Kritische Pflege – Kritische Medizin
Eine interprofessionelle Workshopreihe für eine solidarische Gesundheitsversorgung – von Kore Brand, Simon Gerhards, An-Yi Scharf
Sie ist angesichts der aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen längst überfällig: eine politische und aktivistische Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Pfleger*innen. Wie solidarische Vernetzung und politische Zusammenarbeit berufsgruppenübergreifend funktionieren kann, haben Medizinstudierende, die sich als Kritische Mediziner*innen Oldenburg organisieren, und Auszubildende einer Oldenburger Pflegeschule im Herbst 2022 erprobt. Wir organisierten gemeinsam eine Workshopreihe, die aus vier Einzelworkshops bestand. Unter dem Titel »Kritische Pflege – Kritische Medizin: Gemeinsame Workshopreihe für eine solidarische Gesundheitsversorgung« wurden gesundheitspolitische Themen von aktueller Relevanz aus einer möglichst interprofessionellen Perspektive bearbeitet und diskutiert: Kapitalismus im Gesundheitswesen und solidarische Arbeitskämpfe, Rekrutierung von Pflegekräften aus dem globalen Süden, Rassismus in der Gesundheitsversorgung und Genitalverstümmelung – FGM/C (Female Genital Mutilation/Cutting).
In diesem Artikel möchten wir aus Perspektive von drei am Projekt beteiligten Medizinstudierenden zunächst einige der Erkenntnisse aus den Workshops darstellen, die den interprofessionellen Gehalt der Themen aufzeigen. Dann gilt es die Erfahrungen zu reflektieren, die wir in der gesundheitspolitisch-aktivistischen Zusammenarbeit von Pflegeauszubildenden und Medizinstudierenden gemacht haben. Dieser zweite Teil basiert auf den Erkenntnissen aus einer Reflexionsrunde, an der sowohl beteiligte Medizinstudierende als auch Pflegeauszubildende teilgenommen haben.
Da gesundheitspolitische Problemlagen häufig mehr als eine Berufsgruppe in der Gesundheitsversorgung betreffen, aber unserer Erfahrung nach insbesondere Pflegekräfte häufig nicht gehört werden, kam die Idee auf, als Zielgruppe unserer gesundheitspolitischen Arbeit gezielt auch Pflegeauszubildende zu adressieren und am besten gemeinsam aktiv zu werden. Über den Verein Werkstatt Zukunft, der sich in Oldenburg für nachhaltige Bildung einsetzt und Teile der Workshops und Podiumsdiskussionen aufgezeichnet und als TV-Sendungen und über Youtube veröffentlicht hat (www.werkstatt-zukunft.org/themen/gesundeit), kamen die KritMeds mit der Pflegeschulleitung an einem Oldenburger Krankenhaus in Kontakt. Die Pflegeschulleitung zeigte sich an einer Zusammenarbeit interessiert und ermöglichte, dass Teile der Workshopreihe einmalig in das reguläre Curriculum für Auszubildende im dritten Ausbildungsjahr integriert wurden. Über die Pflegeschulleitung ergab sich außerdem der Kontakt zu vier Pflegeauszubildende, die an der Organisation einer gemeinsamen Workshopreihe mitwirken wollten. Die Workshopreihe wurde gemeinsam entwickelt und die einzelnen Workshops in interprofessionell zusammengesetzten Teams geplant und durchgeführt. Die ersten beiden Workshops wurden an der Pflegeschule als verpflichtende Unterrichtseinheiten durchgeführt, die anderen beiden als freiwilliges Angebot an der Universität Oldenburg.
Kapitalismus im Gesundheitswesen und solidarische Arbeitskämpfe
Der erste Workshoptag handelte von Kapitalismus im Gesundheitswesen. Die Einladung von Referent*innen gestaltete sich aus unserer Perspektive erstaunlich schwer, es schien, als hätten gerade Vertreter*innen von Krankenhäusern wenig Interesse, in der Öffentlichkeit über dieses Thema zu sprechen. Wir waren deshalb sehr dankbar dafür, dass Dr. phil. Nadja Rakowitz vom vdää* den rund fünfzig teilnehmenden Pflegeauszubildenden und Medizinstudierenden die problematischen Auswirkungen von Kommerzialisierung im Gesundheitswesen darstellte. Gemeinsam fragten wir uns: Wie können wir diesen begegnen? Diese Frage sollte gemeinsam mit Expert*innen im interprofessionellen Austausch behandelt werden. Vertreter*innen des Marburger Bunds, ver.di und des Bochumer Bunds, der 2020 gegründeten Spartengewerkschaft für Pflegeberufe nahmen dafür an dem Workshop teil.
