GbP 4-2022 Rakowitz

Privatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung

Bericht über das Gesundheitspolitische Forum zum Systemwechsel in der ambulanten Versorgung – von Nadja Rakowitz

Das gesundheitspolitische Forum des vdää*, das wir wieder zusammen mit dem Verein Solidarisches Gesundheitswesen organisiert haben, hat dieses Jahr abermals in Berlin in der evangelischen Schule Zentrum stattgefunden. Auch wenn wir uns eigentlich vorgenommen hatten, den Ort jeweils zu wechseln, bot es sich dieses Jahr angesichts der unklaren Pandemielage an, Räume zu reservieren, mit denen wir vertraut waren und bei denen wir die Organisationsabläufe schon kannten. Der Zuspruch unserer Teilnehmer*innen hat uns Recht gegeben. Wir haben dieses Jahr einen Besucher*innenrekord zu verbuchen: Es waren insgesamt 154 Teilnehmer*innen da – so viele wie noch nie.

Auch beim Thema des gesundheitspolitischen Forums knüpften wir an das letzte Jahr an: Systemwechsel in der ambulanten Versorgung. Privatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung. Anders als die letzten Jahre hatten wir schon für Freitagnachmittag einen Einführungsworkshop angeboten. Der Gedanke dahinter war, Menschen, die noch nicht so viel Erfahrung mit der ambulanten Versorgung in Deutschland haben, die Möglichkeit zu geben, etwas über ihre Geschichte und Struktur zu erfahren und so vielleicht den Diskussionen am Samstagmorgen besser folgen zu können. Es hatte sich aber herausgestellt, dass der Termin wohl ziemlich ungünstig lag, so dass wir diesen Workshop für Freitag abgesagt und stattdessen in der Woche vor der Veranstaltung online angeboten haben. Wir haben die Veranstaltung aufgenommen und auf die Homepage des vdää* gestellt.

Mehr Problem als Lösung

Die öffentliche Veranstaltung am Freitagabend widmete sich dann unter dem Titel: »Mehr Problem als Lösung« dem Thema der Abwerbung von Gesundheitsfachkräften aus dem Ausland. Karen Spannenkrebs stellte das internationale Projekt »Pillars of Health« vor, in dessen Rahmen sie für den vdää* seit Juli arbeitet. Heino Güldemann stellte dann einen Zusammenhang her zwischen dem Pflegenotstand in Deutschland und der entwicklungspolitischen Perspektive auf die Abwerbung von Gesundheitsfachkräften im Ausland. Güldemann, der sich mit dem Thema schon seit zehn Jahren beschäftigt, beleuchtete zum einen die Situation in den Herkunftsländern der angeworbenen Pflegekräfte als auch die verschiedenen historischen Epochen von Abwerbung nach Deutschland und richtete sein besonderes Augenmerk auf die aktuellen staatlichen Abwerbeprogramme. Im Anschluss daran stellte Jutta Lechner ein Forschungsprojekt über philippinische Fachkräfte an der Universitätsklinik Bonn vor, sowie ihre Idee für ein Mentor*innenprogramm namens »study buddy«, in dem ältere und examinierte Pflegekräfte und Neuankömmlinge zusammengebracht werden sollen. Auch die Vorträge dieses Abends findet man als Video auf der Homepage des vdää*.

Revolution der Regelversorgung

Das Gesundheitspolitische Forum am Samstag gliederte sich so wie schon in den letzten Jahrenn: Am Vormittag gab es zwei Panels mit Referent*innen und Diskussion im Plenum, und am Nachmittag gab es fünf verschiedene Workshops, in denen unterschiedliche Themen noch einmal vertieft bearbeitet werden konnten. Danach sprachen wir wieder im Plenum über aktuelle Probleme der Gesundheitspolitik.

Zu dem ersten Panel: »Revolution der Regelversorgung – Diskussion praktischer Modelle« hatten wir Pa­tri­cia Hähnel, Ärztin und Mitglied des Gesundheitskollektivs Berlin und des Poliklinik Syndikats, Matthias Gruhl, Facharzt für Allgemeinmedizin und Öffentlichen Gesundheitsdienst und Staatsrat a.D. und Claudia Bernhardt, Senatorin für Gesundheit, Verbraucherschutz und Frauen von der Partei Die LINKE aus Bremen eingeladen. Claudia Bernhardt stellte in ihrem Input konkrete Modellvorhaben in Bremen vor und diskutierte mit uns über die politischen Schwierigkeiten bei der Konkretisierung. Matthias Gruhl schaute vor dem Hintergrund seiner langjährigen empirischen Erfahrung von einem höheren Abstraktionsniveau auf die Probleme und diskutierte mögliche Formen von Primärversorgungsmodellen und die Vor- und Nachteile verschiedener Ansätze. Patricia Hänel stellte die Ideen und die Praxis des Gesundheitskollektivs Berlin und des Poliklinik Syndikats vor und ergänzte die Runde durch die Perspektive von unten. In der Diskussion mit dem Plenum zeigte sich dann, wie wichtig solche Veranstaltungen sind, bei denen man detailliert und mit großer Sachkenntnis die aktuellen Probleme diskutieren kann und dennoch eine linke Perspektive auf die Verhältnisse bewahren kann. Allzu oft fallen diese Dimensionen auseinander. Es ist eine der Stärken des vdää* und des Solidarischen Gesundheitswesens, solche Diskussionen zu ermöglichen und dabei auch noch die Erfahrungen mehrerer Generationen linker Ärzt*innen und Aktiven austauschen zu können. Auch diese Inputs kann man auf der Homepage des vdää* anschauen und anhören.

