»Wir sind keine Handelsware«
Karen Spannenkrebs über die Rekrutierung von Fachkräften im Gesundheitswesen
Lässt sich das enorme Personalproblem im deutschen Gesundheitssystem durch Importe aus dem Ausland lösen? Ein Überblick über die Geschichte und die aktuelle Praxis der Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften nach Deutschland.
Operationssäle liegen brach, Notaufnahmen werden abgemeldet. Ärzt*innen und Pflegekräfte arbeiten durchgehend am Limit. Überall suchen die Krankenhäuser händeringend nach Personal. Das deutsche Gesundheitssystem hat ein massives Problem. Und das ist nicht zuletzt ein Personalproblem.
Vor diesem Hintergrund liegt es – von der Oberfläche dieser kapitalistischen Gesellschaft aus betrachtet – nahe, sich diese Gesundheitsfachkräfte zu importieren: Der Großteil unserer Konsumgüter wird im Ausland produziert, unsere Nahrungsmittel von ausländischen Saisonkräften geerntet und gefertigt, und die ambulante Altenpflege zumindest in Privathaushalten zu einem Großteil von osteuropäischen Frauen erledigt. Warum also nicht auch die zunehmend unbeliebte Gesundheitsversorgung von arbeitswilligen Menschen aus ärmeren Ländern erledigen lassen? So einfach machen es sich viele Politiker*innen aus unterschiedlichen Parteispektren.
Jens Spahn hatte als Gesundheitsminister die Aushandlung von Abwerbeabkommen mit pressewirksamen Touren nach Mexiko und in den Kosovo verbunden und auch im Koalitionsvertrag der neuen Rot-grün-gelben Regierung steht unter der Rubrik Pflege und Gesundheit: »Wir vereinfachen und beschleunigen die notwendige Gewinnung von ausländischen Fachkräften und die Anerkennung von im Ausland erworbener Abschlüssen.« Der Intensivmediziner Professor Christian Karagiannidis forderte jüngst in der Ärztezeitung »strukturierte Migration im großen Stil« und schlägt vor, Schüler*innen gleich nach dem Schulabschuss abzufischen und in Deutschland auszubilden.
Die Abwerbung von ausgebildeten Pflegekräften und Ärzt*innen nach Deutschland hat in den letzten zehn Jahren tatsächlich massiv zugenommen. Waren 2013 noch 5,8% aller Pflegekräfte aus dem Ausland, so sind es 2022 bereits 11%. Im Gegensatz zu Großbritannien, wo bereits seit Jahrzehnten Fachkräfte aus den ehemaligen Kolonien das Rückgrat des NHS bilden, ist Deutschland relativ neu in das weltweite Ringen um Gesundheitsfachkräfte eingestiegen.
Projekt: Pillars of health
Seit Juli 2022 ist der vdää* Projektpartner im Projekt Pillars of health. Das Projekt gibt es seit 2021. Die anderen Projektpartnern kommen aus Serbien, Rumänien und den Niederlanden, mit der niederländischen Organisation Wemos als federführender Organisation. Im Projekt geht es um die Verteilung von Gesundheitsfachkräften innerhalb der europäischen Region. Das Ziel ist eine möglichst gleichmäßige Verteilung und eine Abmilderung der Folgen von Abwerbung und Abwanderung. Dafür werden Informationen aus den verschiedenen Ländern zusammen getragen und gemeinsam Einfluss auf politische Entscheidungen genommen.
Blicken wir 50 Jahre zurück, gab es aber durchaus bereits große Abwerbeprogramme: Insgesamt ca. 10.000 koreanische Pflegekräfte wurden ab den 60ern als Gastarbeiter*innen nach Deutschland geholt, um den Mangel von ca. 50.000 Pflegekräften zumindest ein bisschen auszugleichen. Sie wurden als »mandeläuge Engel« mit »zierlicher Gestalt« und »sanftem Gemüt« exotisiert und versprachen das Sinnbild der genügsamen, lächelnden und anspruchslosen – natürlich weiblichen – Sorgearbeiterin zu sein.
