialprodukte für Kinder sind nicht empfehlenswert. »Vitamine sollten in der ausgewogenen Ernährung stecken und nicht in Naschereien. Spezielle Kindergetränke mit Zucker oder Getränke mit Süßstoffen sind dann überflüssig.« Und: »Kinder sollten möglichst wenig mit Werbung für spezielle Kinderprodukte in Kontakt kommen« [5].
Was ist also dran an und vor allem drin in den speziell an Kinder adressierten Lebensmitteln? Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte 2015 eine Empfehlung für Europa [6] dazu, wieviel Fett, Zucker, Salz und Kalorien in Nahrungsmitteln enthalten sein dürfen, die für Kinder beworben werden können. Dezidiert werden für 17 Lebensmittelgruppen vom Speiseeis über Frühstücksflocken bis zum verarbeiteten Fleisch die Grenzwerte für Fett, gesättigte Fettsäuren, Gesamtzucker, zugefügten Zucker, Süßstoffe, Salz und Kalorien aufgelistet, bei deren Überschreitung ein Marketing für die Lebensmittel nicht mehr zulässig ist. In einer Marktstudie untersuchte 2021 die Verbraucher*innen-Organisation foodwatch die an Kinder beworbenen Lebensmittel der führenden Lebensmittelunternehmen. Das Ergebnis: Von den 283 untersuchten Nahrungsmitteln erfüllten über 85% die Empfehlungen der WHO nicht. Comicfiguren auf den Frühstücksflocken, das Fußball-Gewinnspiel der Softdrink-Herstellerin, Bastelanleitung auf der Schokoriegel-Internetseite, Spielzeugzugaben in der Burger-Tüte, Softdrinks auf Instagram-Kanälen – alle diese kreativen Marketingideen sollten Produkte mit zu viel Zucker, Salz oder Fett attraktiver machen. Problematisch zudem: Seit einer ähnlichen Studie 2015 war der Anteil der ungesunden beworbenen Lebensmittel trotz Selbstverpflichtungen der Industrie nur unzureichend reduziert, um weniger als 5% [7].
3. Ernährung, Gesundheit und Chancengleichheit
Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren essen in Deutschland im Schnitt weniger als halb so viel Obst und Gemüse, aber mehr als doppelt so viele Süßwaren oder Snacks wie empfohlen [9]. Das bleibt nicht ohne Folgen: Laut Analysen der zweiten Welle der KiGGS-Studie aus den Jahren 2014-2017 mit über 3.500 Teilnehmenden von 3 bis 17 Jahren sind in Deutschland über 15% der Kinder und Jugendlichen übergewichtig, knapp 6% adipös. Bei niedrigem sozioökonomischem Status sind Übergewicht und Adipositas zudem häufiger [10]. Ein weiterer Anstieg dieser Zahlen zeichnet sich im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ab.
»Die Ernährungsweise, die im Kindesalter erlernt wird, hat sehr weitreichende Auswirkungen auf Körperfunktionen, Leistungsfähigkeit, die lebenslange Gesundheit und Krankheitsrisiken«, sagt Berthold Koletzko, Pädiater und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit am Dr. von Haunerschen Kinderspital München [9].
