Kommunale und genossenschaftliche MVZ
Ein Bericht über den Workshop beim gesundheitspolitischen Forum - von Jürgen Seeger und Nadja Rakowitz
Alle Poliklinik-Projekte, die es aktuell in unseren Zusammenhängen gibt, befinden sich in Städten, die meisten davon in großen Städten. Bislang gibt es aus unserem Zusammenhängen noch keine Poliklinik- oder sozialmedizinische Projekte auf dem Land oder in einem Dorf. Im April 2022 stand ein Artikel in der Tageszeitung »Main Echo« (04.04.2022) mit der Überschrift »Erste kommunale Arztpraxis Bayerns in Weilbach gescheitert – Gemeindeeigenes Gesundheitszentrum schließt im September«. Er war für uns Anlass, im Sommer nach Weilbach zu fahren und dort mit dem verantwortlichen Bürgermeister zu sprechen, um Genaueres über das Projekt zu erfahren. Dies wollten wir gerne bei einem Workshop im Rahmen des gesundheitspolitischen Forums mit anderen Interessierten diskutieren. Wir hatten uns außerdem per Zoom in den Workshop eingeladen Thomas Spies, der selbst Arzt ist und aktuell Oberbürgermeister der nordhessischen Stadt Marburg, die ebenfalls versucht, ein kommunales MVZ aufzubauen. Den Workshop haben ca. 40 Teilnehmer*innen des Gesundheitspolitischen Forums besucht.
Das erste kommunale MVZ Bayerns
Robin Haseler (SPD), der Bürgermeister von Weilbach hat das Projekt übernommen von seinem Vorgänger, Bernhard Kern (CSU). Haseler berichtet uns, dieser habe das Problem des Gesundheitssystems vor Ort erkannt: Der örtliche Arzt war 66 Jahre alt und hat keine Nachfolge gefunden; die Bevölkerung ist relativ alt und die Befürchtung war, dass der Kassensitz verloren gehe, wenn nicht in einer bestimmten Zeit ein Nachfolge gefunden würde. Deshalb hatte der CSU-Bürgermeister beschlossen, ein kommunales MVZ zu gründen, die Praxis des örtlichen Hausarztes aufzukaufen und das MVZ ab 01.04.2020 mit dem alten Hausarzt und einem neuen (zusammen 1,5 Sitze) zu besetzen. Die Kommune hatte aber keinerlei Expertise in dieser Hinsicht und hat sich beraten lassen von einem externen Berater, der sehr teuer war und 2018 Zahlen kalkuliert hatte, die sich später nicht als realistisch erwiesen haben. Sie hatten z.B. damit gerechnet, dass in der benachbarten Stadt Amorbach zwei Hausarztpraxen schließen und die Patient*innen von diesen Praxen nach Weilbach kommen würden. Diese Erwartung ist so nicht eingetroffen, so dass die Praxis viel zu wenige Patient*innen hatte für 1,5 Kassensitze (die Zahl der Patient*innen hätte max. für 0,75 Sitze gereicht). Hinzu kam, dass der alte Hausarzt in Weilbach extrem gute Bedingungen für sich ausgehandelt hatte. Die Gemeinde hatte außerdem dem neuen Arzt eine kostenlose Wohnung zur Verfügung gestellt, ihre Berater haben der Praxis die teuerste Praxissoftware angedreht, die es gibt etc.
Wir hatten den Eindruck, dass die Gemeinde an vielen Stellen des Haifischbeckens schlecht, nämlich nicht in ihrem, sondern im Eigeninteresse des Beraters beraten wurde. Die Kosten für Renovierung und Neuaufstellung der Praxis sowie Zuschüsse zum laufenden Betrieb beliefen sich seit 2018 insgesamt auf ca. 800.000 €. Diese Kosten konnte die Praxis nicht wieder einspielen. Der neue Bürgermeister hat das Projekt übernommen, als das MVZ schon geöffnet hatte. Unter den gegebenen Bedingungen konnte die Gemeinde das MVZ nicht so fortführen, dass es von den Kosten her halbwegs tragbar war. Das MVZ ist deshalb am 1. Oktober 2022 geschlossen worden und allen Angestellten wurde betriebsbedingt gekündigt.