Gegnerbeobachtung

Das zweite Panel des Vormittags widmeten wir der »Gegnerbeobachtung« und diskutierten über Kommerzialisierung und Zentralisierung, wie sie einerseits von Gesundheitsökonom*innen und andererseits von Kapitalinvestor*innen angestrebt werden. Rainer Bobsin stellte die Aktivitäten von Private Equity Fonds im ambulanten medizinischen Sektor vor und zeigte, welche Dynamik hier in Gang gesetzt wurde. Susanne Quast, Krankenhaus-Ärztin und Betriebsrätin aus Düsseldorf, stellte uns die aktuellen Pläne der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen vor. Diese will sich verstärkt wieder in die Krankenhausplanung einmischen und plant, einen großen Teil von Krankenhaus Leistungen zu ambulantisieren und den Krankenhaussektor ziemlich grundsätzlich umzubauen.1 Leider konnte Susanne nur online dazu kommen und es stellte sich heraus dass dies technisch nicht optimal von uns organisiert war. Wir werden unsere Lehre daraus ziehen. Die Folien der Vorträge finden sich ebenfalls auf der Homepage des vdää*.

Workshops & Aktuelles aus der Gesundheitspolitik

Am Nachmittag gab es parallel 5 Workshops zu folgenden Themen:

  1. Workshop Konzernbildung und Private Equity Fonds im ambulanten Sektor – mit Rainer Bobsin (Experte für die Aktivitäten von institutionellen Investoren im ambulanten Sektor)
  2. Workshop »Mehr von uns ist besser für alle«: Austausch von verschiedenen Initiativen von Krankenhausbeschäftigten – mit Peter Hoffmann (vdää* / KH statt Fabrik) und Laura (IL / KH statt Fabrik)
  3. Workshop Kommunale und genossenschaftliche MVZ – mit Thomas Spies (Arzt, Oberbürgermeister von Marburg) und Jürgen Seeger (Pädiater, vdää*)
  4. Workshop Klimawandel und Gesundheit – mit Stefan Schoppengerd (vdää* Geschäftsstelle), Paul Brettel (vdää*-Vorstand) und Robin Maitra (ldää Nord Baden-Württemberg)
  5. Workshop Polikliniksyndikat konkret Patricia Hänel (GeKo Berlin) und Justus Örtl (Poliklinik Leipzig)

Berichte zu den Inhalten und Diskussionen in diesen Workshops finden sich in diesem Heft. Wie schon in den letzten Jahren hat es sich als gutes Konzept erwiesen, eine so große Gruppe in 5 kleinere Gruppen aufzuteilen, weil so mehr Diskussion möglich ist. Selbstkritisch müssen wir auch sagen, dass bei uns in Bezug auf Technik und Didaktik und bei manchen Teilnehmer*innen bisweilen auch bei der Diskussionskultur noch Luft nach oben ist. Dennoch gab es gutes Feedback für diese Workshops, sowohl in der Evaluation, als auch bei den Erzählungen im Anschluss.

In der Runde zur aktuellen Gesundheitspolitik stellte Phil Dickel von der Poliklinik in Hamburg kurz das Konzept der Gesundheitskioske und die Diskussion darüber vor, Laura vom Bündnis Krankenhaus statt Fabrik stellte uns die aktuellen Vorhaben der Bundesregierung bezüglich der Krankenhausfinanzierung vor und Karen Spannenkrebs stellte die medizinische Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft und anderen Geflüchteten zur Diskussion. Was wir vom vdää* und was viele Flüchtlingsorganisationen und NGOs in Deutschland für alle Geflüchteten schon lange fordern, wird – und das ist gut und richtig so – den ukrainischen Geflüchteten zugestanden. Wir müssen uns laut und stark dafür machen, dass dies auch allen anderen Geflüchteten zugestanden wird. Im Plenum war das unumstritten und die Frage eher, wie wir das im neuen Jahr zusammen mit anderen Akteuren umsetzen.

