Primärversorgungszentren
Eine Studie der Robert Bosch Stiftung zu Voraussetzungen und Möglichkeiten der Implementierung und Ausgestaltung
Die Robert Bosch Stiftung fördert seit 2015 im Programm PORT (Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung) an 13 Standorten verschiedene Projekte der Primärversorgung, die über den hausärztlichen Rahmen hinausgehend pflegerische und therapeutische sowie populationsbezogene und sozialraumorientierte Ansätze ganzheitlich integrieren. Aufbauend auf dem PORT-Konzept der Stiftung und den Einschätzungen namhafter Vertreterinnen und Vertreter der für die Primärversorgung bedeutsamen Institutionen, fasst Dr. Matthias Gruhl in dieser Expertise zusammen, welche notwendigen, wünschenswerten und optionalen Merkmale und Bedingungen Primärversorgungszentren (PVZ) charakterisieren: Neben der (haus-)ärztlichen Grundversorgung sind die Integration von gesundheitsfördernden und -stärkenden Fachkräften, ein verbindliche kooperative interprofessionelle Arbeitsform und die Einbindung der Kommune und ihrer Dienste notwendige Erfolgsfaktoren. Darüber hinaus zeigt Gruhl eine mögliche Finanzierung über eine Integration von Primärversorgungszentren in die Systematik des SGB V auf. Wir dokumentieren hier von uns zusammengestellte und gekürzte Ausschnitte aus der Studie.
In ländlichen Räumen und zunehmend auch im urbanen Setting, insbesondere in sozial benachteiligten Regionen der Ballungsgebieten, ist die medizinische Primärversorgung mit den herkömmlichen Leistungsangeboten nicht mehr durchgehend sicherzustellen. Hier wird auch im Koalitionsvertrag 2022-2025 Handlungsbedarf anerkannt. Insbesondere in jenen benachteiligten Regionen ist Gesundheit nicht allein mit medizinischen Interventionen zu verbessern, sondern braucht Interaktionen zu sozialen, pflegerischen und populationsbezogenen Interventionen. Dafür sind Primärversorgungszentren als integriertes medizinisch-pflegerisches und gesundheitsförderndes bzw.- stärkendes Angebot auszugestalten. Wenn sich auch die Problematik in den oben genannten Regionen am drängendsten darstellt, sollte insgesamt eine stärkere Integration von medizinischen, pflegerischen und sozialen Hilfesystemen erfolgen.
PVZ erheben nicht den Anspruch, das alleinige Lösungsmodell für Defizite in der Primärversorgung zu sein. Es geht nicht um einen Systemwettbewerb, sondern um eine an bestimmten Rahmenbedingungen auszurichtende, zusätzliche Form der gesundheitlichen Leistungserbringung. Primärversorgungszentren können zügig in den gesetzlichen und strukturellen Rahmen des heutigen Gesundheitswesens eingefügt und später im Sinne des Gewollten weiterentwickelt werden. Deshalb ist der Ausgangspunkt die bestehende Versorgungslandschaft.
Angebot der PVZ
Für eine Etablierung einer neuen Versorgungsform ist es zwingend notwendig, die Grundvoraussetzungen des Angebots einheitlich zu definieren. Viele der weiteren wünschenswerten und ggf. optionalen Ergänzungen dieses Kerns von PVZ sind abhängig von den jeweiligen regionalen Gegebenheiten.
Die fachlichen und organisatorischen Mindeststandards für Primärversorgungszentren sind:
I. ein bedarfsorientiertes allgemeinmedizinisches Angebot, ergänzt um eine pädiatrische Grundversorgung
II. vermittelnde, gesundheitsfördernd tätige (Pflege-)Fachkräfte
III. eine Team-Konzeption der gleichberechtigten, berufsgruppenübergreifenden Zusammenarbeit
IV. eine Kooperationsvereinbarung mit der jeweiligen Kommune bzw. zuständigen staatlichen Verwaltung
Für die unter II. genannte Tätigkeit, die eine wichtige Scharnierfunktion zwischen dem medizinisch-pflegerischen Hilfesystem und der sozialräumlichen Lebenswirklichkeit darstellt, gibt es bisher in Deutschland kein klar definiertes und anerkanntes Berufsbild, obwohl solche Funktionen in der Versorgungsrealität bereits vielfach eingesetzt werden. Für die Rolle oder Angebote finden sich vielfältige Bezeichnungen: Community Health Nurses (CHN), Case Management, Gesundheitskiosk, Gesundheits- oder Patientenlotse, Kümmerer, Health Hub und oder Gemeindeschwester.