In Korea hatte die Abwerbung Versorgungsmängel und Veränderungen im Gesundheitssystem zur Folge. Tausende junge Frauen wurden extra für Deutschland zu Pflegehelferinnen ausgebildet. Entgegen den Abkommen wurden jedoch fast nur akademisch ausgebildete Pflegekräfte rekrutiert, sodass die schlechter ausgebildeten Hilfskräfte irgendwie ins koreanische Gesundheitssystem integriert werden mussten. 1978 wurde nach Einführung des Krankenkassen-Kostendämpfungsgesetz beschlossen, dass es in Deutschland nun genug Krankenschwestern gab. Die Abwerbung wurde gestoppt und viele »Engel« sollten wieder abgeschoben werden.
Doch schon wenig später wurden wieder Pflegekräfte gebraucht. Ab den 80ern konzentrierten sich Abwerbebemühungen jahrzehntelang vor allem auf Osteuropa, wo die massenhafte Auswanderung von Gesundheitsfachkräften die dortigen Gesundheitssysteme ausbluten ließ. Der weltweite Mangel von Gesundheitsfachkräften und das ungerechte Ringen der einzelnen Länder um sie sind nicht neu. Um der wachsenden Ungleichverteilung von Gesundheitsprofessionellen entgegenzuwirken, wurde 2010 von der WHO mit dem »Global Code of Practice on the recruitment of Health personell« ein Rahmen geschaffen, der die negativen Folgen der Abwerbung von Gesundheitsfachkräften mildern soll. Das freiwillige Abkommen besteht im Wesentlichen aus drei Säulen:
- Der Verpflichtung, das nationale Gesundheitssystem durch eine nachhaltige Gesundheitspersonalentwicklung möglichst autark zu machen und den Bedarf an ausländischen Fachkräften zu halbieren.
- Dem Verbot, aus Ländern mit einem kritischem Mangel abzuwerben
- Maßnahmen zu treffen, um Gesundheitsfachkräfte gerade in unterversorgten Gebieten, im Job zu halten oder in den Job zurück zu holen.
Auch Deutschland hat sich 2010 verpflichtet, diesen Kodex einzuhalten. Wenn wir uns rückblickend die Gesundheitspersonalpolitik und die Entwicklung der Abwerbepolitik in den folgenden Jahren ansehen, wirkt das fast zynisch. Massenhaft sind in Deutschland Pflegekräfte in der Zwischenzeit aus ihren Jobs ausgestiegen, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen konnten, und auch Ärzt*innen fehlen an allen Stellen. Zugleich nahm ab 2012 die systematische weltweite Abwerbung von Gesundheitsfachkräften Fahrt auf, wobei sich die Bundesregierung auf die Negativliste des WHO-Kodex als Absicherung beruft, alles richtig zu machen. Aus der absoluten Mindestforderung ist damit der einzige Teil des Kodex geworden, der eingehalten wird. Als Anhang von §38 der Beschäftigungsverordnung wurde die Liste in geltendes deutsches Recht überführt. Doch selbst diese Liste ist nicht unkontrovers. 2010 enthielt sie noch 57 Staaten mit besonders niedriger Gesundheitspersonaldichte. Seit 2020 gilt eine neue Liste, die, aufbauend auf einer undurchsichtigen Methodik, nur noch 47 Länder enthält . Zu den Ländern, die in der neuen Liste fehlen, gehören die Dominikanischen Republik, Indien, Indonesien, Tunesien und Vietnam. Alles Länder, mit denen Deutschland aktuell oder in der Vergangenheit Abwerbeabkommen ausgehandelt hat.
2013 wurde der deutsche Arbeitsmarkt für Pflegekräfte aus Drittstaaten geöffnet. Durch die GIZ wurden die sogenannten »Triple Win«-rogramme ins Leben gerufen, die mittels staatlicher, bilateraler Abkommen die Beschaffung von Pflegekräften aus Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Vietnam ermöglichen. 2021 kamen neue Verträge mit Indien (dort aber nur mit dem Bundesstaat Kerala), Brasilien und Indonesien zustande.
Während »Triple Win« als Vorzeigeprogramm gehandelt wird, weil es tatsächlich einige Mindeststandards erfüllt, ist es ziemlich teuer. Die allermeisten Gesundheitsfachkräfte (ca. 75%) werden deshalb nicht durch staatliche Programme, sondern durch eine unüberschaubare Anzahl privater Agenturen abgeworben. Dass deren Praktiken teilweise höchst fragwürdig sind, hat ein Rechercheteam von correctiv 2020 dokumentiert. Vor allem hohe Gebühren, die zurück gezahlt werden sollten, wenn eine Fachkraft sich entschloss, vor Ablauf einer Mindestzeit aus dem Arbeitsvertrag auszusteigen, stehen als Form der »modernen Schuldknechtschaft« in der Kritik.