Kirsten Schubert berichtete von der aktuellen Situation von Ärzt*innen im Iran, die wegen der Behandlung von Demonstrierenden harten Repressionen ausgesetzt sind. Im Anschluss entstand das Solidaritätsfoto mit den Protestbewegungen im Iran, das auf dem Cover dieser Zeitschrift abgebildet ist.

Zuletzt informierte Felix Ahls uns über die Festnahme der Vorsitzenden der türkischen Ärztekammer Sebnem Korur Fincanci. Die Gerichtsmedizinerin und Expertin für Folter hatte sich öffentlich zu den Vorwürfen geäußert, die türkische Regierung habe Giftgas gegen kurdische Einheiten im Nordirak eingesetzt und wurde daraufhin wegen Terrorismus angeklagt. Der vdää* setzt sich für ihre Freilassung ein und auch hierfür entstand ein Solidaritätsfoto.

Generationentreffen im World Café

Beim diesjährigen Gesundheitspolitischen Forum haben wir unsere Teilnehmer*innen auch nach dem Abendessen noch nicht einfach in Gespräch und Musik und Tanz entlassen, sondern noch ein »Generationentreffen« im World Café-Format organisiert. Wir hatten letztes Jahr den Eindruck, dass am Abend wenig Austausch zwischen den Generationen stattfand, sondern die meisten Teilnehmer*innen bei ihrer eh schon bekannten Peergroup saßen. Da wir es für eine Stärke des vdää* halten, dass hier Menschen aus mehr als zwei Generationen aufeinander treffen, die gemeinsame Interessen haben, und da wir den Eindruck hatten, dass es sinnvoll wäre, wenn man mehr über die andere Generation und ihre Kämpfe und Perspektiven erfährt, haben wir Diskussionen zwischen den Generationen organisiert: Das Plenum sollte sich in vier Gruppen aufteilen und jeweils eine halbe Stunde über eines dieser vier Themen diskutieren: Antirassismus, Feminismus, Klasse bzw. Klassismus und Antifaschismus. Nach einer halben Stunde wechselte die Gruppe an einen anderen Tisch und diskutierte über ein weiteres Thema. Für jedes Thema haben sich jeweils eine jüngere und eine ältere Person aus dem vdää* bereit erklärt, einen kurzen Input zu machen und zu erläutern, wie man in der jeweiligen Generation und den Zusammenhängen, aus denen die Person kam, über das Thema diskutiert (hat). Die Resonanz auf diese Idee und ihre Umsetzung war an den verschiedenen Tischen bei den verschiedenen Themen unterschiedlich: Für manche war es ein bisschen dröge, für andere sehr interessant, wieder andere hielten die Themen für zu groß, um unvorbereitet darüber zu sprechen, oder sie hielten die Zeit für zu kurz; an manchen Tischen hat der Austausch ausgezeichnet funktioniert. Die Idee wurde insgesamt für gut, aber auch ausbaufähig gehalten.

Wir als Organisator*innen hatten den Eindruck, dass unser Konzept gut funktioniert hat, denn anschließend haben noch viele Menschen lange zusammengesessen und über diese Themen und anderes diskutiert. Es haben jüngere und ältere aus unterschiedlichen Regionen und Zusammenhängen miteinander diskutiert und das Bild, das sich von diesem Abend ergab, war ein anderes als letztes Jahr. Die Stimmung unter den Teilnehmer*innen war ausgesprochen gut und bei der Gesundheitspolitischen Forum nächstes Jahr werden wir auf jeden Fall darauf achten, dass wir für die Abendrunde und die Party einen Raum haben, den wir nicht um Mitternacht verlassen müssen. Hoch und heilig versprochen!

Mitgliederversammlung des vdää* am Sonntag

Den Bericht von der Mitgliederversammlung können Mitglieder des vdää* in der diesem Heft beiliegenden Vereinsbeilage lesen. Nach den Formalien wurden zwei Themen besprochen, zu denen in der nächsten Zeit jeweils neue Kapitel für die vdää*-Programmatik entstehen sollen: eines zur Ambulanten Versorgung und eines zu Klimawandel und Gesundheit. Ein neuer Arbeitszusammenhang soll sich zu Letzterem konstituieren und der AK Ambulante Versorgung wird mit hoffentlich auch neuen Mitgliedern weiter am Thema arbeiten und sich nach Herausgabe der Broschüre dieses Jahr an einem neuen aktualisierten Text für das vdää*-Programm versuchen.

Die ganz Hartgesottenen konnten dann am Sonntagnachmittag noch an einem von uns organisierten Stadtrundgang mit Lobbycontrol teilnehmen.

Die nächste JHV wird 2023 in Marburg stattfinden – (auch) in Erinnerung an den 50. Jahrestag des Marburger Kongresses.

1 Siehe dazu auch die von RLS, vdää* und Solidarischem Gesundheitswesen herausgegebene Broschüre von Achim Teusch: Kein Bett zu viel, hg. von Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2022

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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