Vertuscht und nicht verurteilt – wie kann das gehen?
Karl H. Beine über Niels Högel und seine Vorgesetzten
Vor mehr als 22 Jahren, im Februar 2000 hatte die Mordserie des damaligen Krankenpflegers Niels Högel begonnen. Wie wir inzwischen wissen, hat er auf zwei Intensivstationen Patient*innen unbemerkt ermordet, zunächst 29 in Oldenburg und danach 58 in Delmenhorst. Högel mordete stets nach dem gleichen Muster. Er vergiftete die Patienten*innen mit Medikamenten, meistens mit Ajmalin, einem schon damals kaum verordneten Herzmittel – um sie anschließend zu reanimieren. 87 Menschen überlebten diese Anschläge nicht. Um das festzustellen, brauchte die Oldenburger Gerichtsbarkeit mehr als 19 Jahre und vier Strafprozesse: Högel hatte über Jahre kaltschnäuzig und geschickt gelogen. Er gab nur zu, was beweisbar war. Entscheidend war aber, dass unwillige Staatsanwälte schlampig ermittelt und Högels Vorgesetzte vertuscht haben. 2019 endete der letzte Prozess.
Die Klinikverantwortlichen schwiegen, kooperierten nur zögerlich mit den Ermittlern und stellten den Mitarbeiter*innen Anwälte zur Seite. So war bei den meisten Zeugen, besonders, wenn sie noch auf der Gehaltsliste der Oldenburger Klinik standen, eine unerklärliche Erinnerungslosigkeit in Kombination mit wortgleichen Abwehrfloskeln zu verzeichnen. Glaubhaft war das alles nicht.
Imageschaden für die Klinik vermeiden
Nach Abschluss der Verfahren gegen Niels Högel begann im Februar 2022 der Prozess gegen ehemalige Vorgesetze, vier aus Oldenburg und drei aus Delmenhorst. Die Anklage lautete auf »Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen«. Andere in Betracht kommende Straftatbestände, z.B. fahrlässige Tötung, (grob) fahrlässige Vernachlässigung der Aufsichtspflichten waren längst verjährt. Die sieben Beschuldigten wurden im Prozess von achtzehn Anwälten vertreten. Für die Prozesskosten hat das Oldenburger Klinikum eigens 624.000 Euro zurückgestellt.
Es war nämlich schon in Oldenburg aufgefallen, dass Högel bei Notfallsituationen immer sofort da war und sich beim Reanimieren in den Vordergrund drängelte. An einem Wochenende im September 2001 kam es im Nachtdienst von Niels Högel zu außergewöhnlich vielen Reanimation und Todesfällen. Vom »Horrorwochenende« und vom »Todes-Högel« war hinter vorgehaltener Hand die Rede. Der Chefarzt Prof. Dr. Otto D. ließ eine Liste erstellen, die zeigte, dass keine andere Person bei derartig vielen Reanimationen im Dienst war wie Högel. Seine Oberärzte soll Otto D. aufgefordert haben, »ein Auge« auf Högel zu haben. Den Vorschlag, die Ermittlungsbehörden einzuschalten, bügelte der Geschäftsführer Rudolf M. barsch ab. Keine Beweise und schädlich fürs Krankenhaus.
Auf Drängen des Chefarztes wechselte Högel schließlich die Abteilung. Als es auch hier zu Zwischenfällen kam und das Misstrauen wuchs, machte man ihm ein »Angebot«: Entweder ab sofort Einsatz im Hol- und Bringedienst oder Auflösungsvertrag mit gutem Zeugnis und Fortzahlung der Bezüge für mehrere Monate. Den Oldenburger Betriebsrat bat Rudolf M. darum, Högel zum Verlassen des Hauses zu motivieren, um einen Imageschaden für die Klinik zu vermeiden. Dass Högel
die Notfälle eventuell auch versehentlich verursacht haben könnte, hielt Rudolf M. für »nahezu ausgeschlossen«, so steht es in einem Betriebsratsprotokoll aus dem Jahr 2002.
Schließlich hat Högel das Oldenburger Klinikum verlassen. Zur »vollsten Zufriedenheit« hat er seine Aufgaben erledigt, bei Mitarbeitern und Vorgesetzten war er »beliebt und geschätzt« – so wurde es ihm von der Pflegedienstleiterin Tiebe O. und Rudolf M. bescheinigt. Högel wechselte nach Delmenhorst und brachte hier nach einer Woche den ersten Patienten um, 57 weitere Opfer folgten, bis er im Juli 2005 verhaftet wurde.
Auch in Delmenhorst gab es bald Auffälligkeiten. Kollegen*innen fiel auf, dass die meisten Patient*innen jeweils während oder kurz nach der Dienstzeit von Högel starben. Das sorgte für Gerüchte und dafür, dass einige Kolleg*innen verabredeten, genauer hinzuschauen. Doch als Högels Vorgesetzte über das verdächtige Verhalten informiert wurden, reagierten diese schroff abweisend: Sie solle sich nicht so anstellen, wenn sie das nicht mehr könne, dann müsse sie eben aufhören – so wurde eine Krankenpflegerin abgefertigt. Der Verbrauch des von Högel bevorzugten Medikamentes Ajmalin stieg in Delmenhorst um das Siebenfache. Ärztlich verordnet wurde das Medikament kaum. Der Verbrauchsanstieg war aufgefallen. Die Reaktion der Führungskräfte: Ohne weitere Prüfung wurde das Bestellverfahren vereinfacht.