Versteckter Hunger oder wie Armut zu Mangelernährung führt
Doch Hoch- und Übergewicht mit einem Zuviel an Energie zeigen nicht das ganze Bild einer fehlernährten jungen Generation: Häufig liegt auch eine Mangelernährung vor. Ernährungswissenschaftler:innen wie Konrad Biesalski von der Universität Hohenheim sprechen von einem zunehmenden Phänomen des »versteckten Hungers«. Inmitten eines Überflusses an energiereicher Nahrung in einem reichen Industriestaat wie Deutschland leiden vor allem Kinder und Jugendliche in finanziell ar- men Familien an einer Unterversorgung mit Mikronährstoffen wie Eisen, Zink, Jod oder Vitamin D. Die Folgen können Wachstumsverzögerung und eingeschränkte kognitive Entwicklung sein, was sich bereits in Schuleingangsuntersuchungen nachweisen lässt [11]. Der Ernährungsaktivist und ehemalige foodwatch-Vorsitzende Martin Rücker beschreibt einen Teufelskreis aus dieser Mangelernährung und Armut. Kinder, die in finanzieller Armut aufwachsen und versteckt hungern, werden in ihrer kognitiven Entwicklung eingeschränkt, sind im Bildungssystem benachteiligt und haben ein größeres Risiko, auch im weiteren Leben arm zu sein und ihre eigenen Kinder nicht ausgewogen ernähren zu können. Tatsächlich lag der Hartz-IV-Tagessatz für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke unter dem Wert, den die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als notwendig für eine vollwertige Ernährung erachtete [12]. Eine Alternative für die nicht erschwingliche ausgewogene Ernährung sind in Situationen finanzieller Armut häufig »Sattmacher«, die zwar energiedicht aber eben nicht nährstoffreich sind. Von einer Verschärfung dieser Situation durch die Preisanstiege bei Lebensmitteln im Zusammenhang mit dem Beginn des Ukraine-Krieges kann ausgegangen werden. Es braucht dringend bedarfsgerechte Tagessätze und eine ausgewogene Gemeinschaftsverpflegung etwa in Kitas, Schulen oder Krankenhäusern. [Vgl. 11]
Ernährung und Epigenetik
Die Verbindung aus Fehlernährung, chronischer Krankheit und sozialer Benachteiligung endet nicht am individuellen Lebensende. Lange sind die epigenetischen Auswirkungen von ungesunder Ernährung auf nachfolgende Generationen, etwa auf die Entstehung von Adipositas oder Diabetes, untersucht [13]. So lassen sich noch bei Enkelkindern von mangelernährten Menschen erhöhte Risiken für metabolische und kardiovaskuläre Krankheiten nachweisen [14]. Die soziale Ungleichheit des versteckten Hungers brennt sich also über Generationengrenzen hinweg in unsere Gesellschaft ein.
Zynisch liest sich in diesem Zusammenhang die vor einigen Jahren in Grundschulen verteilte Unterrichtsmappe des Softdrink-Herstellers Capri Sonne. »Fit, fair und schlau« prangt neben lachenden Kindern und Basketbällen auf dem Titel. Ungesunde Ernährung – wie ebenjene Softdrinks – macht Kinder krank, vertieft und zementiert bestehende soziale Ungerechtigkeiten und reduziert nachhaltig Bildungschancen. Wie schafft es die Lebensmittelindustrie, ihre ungesunden Produkte trotzdem in der Mitte von Gesellschaft und Einkaufswagen zu platzieren?
4. Kindermarketing für Lebensmittel
Der sportlich anmutende Toni der Tiger lacht mit hochgestrecktem Daumen von der Frühstücksflocken-Packung seinen potentiellen Konsument*innen zu. Süße Comicfiguren auf der Verpackung, eingängige Werbe-Jingles, Kindergartenmarketing und Influencer*innen, die auf Tiktok eine Torte aus namhaften Schokokeksen backen – das Spektrum von Marketing für Kinder ist groß. Eine von foodwatch zitierte Studie der Unternehmensberatung JP Morgan kann erklären, warum 92% der Lebensmittelwerbung für Kinder für fast food, Snacks oder Süßigkeiten geschaltet wird: Liegen bei Obst und Gemüse die Gewinnmargen bei unter 5%, können etwa mit Frühstücksflocken, Snacks oder Keksen über 18% Profitabilität erreicht werden [15]. Über eine Milliarde Euro ließ sich die Lebensmittelindustrie in Deutschland 2021 Süßwarenwerbung kosten [16].
Die Rechnung geht auf: Täglich ist jedes Kind im Schnitt mit 15 Werbespots für Lebensmittel mit zu hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt konfrontiert [17]. Ein Bereich, dervon Eltern und Politiker*innen weitestgehend unterschätzt wird, ist nicht gekennzeichnete Werbung auf social media-Kanälen wie Instagram oder Tiktok. Für die Lebensmittelindustrie haben sich ganz neue Möglichkeiten erschlossen, wie Produkte direkt in den »Dreh- und Angelpunkt der heutigen Jugendkultur« [15] platziert werden können. »Da die sozialen Medien für Kinder und Jugendliche ein Ort der privaten Kommunikation, des Austauschs mit Freunden und auch ein Mittel der persönlichen Entfaltung sind, können Eltern naturgemäß viel weniger Kontrolle ausüben als beispielsweise bei der Auswahl des Fernsehprogramms.«, kritisiert foodwatch in ihrem 2021 veröffentlichen Junkfluencer-Report, der die Problemlage analysiert [15]. Das Influencer-Marketing löst das klassische Werbekonzept in TV und gedruckten Medien ab, und das mit Erfolg: Jede*r zweite 16- bis 19-Jährige hatte einer von foodwatch zitierten repräsentativen Studie zufolge in den letzten zwölf Monaten ein Produkt aufgrund der Empfehlung von Influencer*innen gekauft.