Wir lernten, dass die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und die Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG) insbesondere zu Lasten der Pflege erfolgte: Arbeitsverdichtung, Personalmangel, Überlastung sind die Folgen. In der Logik von Krankenhäusern, die als profitorientierte Unternehmen geführt werden sollen, stehen Pflegende auf der Kostenseite, während Ärzt*innen benötigt werden, um die Diagnosen zu stellen und die Behandlungen durchzuführen, die nach den DRG vergütet werden. Außerdem führen im chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystem die erfolgreichen Arbeitskämpfe der einen Berufsgruppe zu Verknappung der Mittel in einer anderen Berufsgruppe. Deshalb ist der Einsatz für die Veränderungen des Gesundheitswesens zu Gunsten einer Finanzierung, die sich am Patient*innenwohl orientiert unbedingt interprofessionell. Nur im gemeinsamen Arbeitskampf können nachhaltige Veränderungen erreicht werden und politischer Druck gegen die Kommerzialisierung erzeugt werden.
Rekrutierung internationaler Pflegefachkräfte
Im zweiten Workshop fokussierten wir uns auf die Rekrutierung internationaler Pflegefachkräfte. Simon Ludwig-Pricha ist Leiter einer Pflegeschule, in der international rekrutierte Pflegekräfte für den Einsatz in Deutschland weitergebildet werden. Karen Spannenkrebs arbeitet für den vdää* im Rahmen des Projekts »Pillars of Health«, das sich kritisch mit der Abwerbung von Gesundheitsfachkräften in der europäischen Region auseinandersetzt. Zwischen den beiden entstand schnell eine kontroverse und gleichzeitig wertschätzende Diskussion zu der Frage: Kann internationale Rekrutierung überhaupt gerecht und nachhaltig sein?
Im Laufe des Tages wurde klar: Hinter dem Einsatz internationaler Pflegekräfte in deutschen Gesundheitseinrichtungen steckt so viel mehr als nur die Rekrutierung selbst. Es handelt sich um einen langwierigen Prozess, den Krankenhäuser jedoch angesichts ihrer großen Personalknappheit in Kauf nehmen. Schlechte Arbeitsbedingungen in der Pflege führen dazu, dass mehr und mehr Pflegekräfte ihren Beruf verlassen. Daraus entsteht ein Teufelskreis, der den Personalmangel verschärft. Die Rekrutierung internationaler Pflegefachkräfte verschiebt den Pflegemangel jedoch in andere Länder. Die Lücken im deutschen Medizinsystem werden zwar kurzfristig gestopft, aber die Wurzeln der Probleme (Ökonomisierung, schlechte Arbeitsbedingungen, Überforderung am Arbeitsplatz, unangemessene Bezahlung) werden nicht gelöst. Aus diesem Grund standen die Pflegeauszubildenden der Rekrutierung eher skeptisch gegenüber. Auch wird Rassismus als Problem im deutschen Gesundheitswesen genannt, das migrierende Pflegekräfte dazu bringt, Arbeit in anderen Ländern zu suchen.
Rassismus in der Gesundheitsversorgung
Referent*innen des Workshops zu Rassismus in der Gesundheitsversorgung waren Shreyasi Bhattacharya und Mai Ahmed. Shreyasi Bhattacharya ist Medizinstudentin und setzt sich für Antirassismus in der medizinischen Ausbildung ein. Mai Ahmend ist Pflegeschülerin im dritten Lehrjahr und engagiert sich für einen konstruktiven, kritischen Austausch in der Pflege zum Thema Rassismus. Es nahmen Pflegeauszubildende, Medizinstudierende und auch einige interessierte Studierende anderer Fächer an dem Workshop teil, der an der Universität Oldenburg stattfand.
