Ein Nachruf auf den Sozialpsychiater Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner
von Karl H. Beine
Klaus Dörner (22. November 1933 – 25. September 2022)
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Klaus Dörner hat diese Kierkegaardsche Weisheit konsequent angewendet auf die Psychiatrie.
Grundlegend seine Studie »Bürger und Irre« von 1969, mit der zentralen Botschaft, dass die Kasernierung der »Unvernünftigen«, der »Irren« und damit ihr Verschwinden aus dem gemeinschaftlichen Alltag gefährlich ist.
Mit Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit 1968 in Hamburg traf er auf eine Psychiatrie, die ihre jüngere Geschichte verdrängt hatte. Allzu verstrickt waren die nach 1945 psychiatrisch Verantwortlichen in die Verbrechen der deutschen Psychiatrie zwischen 1933 und 1945. Es folgte ein jahrelanger zäher Kampf um die Rehabilitation der Opfer, denen allzu lange Anerkennung und Entschädigung verweigert wurden. Hartnäckig und mit großem Engagement gelang es Klaus Dörner, dass der Nürnberger Ärzteprozess von 1946/47 vollständig dokumentiert wurde und er 2001 – gemeinsam mit Angelika Ebbinghaus – den Sammelband »Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen« herausgeben konnte. Diese Medizinverbrechen waren auch möglich geworden, weil eine seelenlose Medizinbürokratie zentralen Zugriff auf die psychisch kranken Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten hatte.
Diese historische Erfahrung hat seine tiefe Skepsis gegen die dauerhafte Unterbringung von chronisch psychisch kranken Menschen begründet. Und so hat er in seiner Zeit als leitender Arzt der Westfälischen Klinik in Gütersloh zwischen 1980 und 1996 bewiesen, dass die Dauerhospitalisierung chronisch psychisch kranker Menschen unsinnig und menschenfeindlich ist und sämtlichen sogenannten »Langzeitpatienten« der Gütersloher Klinik ein freies Leben in ihrer Heimatgemeinde ermöglicht. In seinem Buch »Ende der Veranstaltung: Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie« wurden die Ergebnisse zusammengetragen. Hier kann man nachlesen, wie sich die Lebensqualität der sogenannten Langzeitpatient*innen entwickelt hat.
Von 1986 bis 1996 war Klaus Dörner der Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Einzig war seine Art zu lehren. »Die Person ist das einzige Mittel in der Psychiatrie, das zählt« – das war einer seiner Lehrsätze. Er hatte ein echtes Interesse für den Anderen, den Fremden und ein feines Gespür für die Grenzen des Verstehens. Die Anleitungen für ein solches Psychiatrieverständnis sind in seinem gemeinsam mit Ursula Plog verfassten Lehrbuch »Irren ist menschlich« überzeugend beschrieben.
Die wohl schwierigste Zeit seines Berufslebens hat Klaus Dörner in den Jahren 1990/91 erlebt. Er musste erfahren, dass in der eigenen Gütersloher Klinik ein Krankenpfleger schutzbefohlene Patient*innen getötet hatte. Dörner ist offen mit eigenen Fehlern umgegangen und hat seine Überlegungen dazu mehrfach aufgeschrieben und in einem eindrücklichen Vortrag 1992 in Berlin referiert.
Klaus Dörner war nie everybodys darling. Er wurde in Hamburg als Chefarzt nicht gewollt. »Ich war ein rotes Tuch für alle anständigen Hanseaten« – so sagte er es selbst einmal. Sein konsequentes Eintreten für die Rechte psychisch kranker Menschen war keinesfalls unumstritten. Klaus Dörner sagte, was er dachte, und tat, was er sagte.
Die deutsche Psychiatrie verliert eine prägende und inspirierende Persönlichkeit – aber: Das Leben wird rückwärts verstanden und vorwärts gelebt.
Witten, im Oktober 2022
Karl H. Beine war der Nachfolger von Klaus Dörner auf dem Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2023)