Die Unternehmen »sabotieren die Bemühungen vieler Eltern, ihre Kinder für eine gesunde Ernährung zu begeistern«, kritisiert foodwatch [9]. Eine Aussage, die viele Betreuungspersonen mit alltäglichen Diskussionen an der Supermarktkasse nachvollziehen können.
5. Ernährungspolitik der letzten Jahre: Die Mär von der Selbstverpflichtung
Julia Klöckner (CDU) wollte zwar Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft sein, jedoch »auf jeden Fall keine Ernährungspolizistin« [18]. In ihre Amtszeit fallen Bestrebungen zu verschärften »Verhaltensregeln« für Lebensmittelwerbung für Kinder, runde Tische mit der Lebensmittel- und Werbeindustrie, erbitterte Abwehrkämpfe und schließlich als Konsequenz die vermeintliche Lösung der freiwilligen Selbstverpflichtung der Herstellerfirmen.
»Appelle an die Industrie reichen nicht aus«, sagt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), einem Bündnis aus fast zwei Dutzend Fachgesellschaften (darunter die pädiatrischen Verbände bvkj und DGKJ), bezüglich der Zuckerreduktion in Softdrinks [19]. »Die Bundesregierung ist mit ihrer Strategie der freiwilligen Selbstverpflichtung gescheitert«.
Selbstverpflichtungen und deren Nicht-Einhaltung treffen gesellschaftlich Benachteiligte, oft Leitragende von bestehenden Ernährungsungleichheiten, besonders. »Die Freiwilligkeit lässt vor allem sozial schwächere Familien und Kinder zurück«, sagt etwa Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. »Wir wissen, was wir ändern müssen, aber wir ändern nichts.« So nehme die Krankheitslast durch ernährungsbedingte Krankheiten weiter zu [21].
Wissenschaftlich lässt sich die Überlegenheit von gesetzlichen Maßnahmen gegenüber den Selbstverpflichtungen der Industrie mittlerweile nachweisen: So ist in Ländern mit gesetzlichen Beschränkungen des Kindermarketings der Konsum von Junkfood im Zeitraum von 2002 bis 2016 um 8,9 Prozent gesunken, in Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen gleichen Zeitraum jedoch um 1,7 Prozent gestiegen [22].
6. Endlich ein Meilenstein gegen Fehlernährung?
Auf Seite 45 des Koalitionsvertrages zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021-2025 steht der nüchterne Satz »An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett-und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben« [23]. Ein Jahr nach der Bundestagswahl ist von konkreten Schritten oder Gesetzesinitiativen noch nichts zu sehen.
Der schon seit Jahren bestehende zivilgesellschaftliche Druck erhöht sich weiter, vor allem auf den Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir (GRÜNE). Im Februar 2022 fordert eine breite Initiative aus den DANK-Mitgliedsfachgesellschaften, dem Verbraucherzentrale-Bundesverband sowie der AOK in einem policy brief umfassende Werbeeinschränkungen gemäß des WHO-Nährwertprofilmodells. Im August unterzeichnen mehr als 300 Kinder- und Jugendärzt*innen einen Appell an den Bundesernährungsminister zur umfassenden Regulierung von Junkfood-Werbung [24], wenig später folgt ein gemeinsamer Apell durch ein breites Bündnis von Fachgesellschaften und Verbraucher*innenschutzorganisationen, öffentlichkeitswirksam vertreten durch den Starkoch Jamie Oliver, die im Koalitionsvertrag umrissenen Maßnahmen nun umfassend umzusetzen.
Am 27. Februar 2023 schließlich geht Özdemir mit einem Gesetzesentwurf vor die Presse. »In der Kindheit werden die Grundlagen für das weitere Leben gelegt, die Kindheit entscheidet oft über die Chancen im Erwachsenenleben.« Bisherige freiwillige Selbstverpflichtungen und Branchenregeln hätten Kinder nicht effektiv vor negativen Werbeeinflüssen geschützt [16].