Der Workshop hat noch einmal verdeutlicht: Nicht-weiß rassifizierte Personen erfahren im Gesundheitswesen rassistische Diskriminierung unabhängig davon in welcher Berufsgruppe sie arbeiten und auch, wenn sie als Patient*innen Hilfe suchen. Besonders für betroffene Pflegeauszubildende kamen Rassismuserfahrungen als eine immense Belastung im Berufsalltag zur Sprache. Erfahren sie Rassismus beispielsweise im Patient*innenkontakt, reagieren Praxisanleiter*innen, Kolleg*innen und Pflegeleitungen häufig mit Unverständnis und reproduzieren Rassismus. In der Medizin ist Rassismus institutionalisiert und findet sich beispielsweise in der unzureichend aufgearbeiteten Kolonialgeschichte der Medizin in Deutschland und in Form von rassistischem Pseudowissen in Leitlinien und klinischen Algorithmen wieder. Deutlich wurde insbesondere die berufsgruppenübergreifende Wichtigkeit, sich mit rassistischen Denkmustern auseinanderzusetzten, die häufig unbewusst internalisiert werden. Für ein antirassistisch geprägtes Arbeitsklima tragen alle Berufsgruppen Mitverantwortung. Gerade ein professioneller Umgang mit Patient*innen, die sich gegenüber dem Gesundheitspersonal rassistisch oder anders diskriminierend verhalten, und die antirassistische Unterstützung von Betroffenen ist Teamarbeit.
Genitalverstümmelung – FGM/C
Im letzten Workshop widmeten wir uns der globalen Frauengesundheit. Der Fokus lag auf Genitalverstümmelung. Mit Dr. Christoph Zerm, einem Gynäkologen im Ruhestand, und Delphine Takwi, einer interkulturellen Theologin, hatten wir zwei erfahrene Aktivist*innen gegen FGM/C gewonnen. Mary, Lola und Radwa, die als Kinder FGM/C erlitten haben, hatten den Mut, von ihren Lebensgeschichten zu erzählen und wie sehr die Genitalverstümmelung ihr Leben beeinträchtigt hat. Der Workshoptag endete mit einer spannenden Podiumsdiskussion, in der Betroffene und Vertreter*innen von Hilfsorganisationen über die Möglichkeit der verschiedenen Hilfsangebote sprachen. An dieser nahmen neben den oben genannten Personen Maren Kick von profamilia und Benjamin ter Balk von Netz Traumatisierter Flüchtlinge Niedersachsen (NTFN) sowie Mareille Malela, die von ihrer Flucht aus Kamerun erzählte, teil. Der Workshop wurde von Medizinstudierenden und Studierenden anderer Fakultäten besucht. Einige Pflegende äußerten, dass ihnen dieses Thema zu nahe ginge und sie deshalb nicht kommen wollten.
Es war ein bewegender und erschütternder Workshoptag. Wir lernten über die Arten der Beschneidung, die medizinischen Konsequenzen der Verstümmelung und was es für die sexuelle Selbstbestimmung und für das Leben der betroffenen Frauen bedeutet. Insbesondere die drei sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten von Mary, Lola und Radwa hat uns alle zutiefst berührt. Es wurde deutlich, dass Ärzt*innen und Pfleger*innen in Europa ein enormes Wissensdefizit in diesem Bereich aufweisen und insbesondere Ärzt*innen sehr häufig unangemessen auf betroffene Patientinnen reagieren. Betroffene berichten, teilweise angeschrien und beschimpft worden zu sein, als sie sich offenbarten, aber besonders auch nonverbale Reaktionen im Untersuchungskontext werden von den Betroffenen wahrgenommen und verschärfen das Gefühl, sich mit den eigenen Problemen nicht an Ärzt*innen in Deutschland wenden zu können. Zudem wissen selbst die meisten Gynäkolog*innen nicht, wie sie betroffenen Frauen helfen können, obwohl es durchaus Operationen und Hilfen anderer Art gibt. Dieses Verhalten kann retraumatisierend wirken und zeigt die Ignoranz der westlich dominierten Schulmedizin. In Deutschland sind ca. 60.700 Frauen von Genitalverstümmelung betroffen.