Eine aus den Bausteinen I-III entwickelte und definierte Konzeption für Kooperation ist für jedes PVZ eine statusbildende Voraussetzung. Sie ermöglicht auch eine attraktive, sich von der sonstigen Versorgung unterscheidende Arbeitsform und die Chance, die eigenen Kompetenzen durch die Zusammenführung von verschiedenen Fachlichkeiten zu ergänzen. Der multiprofessionelle Ansatz wird neben den PORT-Projekten in vielfältigen Variationen in Deutschland bereits gelebt. Die Verantwortung liegt nicht mehr allein bei der ärztlichen Profession, sondern soll gemeinsam und auf Augenhöhe mit anderen Fachkräften geteilt werden. Dies optimiert die Versorgung für die Patient*innen und wirkt arztentlastend.
Viele der für die Zielbevölkerung relevanten gesundheitlichen Problemlagen betreffen auch die Zuständigkeit kommunaler Dienste (z.B. Gesundheitsamt, soziale Dienste, Jugendamt). Deren Aufgaben decken in vielfältiger Weise Themenbereiche ab, die mit der sozialen Lage verknüpft sind, seien es die präventiven oder infektiologische Angebote der Gesundheitsämter, die sozial flankierenden Angebote und Leistungen der sozialen Dienste oder die Wahrnehmung der besonderen Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen durch die Jugendhilfe. Eine enge Kooperation mit der Kommune (IV) verbessert die Versorgungslage.
Wünschenswert ist die Ergänzung dieser Mindestkriterien durch grundversorgende vertragsärztliche Spezialdisziplinen (insbesondere: Gynäkologie und Psychotherapie) und Gesundheitsfachberufe (insbesondere: Physiotherapie), eine Ein- oder Anbindung von Präventions- und Gesundheitskompetenzangeboten und von ambulanten Pflegeleistungen, soweit ein lokaler Bedarf vorhanden ist. Für eine stabile Versorgung soll das Team der PVZ aus mindestens 10 Personen bestehen. Über einen Beirat von Patient*innen und Einwohner*innen sollten Nutzerinteressen eingebunden werden.
Neben den aufgeführten Kernelementen sind wünschenswerte bzw. optionale Angebote von PVZ abhängig von den jeweiligen regionalen Gegebenheiten. Deshalb wird vorgeschlagen, vor einer endgültigen Festlegung des Profils ein Sozialraum-Mapping durchzuführen, mit dem sowohl die aktuell notwendigen als auch die künftigen Bedarfe von medizinisch-pflegerischen Kompetenzen im Einzugsgebiet der Einrichtung erhoben werden. Ebenso ist die Kooperationsbereitschaft Dritter zu prüfen. Um die gemeinsame Grundeinstellung zu betonen, sollten nur Fachkräfte in PVZ eingebunden werden, die sich mit dem integrativen, holistischen Anspruch identifizieren können. Es ist zu prüfen, ob, wie und ggf. durch wen gesundheitsfördernde bzw. präventive Angebote der Verhaltens- und besonders der Verhältnisprävention im regionalen Setting bereitgestellt werden können. Dazu kann beispielsweise auf das Partnerprogramm der BZgA »Bundesweiter Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit« Bezug genommen werden.
Die Kernkompetenzen von PVZ können optional bis zu einem umfassen-den Gesundheitszentrum erweitert werden, wenn die Räumlichkeiten und der Bedarf dies gestatten. Insbesondere bei der Möglichkeit, auch stationäre Low-Care-Versorgung oder Kurzzeitpflege zu integrieren, steigt aller-dings die Komplexität der Einrichtung überproportional. Vorab sind hierzu rechtliche Klärungen notwendig.
Zusätzlich kann das Zentrum seine Räumlichkeiten für den Stadtteil oder die Region öffnen, um lokale Angebote der Seniorenarbeit, eines Pflegestützpunktes, der Selbsthilfe oder der ehrenamtlichen Arbeit räumlich zu integrieren.