Der »Entwurf eines Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes – KWG« sieht Einschränkungen vor für Werbung »in allen für Kinder relevanten Medien« für Lebensmittel mit zu hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt, wenn diese »nach Art, Inhalt oder Gestaltung an Kinder adressiert ist (zum Beispiel durch Kinder als Darsteller, Kinder adressierende Aufmachung oder speziell auf Kinder abzielende Sprache)« oder »Kinder aufgrund des Werbeumfeldes oder des sonstigen – zum Beispiel räumlichen – Kontextes der werblichen Beeinflussung ausgesetzt werden (zum Beispiel im Umfeld von Kinder- und Familiensendungen, in sozialen Medien oder im Umkreis von Schulen etc.)«.
Breite Zustimmung kommt von Verbänden: »Die von Minister Özdemir auf den Weg gebrachten Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel sind ein Meilenstein im Kampf gegen Fehlernährung und Übergewicht«, sagt Luise Molling von foodwatch [25]. Auch ein breites Bündnis aus unter anderem AOK-Bundesverband, der DANK, dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und medizinischen Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin (DGKJ) begrüßen den Vorstoß. Das Vorhaben des Ministers könne ein Durchbruch im Kampf gegen ernährungsbedingte Krankheiten werden und Deutschland international zum Vorreiter machen [26].
Der angekündigte Entwurf würde sich nach dem Nährwertprofilmodell der WHO richten und sich somit an einer Kernforderungen der DANK-Initiative orientieren. Auch hinsichtlich der Werbungsformen folgt der Entwurf mit der Formulierung »in allen für Kinder relevanten Medien« inklusive social media- und Influencer-Kanälen dem policy brief der Initiative, genauso wie bei der Außenwerbungs-»Bannmeile« von 100m rund um Einrichtungen für Kinder.
Lediglich Einschränkungen bei Produkt- und Verpackungsgestaltung (etwa Bärchenwurst oder der »Tiger Toni«), wie von der DANK gefordert, werden in den bisher verfügbaren Veröffentlichungen des BMEL zum Gesetzesentwurf nicht konkret genannt. In der Markstudie von foodwatch weisen viele der untersuchten Lebensmittel diese Form des Marketings auf. Falls die Produktgestaltung von den Einschränkungen ausgenommen würde, könnten also Comicfiguren weiterhin um die Sympathie von Kleinkindern im Einkaufswagen buhlen.
»Jetzt kommt es darauf an, dass das Gesetz innerhalb der Ampelkoalition – insbesondere vom Koalitionspartner FDP – nicht verwässert wird und der Kinderschutz gegen die Interessen der Werbewirtschaft und der Junkfood-Industrie durchgesetzt wird«, sagt Gesundheitsaktivistin Luise Molling [25]. »Wir haben die Rückendeckung eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses von Wissenschaft und Ärztinnen und Ärzten über Krankenkassen bis hin zu Elternvertretungen, die nachdrücklich eine umfassende Regulierung fordern.«, betont Özdemir auf der Pressekonferenz zuversichtlich [17], und gerade so als wolle er sich gegen den Widerstand wappnen: »Eine große Mehrheit der Bevölkerung befürwortet unsere Pläne.« Die Koalitionsparteien SPD und FDP erwähnt der Minister in dieser Auflistung nicht.
Das Ende von sozialer Marktwirtschaft, Innovation und Sport?
Doch der Widerstand regt sich bereits, sowohl in der Industrie als auch beim liberalen Koalitionspartner. So meint FDP-Fraktionsvorsitzende Carina Konrad, die Werbeschranken umgingen die wahren Kernprobleme ungesunder Ernährung und würden Kinder »regelrecht abschirmen«. Die WHO-Grenzwerte selbst seien sogar praxisuntauglich: »Diese erweisen sich nämlich als weltfremd, denn so dürfte noch nicht mal mehr ein Glas Milch, ein frisches Rosinenbrötchen oder bestimmte Obstsäfte beworben werden.« [27]. Ihre alternativen Lösungsvorschläge klingen nicht unbekannt: »mehr Ernährungscoaches an Schulen, Seminare zur Medienkompetenz für Kinder und Eltern sowie mehr Engagement von Produzenten und Supermärkten« – täglich grüßen Eigenverantwortung, Verhaltensprävention und freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie.
