Ein Wochenende voll Ansporn, Zusammenhalt und Tatkraft
Simon Barman zum Vernetzungstreffen Kritische Medizin deutschlandweit
Erschöpft sitze ich im Zug auf dem Weg von Halle an der Saale zurück nach Freiburg. Hinter mir liegt ein Wochenende voll von Eindrücken, spannenden Vorträgen, lehrreichen Workshops, intensiven Gesprächen, inspirierenden Begegnungen und viel Spaß. Anlass dazu war das 5. Vernetzungstreffen der Kritischen Medizin vom 04. bis 06.11.2022 auf dem Campus der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Kritische Medizin-Gruppen gibt es inzwischen an über fünfzehn Medizinfakultäten, teils unter diesem Namen, teils als Kritische Mediziner*innen, Sintoma Halle oder Ähnliches. Als Gruppen sind sie an die ortständige Fachschaft angegliedert oder davon unabhängig und sie sind explizit offen für Menschen aus allen Bereichen des Gesundheitswesens, um so eine möglichst breite Vielfalt darzustellen. Was zudem alle vereint, ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Gesundheitssystem. So plädieren sie für ein solidarisches Gesundheitssystem, das allen Menschen entsprechend ihrer Bedürfnisse eine gleichwertige medizinische Behandlung ermöglicht. Dies umfasst insbesondere: Gendergerechtigkeit, körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit, globaler und gerechter Zugang zu medizinischer Versorgung, Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, und den Kampf gegen institutionellen und strukturellen Rassismus in der Medizin, den Kampf gegen Ökonomisierung und Privatisierung im Gesundheitswesen und gegen patriarchale und sexistische Strukturen im medizinischen Alltag und gegen die Klimakrise.
Und genau mit diesen Themen haben sich ca. 150 junge Menschen aus über 20 Städten aus dem deutschsprachigen Raum, denn auch ein paar Menschen aus Österreich fanden den Weg nach Halle, an diesem Wochenende intensiv beschäftigt. Am Freitagabend ging es direkt los mit einer tollen Auftakt-Podiumsdiskussion zum Thema Tarifstreik. Das Programm für den Samstag war aufgeteilt in sechs Blöcke, von Ökonomisierung, über Diskriminierung im Gesundheitswesen, LGBTQIA* & Gender bis zu sozialer Gerechtigkeit. Innerhalb dieser Blöcke standen am Vor-, und am Nachmittag insgesamt 23 Vorträge und Workshops auf dem Programm und so hatten die Teilnehmenden eine großartige Auswahl, um sich weiterbilden, inspirieren und connecten zu können. Am frühen Abend gab es zusätzlich Zeit auf dem Markt der Möglichkeiten, sich als Ortsgruppen auszutauschen und es war Raum für andere Gruppierungen sich zu präsentieren:, der Heile Welt-Podcast, Ende-Gelände Halle, Ver.di und der vdää* etc. stellten sich hier vor. Somit konnte dieser Tag nach sehr viel Input und einer Fülle an Eindrücken mit Vernetzung und Gesprächen abgeschlossen werden.
Das ganze Wochenende wurde organisiert von einer Gruppe KritMedis, die sich aus Leipzig, Köln, Berlin, Freiburg und Halle zusammenfand und in unaufhaltbarem Eifer, mit unzähligen Online-Konferenzen, Telefonaten, Mailverkehr und ganz viel Herzblut diese Veranstaltung auf die Beine stellte. Von drei Mahlzeiten am Tag (zubereitet von Ende Gelände Halle), über eine Bettenbörse, dem ganzen inhaltlichen Programm, den Kontakt mit den Dozierenden, die Finanzierung, das Rahmenprogramm am Freitag- und Samstagabend, die ganze Logistik vor Ort und so vieles mehr. Das war ein Kraftakt, gleichzeitig sieht man, was möglich ist, wenn man anpackt und gemeinsam an einem Strang zieht, denn es beflügelt und diese Energie war das ganze Wochenende zu spüren.
Natürlich könnte man kritisch anmerken, es ist noch nichts erreicht, wenn man sich ein Wochenende in alle möglichen Richtungen weiterbildet und austauscht und dann wieder nach Hause fährt. Aber es ist so wichtig, sich zu solidarisieren, Allianzen zu knüpfen und zu verstehen, dass es sind viele sind, die etwas bewegen wollen. Und in diesem Bewusstsein kann man dann Gelerntes weitergeben, als Multiplikator*in den Kontakt zu Entscheider*innen suchen, in der Heimatstadt mit anderen Gruppierungen auf die Straße gehen, man kann Workshops austauschen und diese halten, Ideen für Aktionen gemeinsam erarbeiten, Erfahrungen teilen und das allein ist total viel Wert. Oder auch einfach nur den späteren Beruf und Arbeitsplatz als eine Chance nutzen, für eine bessere Arbeitssituation und eine möglichst gute und gleiche Versorgung aller Menschen einzustehen. Genau dafür braucht es solche Treffen und so endete das Vernetzungstreffen nach weiteren Programmpunkten am Sonntagvormittag mit einem Abschlussplenum und der Gewissheit, dass es auch nächstes Jahr, sollten es die äußeren Umstände zulassen, ein Vernetzungstreffen der Kritischen Medizin Deutschland geben wird.
Simon Barmann ist Medizinstudent im 9. Semester in Freiburg und Teil der kritischen Mediziner*innen dort. Ihn interessieren die Themen: Sexualität, Geschlecht, Diskriminierungsformen und Ökonomisierung.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)