Herausforderungen der interprofessionellen Zusammenarbeit
Als wir als Kritische Mediziner*innen Oldenburg auf einer Veranstaltung unsere bisherige Arbeit zum Thema Rassismus in der Medizin vorgestellt haben, lautete eine Rückmeldung aus dem Publikum in etwa so: ›Das ist ja schön, dass Ihr das macht, aber warum organisiert Ihr Eure Workshops ausschließlich für Medizinstudierende und nicht auch für Menschen aus anderen Gesundheitsberufen?‹ Wir halten diese Frage für sehr berechtigt, auch wenn die Antwort so einfach wie ernüchternd ausfiel: Gesundheitspolitische Bildungsarbeit und Vernetzung für die eigene Gruppe ist unkomplizierter und einfacher zu realisieren. Diese Einschätzung bestätigte sich durch unsere Erfahrungen in der Planung und Durchführung der interprofessionellen Workshopreihe. Vier Herausforderungen, denen wir im Rahmen der Organisation der Workshopreihe begegnet sind, wollen wir im Folgenden darstellen, aber auch, welche Lehren wir daraus für zukünftigen Aktivismus in interprofessionellen Gesundheitskontexten ziehen, denn dieser ist unbedingt notwendig!
1. Organisation und Kommunikation in interprofessionellen Orga-Teams
Eine zentrale und sich auf fast alle Aspekte der Zusammenarbeit auswirkende Herausforderung ergab sich durch die recht unterschiedlichen Lebens- bzw. Arbeitsrhythmen und zeitlichen Verfügbarkeiten von Pflegeauszubildenden und Medizinstudierenden. Selbst wenn sich einige Medizinstudierenden gerade in Praktika oder Famulaturen befanden, konnten diese es meistens einrichten, an einem Planungstreffen am späteren Nachmittag teilzunehmen. Unzählige Versuche mit Terminplanungstools machten allerdings den Medizinstudierenden deutlich, dass die Praxiseinsätze der Pflegeauszubildenden mit erheblicheren Einschränkungen in der Freizeitgestaltung einhergehen. Und da vier Pflegeauszubildende zum Orgateam gehörten, kam es nicht selten dazu, dass diese in unterschiedlichen Schichten eingeteilt waren und es so wochenlang nicht möglich war, Termine zu finden, bei denen alle dabei sein konnten. Zusätzlich erschwert wurden Terminfindungen auf Seiten der Pflegeauszubildenden durch sehr kurzfristig vorliegende Dienstpläne und durch Anfragen zum außerplanmäßigen Einspringen aufgrund von Personalmangel auf den Stationen. Leichter gestalteten sich Terminfindungen, wenn sich die Pflegeauszubildenden im Theorieblock befanden. Es ist nicht zu unterschätzen, welche Auswirkungen es hat, wenn Treffen regelmäßig nicht mit allen Beteiligten stattfinden können: Immer wieder gingen Informationen verloren, kamen nicht bei den verantwortlichen Personen an oder wurden missverstanden. Das Gefühl einer Gruppe und ein Zusammenhalt stellte sich nur langsam ein. Dies wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsorte während der Praxisphasen die Planungstreffen ausschließlich online stattfanden. Auf dieser praktischen und organisatorischen Ebene zeigt sich, dass eine interprofessionelle Zusammenarbeit von beiden Seiten die Bereitschaft zum Kompromiss und zum Abweichen von gewohnten Wegen verlangt.
Unsere Schlussfolgerungen: Auch wenn den Qualitäten von Präsenztreffen die höhere Flexibilität von Online-Treffen gegenüberstehen, würden wir in Zukunft unbedingt zumindest die ersten Treffen für ein Kennenlernen in Präsenz planen. Terminfindungen müssen flexibel gestaltet werden und sich nach den Dienstplänen der Beteiligten richten. Die damit verbundenen Herausforderungen sind nicht zu unterschätzen.
2. Themenauswahl und Schwerpunktsetzungen
Obwohl sich die kritischen Mediziner*innen vorgenommen hatten, die Themen für die Workshops mit den Pflegeauszubildenden in einem ergebnisoffenen Prozess zu entwickeln, wurden letztendlich die Themenvorschläge, die die Kritischen Mediziner*innen vorbereitet hatten, komplett übernommen. Wir führen dies unter anderem darauf zurück, dass die Kritischen Mediziner*innen Gelegenheit hatten, im Vorfeld Themenideen zu entwickeln und diese dann in einem ersten Treffen präsentierte. Bei diesem Treffen wurde auch kommuniziert, dass leider die Zeit sehr knapp sei und zeitnah mit der Einladung von Referent*innen begonnen werden müsse. Die Pflegeauszubildenden fanden die vorgeschlagenen Themen zwar relevant und zeigten sich mit diesen einverstanden. Unserer Meinung nach lief dieser Prozess jedoch ungünstig ab: Mehr Zeit, eine ausführlichere Diskussion und eine expliziter formulierte Ergebnisoffenheit in der gemeinsamen Themenentwicklung hätten eventuell dazu geführt, dass andere Themen für die Workshops ausgewählt worden wären.