Ein konkreter Verdacht gegen Niels Högel kam bei einem Kollegen im gemeinsamen Nachtdienst auf. Nach einer Reanimation mit tödlichem Ende fand er leere Ajmalinampullen im Abwurf. Niemandem war das verordnet worden. Den Fund reichte er an Vorgesetzte weiter, ohne Reaktion. Inzwischen steht fest, dass Niels Högel danach noch drei Menschen ermordete. Seinen letzten Mord beging er, obwohl er auf frischer Tat ertappt worden war und obwohl man bereits Ajmalin im Blut des Patienten nachgewiesen hatte. Man ließ ihn weiterarbeiten, bevor er am nächsten Tag in Urlaub ging. In seinem letzten Dienst konnte Högel ein weiteres Mal töten.
Führungspersonal als Aufdeckungsbarriere
Da drängt sich die Frage auf, warum man Högel nicht gestoppt hat, obwohl viele wussten, dass er für Patient*innen gefährlich war und mit unerklärlichen Notfällen in Verbindung gebracht worden war.
In seinem Statement zu Beginn des Prozesses im Februar 2022 behauptete ein Verteidiger, dass Tötungsserien in Kliniken damals noch gar nicht vorgekommen seien. Es sei absurd, in einem auf Lebenserhaltung angelegten Haus so etwas zu erwarten.
Die Führungskräfte in Oldenburg und Delmenhorst hätten aber wissen können, ja wissen müssen, dass es allein im deutschen Sprachraum bereits damals fünf juristisch abgeschlossene Tötungsserien in Kliniken gegeben hatte. Sie hatten sämtlich großes mediales Aufsehen erregt.
Keine Führungskraft suchte das direkte Gespräch mit dem auffälligen Pfleger, konfrontierte ihn mit dem Verdacht. Ein ernsthafter Versuch, die vorhandenen Gerüchte zu klären, fand schlicht nicht statt. Stattdessen versuchte man, Högel aus dem eigenen Verantwortungsbereich geräuscharm mit Geld und einem unredlichen Zeugnis zu entfernen und so das Problem anderen aufzubürden. Die Oldenburger Verantwortlichen hätten verhindern können, dass die 58 Delmenhorster Opfer einem Patientenmörder in die Hände fielen.
Offensichtlich fühlte sich die Oldenburger Führungsriege mehr dem Ruf des Hauses verpflichtet als der Patientensicherheit. Das ist nur folgerichtig, wenn Krankenhäuser zu Wirtschaftsbetrieben gemacht werden und die Macht bei den Kaufleuten liegt. Wenn – wie in deutschen Kliniken üblich – fiskalische Erwägungen das Geschehen dominieren, dann müssen Imageschäden unbedingt vermieden werden. Kratzer auf den Hochglanzbroschüren und negative Schlagzeilen wollte man vermeiden, wo die Oldenburger Herzchirurgie doch im März 2001 ihre 10.000te Herzoperation mit Herz-Lungen-Maschine und Prof. D. stolz eine deutliche Zunahme der Eingriffe rühmte. Zur gleichen Zeit trieb Niels Högel dort sein Unwesen.
Die Frage, ob die Vorgesetzten von Niels Högel mitverantwortlich sind für den erschreckend langen Tatzeitraum und die vielen Opfer, kann strafrechtlich nicht mehr geklärt werden. Fahrlässigkeitsdelikte sind verjährt. Verjährt sind auch Entschädigungsansprüche der überlebenden Opfer und der Hinterbliebenen. Sie gehen leer aus.
Alle sieben Beschuldigten wurden vom Vorwurf der »Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen« freigesprochen. Einzig dieser Straftatbestand war noch nicht verjährt. Für eine Verurteilung im Sinne der Anklage hätte das Gericht aber sicher sein müssen, dass die angeklagten Führungskräfte von den Tötungen wussten und damit einverstanden waren. Sie wussten wahrscheinlich nicht, dass Högel vorsätzlich getötet hat, und einverstanden waren sie damit gewiss auch nicht. Aber sie wussten schon damals, dass Högel für ihre Patient*innen gefährlich war, und sie ließen ihn gewähren.
Freigesprochen wurden die Beschuldigten zwar vom Vorwurf der »Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen«. Ihr tödliches Führungsversagen bleibt ungesühnt.
Dieses Ende ist für das deutsche Gesundheitswesen und die damalige Oldenburger Justiz sicher kein Grund zum Feiern. Noch weniger für die Opfer und die Hinterbliebenen. Enttäuschung, Ratlosigkeit und Bitterkeit waren zu spüren. Die Schuldgefühle bei den ehemaligen Angeklagten müssen sich in Grenzen gehalten haben. Sie haben erstmal zünftig gefeiert.
So kann es laufen, wenn der moralische Kompass abhandenkommt und rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerungen strafrechtliche Prüfungen verhindern.
Prof. em. Dr. med. Karl H. Beine, Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit/Department Humanmedizin, karl.beine (at) uni-wh.de, www.khbeine.com
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2022)