Professorin und Bakteriologin im Kaiserreich
Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871–1935)
Rezension von Gine Elsner
Die meisten Menschen kennen Robert Kempner, den Stellvertreter des Chefanklägers Robert Jackson im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Kaum einer weiß aber, warum er »Robert« heißt. Und wie er zu seinen weiteren Vornamen »Maximilian Wassiliy« kam. Die Namen suchte – wie meist – die Mutter aus: Lydia Rabinowitsch-Kempner, eine Jüdin aus dem russischen Zarenreich; den Namen Robert gab sie ihrem Sohn, weil Robert Koch, bei dem sie arbeitete, der Patenonkel ihres Kindes wurde.
Man hört so oft von den Schülern Robert Kochs. Männern. Die Fernsehsendung über die Charité zeigte die berühmtesten, Paul Ehrlich und Emil Behring. Dass Robert Koch aber auch eine Schülerin hatte (eine einzige), erfährt man selten. Das war Lydia Rabinowitsch-Kempner, die (gleich alt wie Rosa Luxemburg) in der Schweiz Botanik und Zoologie studierte und das Studium mit einer Promotion zum Dr. phil. abschloss.
Es ist ein Verdienst, an diese Frau zu erinnern. Das Verdienst gebührt dem Verlag Hentrich & Hentrich, der ein kleines Büchlein in der Reihe der Jüdischen Miniaturen herausgebracht hat, das für 8 Euro für jeden erschwinglich ist. Der Verdienst gehört aber auch den Autoren: Katharina Graffmann-Weschke, auf deren 1999 erschienene medizinische Dissertation der Text beruht, und an den Zweitautor, Benjamin Kuntz, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts. Benjamin Kuntz hat Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld studiert und promovierte 2014 zum »Doctor of Public Health«. Es ist seine fünfte jüdische Miniatur. Die zweite über eine Frau.
80 Seiten umfasst das vorliegende Büchlein und verweist auf die wichtigsten beruflichen Stationen von Lydia Rabinowitsch-Kempner: Nach ihrer Promotion 1896 begann sie, im Königlichen Preußischen Institut für Infektionskrankheiten zu arbeiten, das der König 1891 Robert Koch spendiert hatte. Heute heißt das Institut »Robert-Koch-Institut« (RKI) und ist seit der Coronapandemie allen Menschen in Deutschland bekannt. Robert Koch stellte seiner jungen Schülerin zwar einen Arbeitsplatz zur Verfügung, sie bekam aber kein Gehalt. Nur dank des familiären Vermögens war sie in der Lage, ihre Forschungen zu betreiben. Die betrafen zeit ihres Lebens vor allem die Tuberkulose. In der Familie – Lydia hatte 1898 geheiratet und bekam drei Kinder – wurde musiziert, jedes Familienmitglied spielte ein Instrument. Auf die Frage, welches Instrument denn seine Mutter spiele, sagte Robert Kempner: »Sie spielt die Tuberkulose.«
Lydia Rabinowitsch-Kempner bekam 1912 vom preußischen König (und deutschen Kaiser) Wilhelm II. den Titel einer Professorin verliehen. Sie wurde gut 20 Jahre später, 1934, aus dem Krankenhaus Moabit, wo sie als Bakteriologin beschäftigt war, wegen ihrer jüdischen Herkunft entlassen. Ihre US-amerikanischen Kontakte halfen, den Söhnen die Emigration zu ermöglichen. Die Tochter war 1931 an Tuberkulose gestorben. Lydia starb 1935.
Das kleine Büchlein wird hoffentlich viel gelesen werden und die Erinnerung an diese bemerkenswerte Frau aufrecht halten.
Katharina Graffmann-Weschke / Benjamin Kuntz: Lydia Rabinowitsch-Kempner. Bakteriologin, Tuberkuloseforscherin. Berlins erste Professorin. Berlin/Leipzig 2022, 8 Euro, ISBN 978-3-95565-570-9
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)