Anfang 2023 soll ein hausärztliches MVZ durch eine gemeinnützige Genossenschaft in Amorbach gegründet werden, in das Weilbach eingegliedert werden soll. Es ist geplant ist, dass man in ein gerade entstehendes Gebäude in Amorbach zieht (mit anderen Mietern aus dem Gesundheitsbereich) und in Weilbach dann eine Zweigstelle in den Räumen des ehemaligen MVZ eröffnet wird, die aber nicht jeden Tag geöffnet sein wird.
Diese Genossenschaft Campus go eG, bei der Robin Haseler im Vorstand ist, wird beraten von der DIOMEDES GmbH (https://www.diomedes.de/) als Projektentwickler, die sich in Baden-Württemberg schon bewährt und darauf spezialisiert habe, gemeinnützige MVZ (Genossenschaften) zu beraten. Die Gründung der Genossenschaft wurde schon während des MVZ-Betriebes in Weilbach seit 2021 von den Mitgliedern der »Odenwald-Allianz« betrieben (8 Gemeinden aus dem Landkreis Miltenberg in Bayern sowie Michelstadt in Hessen). Weiteres Mitglied der Genossenschaft ist ein niedergelassener Arzt. Die Gemeinnützigkeit wird angestrebt und die Mitgliedschaft von Kapitalgesellschaften ist nach Satzung ausgeschlossen. Ein Telefongespräch mit einem Vertreter der Diomedes GmbH ergab, dass die MVZ-Gründung durch verschiedene länderspezifische Regelungen in Bayern komplizierter als gedacht ist, wodurch die Eröffnung sich in das 2. Quartal 2023 verschieben wird.
Diomedes betreut in Baden-Württemberg bereits 7 Genossenschaften zum Betreiben von MVZ, die auch untereinander vernetzt seien, z. B. mit Telemedizin. Genossenschafter sind zum Teil nur Kommunen, zum Teil sind auch Ärzt*innen dabei, in einer auch ein Krankenhaus. Die erste Genossenschaft war MEDNOS seit Anfang 2020, Träger Kreis Calw und mehrere Vertragsärzt*innen mit jetzt 6 Standorten. Diomedes verfolgt ein Konzept, dass auch die Einwerbung von Fördermitteln beinhaltet. Dabei wird angestrebt, unter dem Dach der Genossenschaft auch andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitsbereich zu beschäftigen. In Erprobung seien z. Zt. Physician Assistants und Community Health Nurses, geplant auch Case Manager. Prävention und Gesundheitsförderung seien in den Satzungen der Genossenschaften verankert sowie Gemeinwohlorientierung, eine Gewinnausschüttung sei ausgeschlossen. Die Realisierung der Ideen gestalte sich zum Teil aufgrund vieler Widerstände im System schwierig.
Unser Fazit aus der Erfahrung in Weilbach ist, dass wir uns die Probleme und Widrigkeiten der Eröffnung und Unterhaltung eines kommunalen MVZ nicht wirklich klar gemacht hatten. Eine Kommune, zumal wenn sei so klein ist wie der Ort Weilbach (2.100 Einwohner), hat nicht das Knowhow, das man braucht, um in die ambulante Versorgung einzusteigen. Die Gefahr, dass man in diesem Haifischbecken dann auch noch schlecht beraten wird, ist sehr groß, weshalb die Organisation solcher Vorhaben über gemeinnützige Genossenschaften mit guter uneigennütziger Beratung sicher sinnvoll ist – auch wenn jede externe Beratung natürlich das Risiko der Beeinflussung durch fremde Interessen mit sich bringt. Die Gründung eines kommunalen MVZ wie in Weilbach als »Anstalt öffentlichen Rechts« ist mit hohen finanziellen Risiken für die Gemeinden verbunden, weshalb dem komplizierteren Weg über die Genossenschaft der Vorzug gegeben werden sollte.
Der AK Ambulante Versorgung des vdää* plant in diesem Jahr einen Besuch sowohl in Amorbach, wenn das genossenschaftliche MVZ zu arbeiten begonnen hat, als auch in einem MVZ in Baden-Württemberg, das sich von Diomedes beraten lässt, um deren Erfahrungen mit uns zu diskutieren.
