GbP 1-2023 Schorb

Du bist, was Du isst

Friedrich Schorb über soziale und ideologische Aspekte des Essens

»Der Mensch ist, was er isst.« Das berühmte Zitat des Philosophen Ludwig Feuerbach war Ausdruck seiner materialistischen Weltanschauung, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, und seiner Kritik an der idealistischen Vorstellung, dass sich die menschliche Wirklichkeit allein im Geist abspiele. Feuerbachs Bonmot ist aktuell, wenn auch in leicht abgewandelter Form als: »Du bist, was Du isst«, wieder omnipräsent. Doch die Bedeutung hat sich geändert. »Du bist, was Du isst«, ist heute meist wenig mehr als ein Aufruf, sich wahlweise vegan, glutenfrei, nachhaltig, regional, fair, kalorienarm, gesund, figur- und umweltbewusst zu ernähren.

Das wieder allgegenwärtige Motto ist zentral mit der Vorstellung verbunden, dass der eigene Körper beliebig formbar ist, dass Gesundheit vor allem eine Frage des Verhaltens ist, und dass chronische Erkrankungen maßgeblich Folge einer falschen Ernährungs- und Lebensweise sind. Gesundheit wird in dieser Wahrnehmung zur Tugend, zur Belohnung für vorbildliches Verhalten. Wer seine Risikofaktoren kennt, sich richtig ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, sich genug bewegt, ausreichend schläft und Stress vermeidet, bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer dennoch krank wird, muss also etwas falsch gemacht haben. Darüber hinaus spielt das Motto: »Du bist, was Du isst« darauf an, dass die Ernährungsweise heute ein Ausdruck der Persönlichkeit ist, bei dem es längst nicht mehr nur um einen Beitrag zu einem im Idealfall gesunden und nachhaltigen Lebensstil geht, sondern um eine grundsätzliche Haltung zum Leben und zur Welt.

Du bist, was Du kaufst

Aber auch denjenigen, denen Zeit und Muße fehlen, aus ihrer Ernährungsweise eine Lebensphilosophie oder eine Ersatzreligion abzuleiten, macht die Lebensmittelindustrie mit ausdrücklicher Unterstützung der Politik ein attraktives Angebot. Eine Vielzahl von Labeln soll Verbraucher*innen dabei helfen, bei der Lebensmittelwahl eine in jeglicher Hinsicht richtige Auswahl zu treffen. Der Nutri-Score z.B. soll den Verbraucher*innen die Frage beantworten, ob ein Produkt in der jeweiligen Produktkategorie besonders wenig bzw. viel Salz, Fett oder Zucker beinhaltet, ob also Schokoriegel A »gesünder« ist als Schokoriegel B und daher ohne schlechtes Gewissen verzehrt werden darf.

Mit den Bio-Labeln vergewissern sich die Konsument*innen schließlich, dass sie mir ihrer Ernährung nicht nur ­etwas für ihre Gesundheit, sondern auch für den Umweltschutz getan haben. Mit der Regional-Etikettierung und dem Herz für Erzeuger wird ihnen garantiert, dass ihr Essen keine weiten Wege zurückgelegt hat und dass die Landwirte aus der Region unterstützt werden. Den Tierschutz sichert das Tierwohl-Label und mit dem Fairtrade-Logo wird der Gerechtigkeit für den globalen Süden Genüge getan. Die Politik verbietet und bevormundet nicht, die Konsument*innen selbst treffen die Entscheidung, was sie kaufen und damit auch wer wir sind: ignorante Tierquäler*innen und Klimasünder*innen ohne Herz für Erzeuger*innen und die Finanzierungsprobleme der Krankenkassen, oder Tiere, Landwirte, die Umwelt und die eigene Gesundheit liebende verantwortungsvolle Gutmenschen.