Wenn in koalitionsinternen Auseinandersetzung schon jetzt die Regularien der Weltgesundheitsbehörden angezweifelt werden, kann von einem künftigen Kampf mit harten Bandagen ausgegangen werden. Ob Apelle, wie der von Barbara Bitzer (DANK) den »aus wissenschaftlicher Sicht richtigen und wichtigen Vorschlag des Ministers« zu unterstützen in diesem Kampf genug gehört werden, erscheint fraglich.
Auch Vertreter*innen der Industrie, wie Christoph Minhoff, langjähriger Cheflobbyist des Lebensmittelverbands Deutschlands, greifen bereits am Erscheinungstag der Gesetzesvorlage tief in die emotionale Westentasche und sehen durch die »bösartige Aussagen« Özdemirs »eine Branche diffamiert«. Formulierungen eines »fast kompletten Werbeverbotes« erinnern bereits sehr an die Worte desselben Lobbyisten zur Debatte um Tabakwerbung im Jahr 2016, »totale Werbeverbote [seien ein] tiefer Einschnitt in die Freiheit«. Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) sieht sowohl soziale Marktwirtschaft, Innovation und gar den Sport in Gefahr [27].
»Natürlich trifft es uns einmal wieder vom Image her, weil Zucker im Fokus einer Diskussion steht, und dass auch das Zucker-Bashing wieder weiter geht«, klagt Südzucker-Sprecher Dominik Risser das Leid seiner Branche [29] und zeichnet das Bild, es brauche lediglich mehr Aufklärungsarbeit bezüglich der Kalorienbilanz. Auch hier eine althergebrachte Argumentationslinie der Industrie, die die Verantwortung an die Betreuungspersonen delegiert. Oder gleich direkt an die Kinder selbst, wie Baden-Württembergs Ernährungsminister Peter Hauk (CDU) auf den Zug aufspringt: »Wir müssen eine Bewusstseinsveränderung bei jungen Menschen schaffen. Spielerisch, nicht durch Verbote, sondern durch Ernährungs- und Erziehungsarbeit [29].«
Boulevardzeitungen starten schon Kampagnen, kennen die »geheime Werbe-Verbotsliste« (Sogar Milch ist dabei!) des »hammerharten« Özdemir und bieten Lobbyist*innen wie Christoph Minhoff eine öffentlichkeitswirksame Bühne [30].
Unabhängig davon, wie das Ringen um die Werbeschranken ausgehen wird: Es geht um weit mehr als ein einzelnes Maßnahmenpaket. »Essen ist Politik«, sagt Ernährungsaktivist Martin Rücker in einem Podcast [12]. Es brauche ein Umdenken in Politik und Gesellschaft. Die Wissenschaft zeichnet ein klares Bild davon, wie eine gesunde, sozial gerechte und klimaverträgliche Ernährung aussehen kann. Politik sollte entsprechend die wissenschaftliche Erkenntnis zum Leitmotiv ihrer Agenda machen und nicht die lobbyierten Argumente aus der Industrie. Hierzu ist laut Rücker ein verändertes Rollenverständnis erforderlich: Statt runder Tische mit Lebensmittelkonzernen könnten etwa Bürger*innenräte Politiker*innen beraten und so Ernährungspolitik am Gemeinwohl statt am Profit orientieren. Zivilgesellschaft kann in die Verantwortung gehen: Ernährung politisieren, auf die Straße gehen, Organisationen, die für gesündere Lebensmittel einstehen, unterstützen, mit Politiker*innen sprechen, sich lokal interessieren und etwa die Hintergründe von ungesundem Schulessen bei Verantwortlichen hinterfragen. Zugrunde liegen muss wohl auch die Frage: Wollen wir es zulassen, dass privatwirtschaftliche Unternehmen mit wissenschaftlich nicht empfohlenen »Kinderlebensmitteln« auf dem Rücken der Gesundheit von Kindern Gewinne einfahren, während die (auch finanziellen) Folgen von der Gesellschaft getragen werden?
In Chile – einst das Labor neoliberaler Politik, wo seit 2012 schrittweise Kindermarketing einschränkt wird – ist Toni der Tiger von den Packungen verschwunden [7]. Ob er in Deutschland mit seinem Daumen Kinder weiterhin als »spannende Zielgruppe« zum Kauf ermuntern darf, bleibt abzuwarten.