Die einzelnen Workshops wurden in interprofessionellen Kleingruppen organisiert. Hier zeigte sich, dass gerade bei Themen, bei denen bei allen Beteiligten der Kenntnisstand ähnlich war, die Zusammenarbeit besonders gut und auf Augenhöhe funktionierte: Gemeinsam wurde recherchiert, Referent*innen angeschrieben, der Workshopablauf geplant und die Moderation vorbereitet. Bei der Planung der Workshops zu den Themen, bei denen von vornherein ein größeres Wissensgefälle zwischen den Organisator*innen bestand, war es für die Beteiligten herausfordernder die Planung als gemeinsames Projekt zu begreifen und gestalten. Mitunter fielen den Auszubildenden aus der Pflege eher praktische und organisationsbezogene Aufgaben zu, während die Medizinstudierenden sich den theoretischen und inhaltlichen Aufgaben widmeten.
Unsere Schlussfolgerungen: Interprofessioneller Aktivismus braucht Zeit zur grundsätzlichen Verständigung und zum Kennenlernen. Der konkreten Planungsarbeit sollte ein möglichst offener Prozess zur Verständigung über Interessen, Erwartungen und Bedürfnisse vorangestellt werden.
3. Professionelle Sozialisation und Hierarchien
Wie schon bereits angeklungen, haben wir den Eindruck gewonnen, dass die berufspolitischen Hierarchien zwischen Ärzt*innen und Pfleger*innen auch unsere Zusammenarbeit strukturell geprägt hat. Tendenziell scheinen uns Entscheidungen häufiger zu Gunsten des Standpunktes von Medizinstudierenden getroffen worden zu sein. Dem (vermeintlichen) theoretischen Wissen von Medizinstudierenden schien tendenziell mehr Wert zugesprochen zu werden als der eher als praktisch wahrgenommenen Perspektive von Pflegeauszubildenden. Die Bedeutung dieser impliziten Hierarchien schien uns vor allem dort an Bedeutung zu verlieren, wo sich alle Beteiligten vor die gleichen Probleme gestellt sahen und gemeinsam Lösungen entwickeln mussten: z.B. ein Thema, das noch keiner der beteiligten Personen näher bekannt und verstanden war, ein Moderationstext, der kurzfristig geschrieben werden musste, oder die praktische Durchführung eines Workshops mitsamt der Koordination von Teilnehmenden und Dozierenden.
Unsere Schlussfolgerungen: Implizite Hierarchien können die Zusammenarbeit von interprofessionellen Teams prägen. Ein wahrlich interprofessioneller Aktivismus sollte diese Muster kritisch reflektieren und von vorn herein Maßnahmen ergreifen, die eine tatsächliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe ermöglichen.
4. Interprofessionelle Teilnehmer*innen gewinnen
Eine weitere Herausforderung bestand darin, für die interprofessionell organisierten Workshops auch eine interprofessionelle Teilnehmer*innenschaft zu gewinnen. Dafür machten wir uns viele Gedanken über den optimalen Zeitpunkt für die Workshops. Unter der Woche konnten wir die Workshops als Pflichtveranstaltung für die Pflegeschüler*innen anbieten. Da haben aber Medizinstudierende häufig Kurse, die mit einer Anwesenheitspflicht verbunden sind. Es war nicht möglich, die Workshops von Seiten der Universität ebenfalls als Lehrveranstaltung für Medizinstudierende anzubieten. Für das freiwillige Workshopprogramm konnten wir deshalb Medizinstudierenden besser am Wochenende gewinnen. Die Pflegeschüler*innen jedoch hatten am Wochenende entweder Dienst oder wollten in ihrer Freizeit nicht eine weitere Lehrveranstaltung besuchen. Vor dem Hintergrund dieser entgegengesetzten Terminrahmungen entschieden wir uns für je zwei Veranstaltungen unter der Woche in den Räumlichkeiten der Krankenpflegeschule und am Wochenende an der Universität. Wir hatten früh mit Werbung begonnen (»save the dates« in verschiedensten Channels und auf Instagramm sowie der Website von Werkstatt Zukunft, viele Plakate und Flyer). Die ersten zwei Veranstaltungen waren mit 50 Teilnehmer*innen gut besucht. Dies lag auch daran, dass es Pflichtveranstaltungen für die Pflegeschüler*innen waren. Leider sind außer dem Orgateam keine Medizinstudierenden gekommen, obwohl sich sogar ein paar angemeldet hatten. An den Wochenendveranstaltungen war es umgekehrt. Es kamen um die 15 Teilnehmer*innen, mit Abstand die meisten von der Uni.