Innerhalb der EU wurde während der Euro-Krise aus Italien, Spanien und Griechenland abgeworben. Doch da viele Fachkräfte wieder zurück in ihre Herkunftsländer kehrten – nicht zuletzt wegen der schlechten Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern -, konzentrieren sich die deutschen Abwerbebemühungen in Europa aktuell wieder auf den Westbalkan und Osteuropa. Dort aber fehlen die ausgewanderten Fachkräfte. Aus Rumänien sind zwischen 1990 und 2014 ca. 21.000 Ärz*innen und mindestens 21.500 Pflegekräfte ausgewandert. Von diesen Ärzt*innen arbeiten ca. 4.500 aktuell in Deutschland. Das sind etwas mehr als 1% der Ärzt*innen in Deutschland, aber ca. 10% der Ärzt*innen in Rumänien. Die Herkunftsländer, Ausbildungen und Wege von rekrutierten Ärzt*innen und Pflegekräften sind vielfältig. Allen gemeinsam ist, dass sie im deutschen Gesundheitssystem tendenziell dort landen, wo sonst keiner arbeiten will.
Der Anteil ausländischer Ärzt*innen in verschiedenen deutschen Bundesländern spricht für sich: Hamburg bildet mit 6,8 % das Schlusslicht, obwohl 16,8 % der Hamburger*innen eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Im Flächenbundesland Brandenburg hingegen haben 15,5% der Ärzt*innen, aber nur 4,8% der Bevölkerung eine ausländische Staatsbürgerschaft. Ein starker Hinweis darauf, wo ausländische Bewerber*innen Stellen finden: in den kleinen, ländlichen Krankenhäusern, die händeringend nach Personal suchen.
Dass ausgerechtet da, wo das Personal sehr knapp ist, der Anteil an ausländischen Kräften mit teilweise unzureichenden Sprachkenntnissen und anfänglichen Unsicherheiten über Arbeitsabläufe und Verantwortungen sehr hoch ist, kann erhebliche Probleme verursachen: Falsche Medikamente werden verabreicht, wichtige Informationen gehen verloren und die Kommunikation mit Patient*innen ist erschwert. Die Schuld wird nicht selten bei den ausländischen Kolleg*innen gesucht. Der Grund sind aber Zeitmangel und eine kaum zu stemmende Arbeitsdichte. Zusammengenommen ergibt das aber einen wunderbaren Nährboden für Rassismus, der von den Klinikleitungen zumindest in Kauf genommen wird, wenn diese Fachkräfte mit unzureichenden Deutschkenntnissen anwerben, obwohl sie keine auch nur annähernd ausreichende Einarbeitung gewährleisten können.
In einem gut funktionierenden Gesundheitssystem könnten wir von den Erfahrungen ausländischer Kolleg*innen lernen und unsere Patient*innen von ihren Fremdsprachen-Kenntnissen profitieren. Doch dafür braucht es (Fach-)Sprachkurse auf hohem Niveau und dann vor allem Zeit und Raum für eine gelungene Einarbeitung.
Wir müssen weiterhin dafür kämpfen, dass die Abwärtsspirale gestoppt wird, die mit der Ökonomisierung der stationären Versorgung in den letzten ca. 20 Jahren einherging und die zu vielen Jobausstiegen und wachsender Arbeitsdichte in den Kliniken geführt hat. Doch auch zumindest kurz- und mittelfristig können Personalbemessungsinstrumente auch dazu führen, dass die Abwerbung von ausländischen Fachkräften noch weiter ausgebaut wird. Unsere Forderungen nach einer Ausfinanzierung und Selbstkostendeckung des stationären Sektors und einer konsequenten Verbesserung der Arbeitsbedingungen müssen deshalb verbunden sein mit einem international solidarischen Blick auf andere Gesundheitssysteme. Unsere ausländischen Kolleg*innen sind nicht schuld an den Bedingungen, unter denen sie mit uns im Krankenhaus zusammenarbeiten. Sie sind auch nicht die exotisierten, genügsamen Arbeitskräfte, die fügsam alle Lücken im deutschen System füllen. Was vor 50 Jahren für die Gastarbeiter*innen galt, gilt auch heute noch für unsere rekrutierten Kolleg*innen auf Station: »Wir haben Arbeiter*innen gerufen, aber es kamen Menschen«.