Kommunal unterstütztes MVZ Marburg
Thomas Spieß (SPD), Oberbürgermeister in Marburg berichtete uns, dass die Stadt Marburg in einem ärmeren Stadtteil mit ca. 2000 Menschen ein Nachbarschaftszentrum baut, in dem es auch Räume für eine Arztpraxis (für einen halben Arztsitz) geben soll. Die medizinische Versorgung dort soll eng verzahnt werden mit der Arbeit des Zentrums. Die Räume und die zusätzlichen Leistungen der Arztpraxis (z.B. in der Prävention, in der interdisziplinären Kooperation und für Supervision) und Anforderungen der Stadt werden aus städtischen Mitteln finanziert. Im letzten Jahr hatte die Stadt für das Projekt 50.000 Euro eingeplant. Marburg hat wegen der neuen Produktionsstätte von BioNTech sehr hohe Gewerbesteuereinnahmen, die ihr solche Projekte sehr einfach ermöglichen. Das MVZ wird nicht direkt von der Kommune Marburg geführt, sondern die Stadt sichert sich nur eine enge Zusammenarbeit mit dem MVZ und macht bestimmte Vorgaben.
Diskussion im Workshop
Die anschließende Diskussion im Workshop bezog sich hauptsächlich auf das Modell in Marburg und es wurde klar, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen den Problemen einer dörflichen Struktur wie in Weilbach / Amorbach und einer Stadt mit ca. 80.000 Einwohner*innen wie Marburg. Es macht einen großen Unterschied, ob man schon Strukturen wie ein Stadtteilzentrum mit Sozialarbeit etc. hat oder nicht wie z.B. in Hamburg auf der Veddel. Ein Teilnehmer gab zu bedenken, dass die Vorstellung von kommunaler Trägerschaft der Primärversorgung zu kurz greife, wenn sie nicht berücksichtige, dass es arme und reiche Kommunen gibt und dass man hier dann für einen Ausgleichsmechanismus sorgen müsste, der eine gleich gute Versorgung in allen Kommunen ermöglicht. Unklar blieb uns, wie genau die Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen und anderen Berufen in dem Nachbarschaftszentrum konkret organisiert werden wird. Die Teilnehmer*innen des Workshops hielten ist für sinnvoll, diese Zusammenarbeit nicht dem zufälligen Gespräch auf dem Flur zu überlassen, sondern sie zu organisieren bzw. zu institutionalisieren. Weiterhin wurde diskutiert, inwiefern das Marburger Projekt überhaupt für uns von Interesse bzw. ein Vorbild für uns ist oder ob es nicht eher einen Almosen-Charakter habe, weil sich eine reiche Stadt ein Zentrum für ärmere Menschen leiste. Dem wurde allerdings von Vielen widersprochen, da erstens jedes zarte Pflänzchen eines sozialmedizinischen Ansatzes zunächst einmal begrüßt werden müsse und da es zum anderen sinnvoll ist, weil es 2.000 Bewohner*innen dieses Stadtteils von Nutzen ist. Dies führte Diskussion dahin, welche Position der vdää* zu solchen und anderen Projekten und Modellvorhaben hat. Es wurde allgemein sehr begrüßt, dass man in vdää*-Zusammenhängen solche Probleme aus einer linken Perspektive mit großer Sachkenntnis und Menschen mit viel praktischer Erfahrung diskutieren kann, dass es aber angesichts der aktuell rasant wachsenden Zahl an Vorschlägen und Modellen von anderer ambulanter Versorgung sehr nützlich wäre, Analysen des vdää* zu haben. Es wurde diskutiert, ob es eine weitere Broschüre des vdää* oder aber eine Ausgabe der Zeitschrift zu diesem Thema geben solle. Es werden alle vdää*-Mitglieder eingeladen, beim AK Ambulante Versorgung, der tendenziell mit dem AK Stationäre Versorgung verschmolzen werden soll, mitzuarbeiten. Über evtl. geplante Exkursionen in den Odenwald und zu anderen MVZ-Genossenschaften werden die Mitglieder informiert. Was aus dem Projekt in Marburg wird, werden wir sicher bei der JHV 2023, die in Marburg stattfinden wird, erfahren.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)