Vom Marburger Kongress 1973 zum Gesundheitspolitischen Forum 2023
»Die Geister, die sie riefen …« mahnte der Titel eines Berichtes im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) 5/1973 über den Kongress »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt«, der am 20./21. Januar 1973 in Marburg tagte. Im Untertitel heißt es gar »Wie sich ›revolutionäre Traumtänzer‹ den ›sozialistischen Arzt‹ vorstellen.« Was erhitzte die Standesgemüter so übermäßig? Offensichtlich wurde diese Veranstaltung als Provokation empfunden. Was war geschehen?
An diesem Wochenende trafen sich 1.800 Personen um über Veränderungspotentiale im Gesundheitswesen zu diskutieren. Unter den Teilnehmenden waren Personen aus unterschiedlichen medizinischen Fachberufen – wobei Ärzt*innen und Medizinstudierende überwogen - Berufsvertreter*innen aus dem Sozialwesen, Gewerkschafter*innen, Kommunalpolitiker*innen, Wissenschaftler*innen etc.
Der den Kongress vorbereitende Initiativausschuss postulierte für die Gesundheitsberufe eine soziale Parteilichkeit, »die über die medizinische Hilfestellung für den einzelnen Menschen hinausdrängt.« Daraus wurde abgeleitet: »Die Bekämpfung von Krankheit und sozialen Missständen ist immer auch Parteinahme gegen ihre gesellschaftlichen und politischen Ursachen und für die Betroffenen.« Damit war die Frage der Klassenmedizin in der kapitalistischen Gesellschaft aufgeworfen. Neben teilweise kontrovers diskutierten Einschätzungen des Gesundheitssystems in der BRD wurden die zwei Tage genutzt, um einige Themenfelder gründlicher zu bearbeiten. Intensiv diskutiert wurde über die ambulante Versorgung. Dabei schmerzte es den Autor des erwähnten DÄB-Beitrages besonders, dass Forderungen nach Ambulatorien und Polikliniken als Alternative zur Einzelpraxis viel Zuspruch fanden. Thematisiert wurden auf dem Kongress auch die unterschiedliche regionale Verteilung der Arztpraxen und die Problematik der Arzthonorierung. Die Diskussion um die stationäre Versorgung war u.a. geprägt von der Vorstellung des »klassenlosen Krankenhauses«, dessen Umsetzung an mehreren Orten angestrebt wurde. Auch der Personalmangel in den Kliniken wurde ausführlich thematisiert.
Aus heutiger Sicht ist auffallend, welche große Rolle die Arbeitsmedizin und die psychiatrische Versorgung spielten. Sicherlich dominierte auf dem Kongress die ärztliche Sichtweise, aber immerhin gab es neben der ärztlichen Ausbildung auch einen Schwerpunkt, der sich mit der Krankenpflegeausbildung beschäftigte.1 Der Kongress positionierte sich gegen eine Standespolitik, deren Vertreter (Frauen spielten keine Rolle) zu einem guten Teil noch ihre ideologischen Wurzeln in der NS-Zeit hatten.
Der Marburger Kongress nahm die Impulse der kritischen Medizin in der Studentenbewegung auf und wirkte selbst als Impulsgeber für die nachfolgenden Generationen kritischer Mediziner*innen. Die Akteur*innen der kritischen Medizin gingen nach 1973 unterschiedliche Wege. Einige kandidierten auf Listen zu Wahlen in den Ärztekammern, deren Zusammenschluss letztlich zur Gründung des VDÄÄ (heute vdää*) führte. Andere organisierten Gesundheitstage (1980, 1981, 1984). Dabei wurde so mancher Irrweg begangen und nicht selten landeten wir in Sackgassen. Dennoch gelang es, die gesundheitspolitischen Debatten nicht unerheblich zu beeinflussen.
Eine Reihe von Kernthemen, die die Diskussionen auf dem Marburger Kongress prägten, sind auch heute leitend für die Arbeit des vdää*. Sie stellen sozusagen die Essenz linker Gesundheitspolitik dar und prägten über Jahrzehnte die Programmatik des vdää*:
* Medizinische Versorgung darf sich nicht an kommerziellen Interessen orientieren; die Ausrichtung des Gesundheitswesens muss am Bedarf erfolgen. * Alle müssen Zugang zur medizinischen Versorgung haben. * Alle müssen im Bedarfsfall Anspruch auf die gleichen medizinischen Leistungen haben. * Die Finanzierung muss solidarisch erfolgen. * Patient*innen sind als Subjekt in der Krankenversorgung anzusehen. * Sozialpräventive Maßnahmen müssen gestärkt werden.
Das gesundheitspolitische Forum und die JHV des vdää* sollen 2023 in Marburg stattfinden. Wir wollen in diesem Rahmen die linken gesundheitspolitischen Debatten der letzten 50 Jahre nachvollziehen und die Ergebnisse auf den Gebrauchswert für die aktuelle politische Arbeit des vdää* prüfen. Die Vorbereitungsgruppe würde sich über weitere personelle Verstärkung freuen.
Bernhard Winter
Dokumentiert sind die Referate und Resolutionen in dem von H-U. Deppe u.a. herausgegebenen Kongressband: Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt, Köln 1973. Er ist antiquarisch erhältlich.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2023)