Als Beschäftigte im Gesundheitssystem müssen wir Macht über die Bedingungen bekommen, unter denen wir arbeiten. Und dabei müssen wir mit unseren Kolleg*innen zusammenarbeiten, die hierher geholt wurden, um das schlechte System weiter am Laufen zu halten.
Auch die koreanischen »Engel« von vor 50 Jahren sind schlussendlich nicht passive Spielfiguren geblieben, die man nach Belieben herumschieben konnte. Deutschlandweit organisierten sie Widerstand gegen die drohenden Abschiebungen Ende der 70er. Mittels Unterschriftenaktionen und politischen Kampagnen konnten sie tatsächlich ein unkündbares Bleibe- und Arbeitsrecht für Koreaner*innen in Deutschland erkämpfen. Daraus erwuchs 1978 die »Koreanische Frauengruppe in Deutschland«. Sie sagten. »Wir kamen hierher, weil deutsche Krankenhäuser uns benötigten. Wir sind keine Handelsware. Wir gehen zurück, wenn wir wollen.«
Karen Spannenkrebs ist Ärztin und arbeitet zur Zeit für den vdää* mit an dem Projekt Pillars of Health.
Anmerkungen
- „Mehr Fortschritt wagen“- Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den freien Demokraten (FDP), Berlin 2021
- Karagiannidis: Fachkräftemangel wohl größere Belastung als Corona-Pandemie, Ärzte-Zeitung, 18.12.2022
- Güldemann, Heino (2022),Wemos Report Germany, https://cstor.eu/pillarsofhealth/2022/09/b3b4063d-pillars-of-health_country-report-on-health-worker-migration-and-mobility_germany.pdf, abgerufen am 02.01.2022
- Veranstaltungsdokumentation - Ankommen, Anwerben, Anpassen?-Koreanische Krankenpflegerinnen in Deutschland – Erfahrungen aus fünf Jahrzehnten und neue Wege für die Zukunft, Friedrich Ebert Stiftung, Korea Verband, Koreanische Frauengruppen in Deutschland, ver.di, 2016, https://www.koreaverband.de/downloads/files/FES_Krankenpflegerinnen.pdf, abgerufen am 02.01.2022
- Veranstaltungsdokumentation - Ankommen, Anwerben, Anpassen?-Koreanische Krankenpflegerinnen in Deutschland – Erfahrungen aus fünf Jahrzehnten und neue Wege für die Zukunft, Friedrich Ebert Stiftung, Korea Verband, Koreanische Frauengruppen in Deutschland, ver.di, 2016, https://www.koreaverband.de/downloads/files/FES_Krankenpflegerinnen.pdf, abgerufen am 02.01.2022
- Ebd.
- Sixty-third World Health Assembly (2010) „The WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel”, https://cdn.who.int/media/docs/default-source/health-workforce/migration-code/code_en.pdf?sfvrsn=367f7d35_7&download=true, abgerufen am 02.01.2022
- Güldemann, Heino (2022),Wemos Report Germany, https://cstor.eu/pillarsofhealth/2022/09/b3b4063d-pillars-of-health_country-report-on-health-worker-migration-and-mobility_germany.pdf, abgerufen am 02.01.2022
- Argüeso, Olaya; Richter, Frederik (2020), Wie dubiose Vermittler ausländische Pflegekräfte zur Ware machen“, https://correctiv.org/top-stories/2020/11/25/wie-dubiose-vermittler-auslaendische-pflegekraefte-zur-ware-machen/, abgerufen am 02.01.2022
- Ebd.
- Farcasanu et al. (2022), Pillars of health: Country report on health worker migration and mobility Romania, https://cstor.eu/pillarsofhealth/2022/12/86d6004e-pillars-of-health_country-report-on-health-worker-migration-and-mobility_romania.pdf, abgerufen am 02.01.2022
- Bundesärztekammer (2022), Ärztinnen Statistik zum 31.12.2021, https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021, abgerufen am 02.01.2022
- Farcasanu et al. (2022), ebd.
- https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021, abgerufen am 02.01.2022
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Viel zu tun im Gesundheitswesen. Entprivatisierung, Demokratisierung, Vergesellschaftung, Nr. 4, Dezember 2023)