Jonas Schaffrath ist Arzt in Weiterbildung Pädiatrie und Mitglied im Vorstand des vdää*, außerdem aktiv bei SoliMed Köln.
Literatur
1. https://www.spread-blue.de/#tab-id-2
2. Rücker, M., Ihr macht uns krank, 2022
3. Youngstar, D., 2023, https://www.dsa-youngstar.de/kindergartenmarketing, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
4. MoKi, Monatsschrift Kinderheilkunde, 2023
6. WHO, Nutrient children, 2015
7. foodwatch, Kindermarketing für Lebensmittel Studie 2021 - Freiwillige Selbstverpflichtungen der Lebensmittelwirtschaft auf dem Prüfstand, 2021
8. WHO. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/healthy-diet, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
9. Urbanek, M., Ärztezeitung, 2021, https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Wie-Influencer-die-Ernaehrung-von-Kindern-beeinflussen-417161.htm
10. Schienkiewitz, A.e.a., Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends, 2018
11. Biesalski, H.K., Ernährungsarmut bei Kindern – Ursachen, Folgen, COVID-19, Aktuelle Ernährungsmedizin, 2021, 46(05): p. 317-332
12. Rücker, M., #175 "Armut fördert Mangelernährung und Mangelernährung fördert Armut, L. Ondreka, Editor, 2022
13. https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/epigenetik-essgewohnheiten-schlagen-sich-im-erbgut-nieder-3319.php, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
14. https://www.spektrum.de/news/epigenetik-ernaehrung-kann-spuren-am-erbgut-hinterlassen/1765144, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
15. foodwatch, Junkfluencer Report, 2021
16. BMEL. Lebensmittelwerbung Kinder, 2023; Available from: https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/gesunde-ernaehrung/kita-und-schule/lebensmittelwerbung-kinder.html
17. Lebensmittelwerbung Kinder Pressemitteilung BMEL, 2023; Available from: https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html
18. Ernährung - So will Julia Klöckner Gesundheit der Deutschen fördern, 2018; Available from: https://www.welt.de/politik/deutschland/article175848805/Ernaehrung-So-will-Julia-Kloeckner-Gesundheit-der-Deutschen-foerdern.html
19. Allianz, D., 2023, https://www.dank-allianz.de/pressemeldung/studie-zuckerreduktion-bei-softdrinks-kommt-nicht-voran-reduktionprogramm-der-bundesregierung-unzureichend.html
20. von Philipsborn, P., et al., Interim Evaluation of Germany’s Sugar Reduction Strategy for Soft Drinks: Commitments versus Actual Trends in Sugar Content and Sugar Sales from Soft Drinks. Annals of Nutrition and Metabolism, 2023
21. Schmid, R., Kinderärztliche Praxis 2021; Available from: https://www.kinderaerztliche-praxis.de/a/kinderernaehrung-wir-wissen-was-wir-aendern-muessen-aber-wir-aendern-nichts-2384195
22. Kovic, Y., et al., The impact of junk food marketing regulations on food sales: an ecological study. Obes Rev, 2018, 19(6): p. 761-769
23. SPD, B.D.G.u.F., Koalitionsvertrag "Mehr Fortschritt wagen", 2021
24. https://www.foodwatch.org/de/mitmachen/kinderaerzte-gegen-junkfood-werbung/, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
25. foodwatch, Junkfood Kindermarketing Özdemir präsentiert Pläne für Werbeschranken, 2023
26. https://www.dgkj.de/detail/post/kinderschutz-in-der-lebensmittelwerbung, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
27. Kapalschinski, W.d.C., https://www.welt.de/politik/deutschland/article244003051/Werbeverbot-fuer-Suessigkeiten-FDP-ruegt-Oezdemirs-Plan-als-weltfremd.html
28. https://taz.de/Werbeverbote-fuer-Junkfood/!5916348/
29. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bundesgesundheitsministerium-uebergewicht-werbung-lebensmittel-100.html, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
30. https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/oezdemir-fuer-diese-lebensmittel-plant-der-ernaehrungsminister-ein-werbe-verbot-83080348.bild.html, zuletzt abgerufen am 13.03.2023
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023)