Was is(s)t die Elite

Besonders ausgeprägt ist der Wunsch nach einer bewussten Ernährung in den Eliten. Wobei hier ethische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle spielen. Einer aktuellen Studie der Max Grundig-Klinik zum Ernährungsverhalten von Führungskräften zufolge ernähren sich zwei Drittel von ihnen gesund oder versuchen es zumindest. Die Aussage: Ernährung und das Wissen um diese seien eine neue Ersatzreligion in unserer Gesellschaft, treffe auf diese Gruppe in hohem Maße zu, so der Hauptautor der Studie. Über das richtige Essen werde unter den Führungskräften viel gelesen, nachgedacht und geredet.

Um eine Idee dafür zu bekommen, wie weit sich diese Beschäftigung mit dem richtigen Essen bereits in die Firmenphilosophie einiger Unternehmen durchgesetzt hat, lohnt ein Blick in die Tech-Industrie. Hier wird mittlerweile nicht mehr nur das Tabakrauchen verbannt, sondern auch Süßgetränke und Schokoriegel. Laufräder ersetzen Bürostühle und meditiert wird während der Arbeitszeit. Im Silicon Valley und seinen weltweiten Spinoffs breitet sich eine eigentümliche Mischung aus Sozialdarwinismus und fernöstlichen Entspannungstechniken aus. Wirtschaftsliberalismus und Technikgläubigkeit werden mit Achtsamkeitsübungen, Yoga und Hochleistungssport kombiniert. Dazu passt, dass unter den Spitzenmanager*innen in Deutschland jede*r zehnte Marathon läuft, während es in der Gesamtbevölkerung nur eine*r von 600 ist.

Diese narzisstische Nabelschau geht mit einer »the winner takes it all«-Mentalität einher, bei der sich die Eliten nicht mehr nur finanziell und mental, sondern auch körperlich den Unterprivilegierten der Arbeitswelt überlegen fühlen dürfen – all jenen dienstfertigen Geistern also, die, gesteuert von den Algorithmen aus den Kreativzentralen, Pakete sortieren und ausliefern, Essen zubereiten und zustellen, Apartments und Büros reinigen und bewachen, Betuchte kutschieren, frisieren und maniküren, Betagte und Kinder pflegen versorgen und unterhalten und die von uns allen benötigten Waren und Maschinen produzieren. Und während der Anteil, den die Eliten am sprichwörtlichen Kuchen für sich beanspruchen, immer größer wird, werden der breiten Masse zugleich die wortwörtlichen Kuchenkrümel als ungesunde Dickmacher vergällt.

Was is(s)t die Unterschicht

Untergewicht sei das geringste Problem von Hartz IV-Empfänger*innen hatte Thilo Sarrazin als Beitrag zur Debatte um die von vielen als zu niedrig empfundenen Hartz-IV-Sätze einst zum Besten gegeben. Noch deutlicher hat der Lobbyist für die neoliberale »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, Oswald Metzger, die Bedeutung von »Du bist, was Du isst« für die politische Wahrnehmung der Unterschicht auf den Punkt gebracht: »Viele sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche dann den eigenen Kindern anzugedeihen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf«. In besagtem Fernseher bekommen die so angesprochenen Angehörigen der unteren Klassen in verschiedenen Comedy- und Reality TV-Formaten ein Zerrbild ihrer Selbst zu sehen, das dann in einer Art Zirkelschluss diese Vorurteile bestätigt.

Natürlich interessierten sich diese derart als Bürgergeld- und Niedriglohn-Empfänger*innen Diffamierten auch nicht für Nutri Scores oder Biolabel. Entsprechend sehen viele in den vermeintlichen Zucker und Billigfleischexzessen einer devianten Unterschicht dann auch einen Hauptgrund dafür, dass die gesunde Lebenserwartung in Deutschland für Menschen mit geringem Einkommen 15 Jahre niedriger liegt als für ihre wohlhabenden Mitbürger*innen. Der Vorwurf allerdings, dass sich Angehörige der Unterschicht den Bauch mit Billigfleisch und Süßwaren vollschlagen, stand empirisch schon immer auf wackeligen Füßen. Spätestens aber seit der jüngsten Inflationswelle, von der Lebensmittelpreise besonders betroffen sind, sollte allen klar geworden sein, dass Mangelernährung in reichen Ländern ein reales Problem ist.