Notwendige rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen für eine flächenendeckende Einführung von Primärversorgungszentren
Um eine Beliebigkeit zu vermeiden, bedarf es der Setzung einheitlicher Kriterien für die PVZ. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, um PVZ als besondere Versorgungsform im SGB V zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber ist auf-gefordert, diese Rahmenbedingungen dem Grunde nach und als zu konkretisierenden Auftrag an die Selbstverwaltung zu definieren, allerdings auch einen relevanten regionalen und lokalen Ausgestaltungsspielraum zuzulassen. Es wird eine kollektivvertragliche Lösung vorrangig befürwortet.
Da eine kollektivvertragsrechtliche Regelung angestrebt wird, ist zu entscheiden, mit welchem Bezug die Etablierung von PVZ im SGB V verortet werden sollen. Möglich wäre dies im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung (§ 72 SGB V ff.). Es ist zu prüfen, ob durch eine Einschreibung von Patient*innen für die PVZ-Versorgung, ähnlich wie bei der HZV, die gegenseitige Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit erhöht werden. Alternativ könnten PVZ als gesonderter Einzeltatbestand im Achten Abschnitt (§ 132 ff SGB V) verankert werden.
Die Festlegung, wo ein PVZ vor Ort eingerichtet werden soll, erfolgt auf Landesebene anhand der bundeseinheitlichen Kriterien.
Trägerschaft und Finanzierung der PVZ
Die Zusage des Koalitionsvertrages, in benachteiligten Kommunen und Stadtteilen niedrigschwellige, die Patient*innen unterstützende und aufsuchende Angebote zu errichten, ist eine Vorentscheidung für die Finanzierung der entsprechenden Fachkräfte. Ein zusätzliches Engagement von Kommunen kann förderlich sein.
Das Leistungsspektrum eines PVZ ist hinsichtlich vertragsärztlich medizinischer oder veranlasster Leistungen finanziert. Bleibt die Frage der Absicherung von koordinierenden, arztentlastenden, Compliance-fördernden und sozialraumorientierten Aufgaben. Zur Verantwortung der Krankenkassen im sozialen Sektor gibt es eindeutige Schnittstellen und Trennlinien zu den Zuständigkeiten der staatlichen Verwaltungen. Die Kommunen oder sonstige lokale staatliche Stellen haben in letzter Zeit eine politische Verantwortung für eine gute medizinische Grundversorgung akzeptiert und mahnen diese im Interesse der Bevölkerung an. Mit den Primärversorgungszentren wird ein Angebot unterbreitet, zu optimierten Konditionen eine Verbesserung der gesundheitlichen Lage insbesondere in schwierigen Regionen zu gewährleisten. Insofern ist es zu vermitteln, dass ein finanzielles Engagement der Kommune die Realisierung sozialraumorientierter Leistungen deutlich erleichtern würde.
Die bestehende Trägervielfalt in der ambulanten Versorgung soll grundsätzlich auch für PVZ bestehen. Fachlich kompetente Betreiber oder/und kommunale Träger könnten sich auch in partnerschaftlicher Form gut für eine Trägerschaft eignen. Durch eine ausschließliche, unmittelbare und damit im Grunde gemeinnützige Zweckbindung als integriertes medizinisches und sozialraumorientiertes Versorgungsangebot könnte vermieden werden, dass PVZ zu Renditeobjekten für privates Kapital werden.
Der Koalitionsvertrag 2021-2025 benennt, unterstützt und fördert wesentliche Aspekte von Primärversorgungszentren (inhaltlich und zum Teil auch materiell) und wird die Einführung in die Regelversorgung erleichtern.
Liste der beteiligten Expert*innen
Prof. Dr. Volker Amelung, Professor für internationale Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover Ulrike Elsner, hauptamtliche Vorstandsvorsitzende des vdek Dr. Bernhard Gibis, Dezernent Sicherstellung und Versorgungsstruktur, KBV Dr. Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des DBfK Bundesverband Stefan Majer, Dezernent u.a. für Gesundheit der Stadt Frankfurt a.M. und Vorsitzender Gesundheitsausschuss Deutscher Städtetag Dr. Ulrich Orlowski, Rechtsanwalt Dr. Gottfried Roller, Leiter des Landesgesundheitsamts (LGA) Baden-Württemberg Prof. Dr. Martin Scherer, Professor für Allgemeinmedizin UKE, Präsident der DEGAM Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender Deutscher Hausärzteverband
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)