Unsere Schlussfolgerungen: Wir haben diese Workshopreihe interprofessionell vorbereitet, aber noch keinen Weg gefunden, durchweg eine ebenfalls ausreichend interprofessionell zusammengesetzte Teilnehmendenschaft zu gewinnen. Eine Möglichkeit liegt in der Implementierung verpflichtender interprofessioneller Veranstaltungen in die Curricula von Ausbildungen und Studium. Für aktivistisches Engagement scheint uns eine langfristigere Zusammenarbeit von Pflegenden und Medizinstudierenden sinnvoll, da Teilnehmende besonders gut durch einen persönlichen Bezug zum Orga-Team gewonnen werden können.
Fazit: Weshalb interprofessioneller Aktivismus im Gesundheitswesen notwendig ist
Wenn gesundheitspolitischer Aktivismus in interprofessionellen Gruppen mit so vielen Herausforderungen verbunden ist, warum diesen mühsamen Weg wählen? Wir hoffen, dass deutlich geworden ist, dass die Auseinandersetzung mit aktuellen gesundheitspolitischen Themen in interprofessionellen Gruppen gewinnbringend und lehrreich ist. Nur so wird die umfassende Komplexität der Probleme deutlich und kann die Solidarität zwischen den Berufsgruppen gestärkt werden. Die Ausbildungswege unterschiedlicher Gesundheitsberufe und insbesondere von Ärzt*innen und Pflegekräften verlaufen getrennt und treffen sich erst sehr spät. Der interprofessionellen Realität der praktischen Gesundheitsversorgung begegnen Medizinstudierende beispielsweise häufig erst im PJ und ohne, dass sie in diese strukturiert eingeführt wurde. Darin sehen wir auch die Hindernisse einer interprofessionellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe begründet, denen wir einerseits in unserem Aktivismus begegnet sind, die aber auch in der Praxis immer wieder eine Rolle spielen. Deshalb erachten wir interprofessionelle Lehrangebote, die Raum schaffen für Perspektivübernahme und gemeinsame Lernerfahrungen als wichtiges Element der Ausbildungen. Allerdings sind solche Veranstaltungen bislang nur selten in den Curricula verankert. Räume für interprofessionelle Ausbildung werden häufig nur durch Engagement der Auszubildenden und Studierenden geschaffen.
Außerdem sind die Themen, mit denen sich Gruppen Kritischer Medizinstudierenden in ganz Deutschland beschäftigen nur selten auf die Berufsgruppe von Ärzt*innen begrenzt: Die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens betrifft z.B. alle und Arbeitskämpfe sind erfolgreicher, wenn sie von mehreren Berufsgruppen mitgetragen werden. Diskriminierung im Gesundheitswesen macht vor Berufsgruppengrenzen keinen Halt und diskriminierungskritische Gesundheitsversorgung sollte von allen Beteiligten umgesetzt werden. Wir sind auf Basis unserer Erfahrungen der Meinung: Das Zusammenbringen von Perspektiven aus unterschiedlichen Berufsgruppen kann die Entwicklung umfassenderer Lösungsansätze anstoßen und ihre Umsetzung erleichtern und nachhaltiger gestalten. Wir würden uns deshalb freuen, wenn unsere hier geschilderten Erfahrungen zur Verwirklichung von mehr interprofessionellem Aktivismus im Gesundheitswesen beitragen.
Für Rückfragen stehen die KritMeds Oldenburg gerne bereit: kritmedsol(at)riseup.net und wer Interesse hat, die Vorträge und Podiumsdiskussionen online zu schauen, kann dies tun auf: werkstatt-zukunft.org/themen/gesundheit
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)