Ernährungsarmut in Deutschland

Auch in Deutschland erhält das Thema Ernährungsarmut angesichts stetig steigender Lebensmittelpreise neue Aufmerksamkeit. Die aus ökologischer und medizinischer Sicht durchaus erfreuliche Nachricht etwa, dass der Fleischkonsum 2022 in Deutschland um fast ein Zehntel zurückgegangen ist, hat auch eine Schattenseite. Denn dieser plötzliche Rückgang ist nur zu einem kleinen Teil auf den langfristigen Trend zu fleischarmer Ernährung zurückführen. Einen viel stärken Einfluss auf diese Entwicklung hatten die rasant steigenden Preise. An den Lebensmitteltafeln, die ursprünglich einmal Obdachlosen vorbehalten waren, drängen sich mittlerweile über zwei Millionen Rentner*innen, Alleinerziehende und Geringerverdiener*innen. Fleisch und Wurst waren an Tafeln schon immer Mangelwaren. Weil ihnen aber mittlerweile auch alle anderen Lebensmittel ausgehen, verhängen immer mehr Tafeln Aufnahmestopps. Währenddessen nimmt die Ernährungsunsicherheit weiter zu. Rund anderthalb Millionen Menschen gelten in Deutschland als mangelernährt, unter ihnen mehr als eine halbe Million Kinder.

Nicht zuletzt sorgen die Eliten durch ihr Handeln selbst dafür, dass neben den finanziellen Gräben auch der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich immer größer wird. Denn auf der Suche nach der Formel für die ewige Jugend verlassen sich die Ultrareichen nicht mehr nur auf die neuesten Ernährungstrends. Die Milliardengewinne jedenfalls fließen längst nicht mehr nur in Riesenyachten oder Weltraumexpeditionen, sondern zunehmend in die eigene Forschung, um mit deren Hilfe das Dasein auf Erden zu verlängern. Von 120 gesunden Lebensjahren träumen Investoren wie Peter Thiel und setzen dabei neben gesunder Ernährung und Fitness auf Blutkonserven und die neuesten Errungenschaften der Gentechnologie. Zugleich tragen sie mit ihrem politischen Engagement aktiv dazu bei, dass die Lebenserwartung der ärmeren Hälfte der Bevölkerung weiter stagniert, indem sie politische Parteien und Kandidat*innen unterstützen, die dafür sorgen, dass der breiten Masse der Bevölkerung der Schutz vor Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung, das Recht sich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen sowie der Zugang zu einer universalen Gesundheitsversorgung auch zukünftig verweigert wird.

Du bist, was Du wiegst

In einem Punkt allerdings sind Arm und Reich dann doch wieder gleich: Denn um geliebt zu werden, reicht es nicht aus, nur viel Geld zu besitzen, zum Mars zu fliegen und über Medienkonzerne zu verfügen, mit deren Hilfe man die Gefolgschaft exklusiv mit den eigenen Botschaften berieseln lassen kann. Wer wirklich dazu gehören will, muss selbstverständlich auch über einen schlanken, gepflegten und durchtrainierten Körper verfügen. Und dieser Körper gilt immer noch als Resultat der richtigen Ernährungs- und Lebensweise. Das musste auch der — jedenfalls bis vor kurzem noch — reichste Mann der Welt, Elon Musk, erfahren. Ihm, der lange Zeit für sein Aussehen verlacht worden war, konnten dieses Mal keine Algorithmen helfen. Nach seiner Abnehmstrategie gefragt, beklagte sich Musk, dass er sich mit den Nebenwirkungen von Off-Label Medikamenten herumschlagen, und sich, wo immer möglich, von leckerem Essen fernhalten müsse …

Literatur beim Autor oder bei der Geschäftsstelle des vdää*: info(at)vdaeae.de

Friedrich Schorb ist Soziologe und lehrt an der Universität Bremen.

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ernährung und Gesundheit, Nr. 1, März 2023)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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