Großbritannien
Der britischen Regierung könnten in diesem Winter harte Arbeitskampfmaßnahmen inklusive vollständiger Streiks verschiedener Berufsgruppen des NHS bevorstehen. Im Juli wurde die Höhe der bevorstehenden Gehaltserhöhungen für die NHS-Beschäftigten angekündigt, die deutlich unter dem liegen, was die Gewerkschaften gefordert hatten. Bei einer Rekordinflation von rund 10,1% (Stand Juli) würden die realen Einkommen der NHS-Beschäftigten damit weiter sinken.
In einer Zeit, in der der NHS ohnehin schon mit großen Schwierigkeiten wie Unterbesetzung, Arbeitsverdichtung und Medikamentenknappheit kämpft, scheint die Bereitschaft der Beschäftigten groß, dieses Angebot nicht anzunehmen und für eine zumindest inflationsangepasste Lohnerhöhung zu kämpfen.
Während in Schottland die Gewerkschaft Unison bereits eine Abstimmung durchgeführt hat, bei der 90% für weitere Arbeitskampfmaßnahmen stimmten, bereiten nun auch in England und Wales verschiedene Gewerkschaften Urabstimmungen vor. Das Royal College of Nursing mit ca. 500.000 Pflegekräften und die Gewerkschaft Unison mit ca. 100.000 NHS-Beschäftigten (unter anderem Reinigungskräfte, Transportdienste und weitere therapeutische Berufsgruppen) haben bereits zu Abstimmungen im September und Oktober aufgerufen. Auch die British Medical Association, die NHS-Ärzt*innen vertritt, gibt sich kämpferisch und kündigt Streiks für das Frühjahr 2023 an. Sie fordert 30% mehr Lohn in den nächsten fünf Jahren, will aber auch auf die desaströsen Bedingungen im NHS aufmerksam machen.
Ohnehin steht Großbritannien, das unter der größten Inflation in allen G7-Staaten leide, wohl ein streikreicher Herbst bevor. Die Hafenarbeiter am größten Überseehafen in Felixstowe, die Müllabfuhr in Edinburgh, Post und Bahn haben bereits vorgelegt, nun laufen neben dem NHS auch Urabstimmungen über Streiks bei Lehrergewerkschaften, Staatsangestellten und Busfahrern.
»They are not voting for themselves but for their patients and everyone who needs a strong NHS – the service is on its knees and nursing staff have found the courage to stand up.« Helen Whyley, Geschäftsführerin Royal College of Nursing, Wales
Quellen
- https://www.tagesschau.de/ausland/europa/truss-aufgaben-101.html
- https://www.nursingtimes.net/news/workforce/the-situation-with-nurse-pay- and-upcoming-strike-ballots-in-the-uk-17-08-2022/
- https://www.theguardian.com/society/2022/jul/15/nhs-doctors-strike-is- inevitable-says-new-bma-chair
- https://www.thesun.co.uk/health/19466224/nurses-nhs-health-workers-pay-row/
- https://peoplesdispatch.org/2022/07/28/junior-doctors-in-the-uk-protest-govern ment-disregard-and-demand-pay-rise/
- https://unison-scotland.org/put-nhs-pay-right-2022-23/
Brasilien
Am 5. August fand in São Paulo eine Konferenz für freie, demokratische und Volksgesundheit statt. Organisiert wurde die Konferenz von der Frente pela Vida (Front für das Leben), einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die während der Covid 19-Pandemie gegründet wurde, um den Schutz der Bevölkerung vor dem Virus zu fördern. Sie prangerte immer wieder das Leugnen der Pandemie durch die rechte Regierung Bolsonaros an.
Konsens bestand über die Notwendigkeit, das öffentliche Gesundheitssystem (Sistema Único de Saúde, SUS) auszufinanzieren und gegen eine Privatisierung anzukämpfen. Unter Bolsonaro war eine Ausgabenobergrenze für das SUS eingeführt worden, die die ohnehin bestehende chronische Unterfinanzierung noch weiter verschärft.
Außerdem wurden Strategien zur Versorgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie Frauen, indigene Bevölkerungsgruppen, Menschen mit Behinderung, Menschen aus der LGBTQIA+ Community und Afrobrasilianer*innen diskutiert.
Im Anschluss an die Konferenz wurde Ex-Präsident und Präsidentschaftskandidat Lula (Arbeiterpartei, PT) ein Schreiben überreicht, in dem die erarbeiteten Prinzipien für das Gesundheitssystem festgehalten sind, für den Fall, dass er nach der wichtigen Wahl am 2. Oktober Brasiliens neuer Präsident wird.
Quellen
- https://cee.fiocruz.br/?q=Conferencia-Livre (Portugiesisch)
- https://peoplesdispatch.org/2022/08/15/brazils-health-workers-vow-to-save- public-healthcare-in-the-country/
- https://peoplesdispatch.org/2022/09/01/the-most-important-election-in-the- americas-is-in-brazil/
Minnesota (USA)
Auch in den USA kämpfen Beschäftigte des Gesundheitssystems für bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Versorgung ihrer Patient*innen. Ungefähr 15.000 Krankenpfleger*innen der Minnesota Nurses Association haben am 15. September einen dreitägigen Warnstreik beendet. Bestreikt wurden 15 Krankenhäuser in zwei Metropolregionen des Bundesstaates Minnesota. Es war der wahrscheinlich längste Streik von Krankenpfleger*innen im privaten Sektor in den USA.
Hintergrund des Streiks sind die Verhandlungen der Gewerkschaft mit den Klinikbetreibern über neue Tarifverträge, die bereits seit sechs Monaten andauern. In den Verhandlungen geht es vor allem um Unterbesetzung und damit einhergehende mangelnde Versorgung der Patient*innen. Die Probleme in Minnesota klingen vertraut: Obwohl es genug ausgebildete Pflegekräfte gibt, fehlen sie in den Krankenhäusern und an den Patient*innenbetten. Denn die derzeitigen Arbeitsbedingungen treiben auch dort immer mehr Pflegekräfte aus ihren Jobs. Der Slogan auf den Plakaten der streikenden Pflegekräfte lautet: »Patients before Profits – Patienten vor Profiten!«
Eine Forderung der Gewerkschaft ist es, dass Vertreter*innen von ihnen bei Personalentscheidungen der Kliniken mit am Tisch sitzen. Obwohl die alten Tarifverträge der Krankenpfleger*innen bereits im Mai und Juli diesen Jahres ausliefen, war es bislang nicht möglich, mit den privaten Krankenhausbetreibern neue Verträge auszuhandeln. Nach dem befristeten Streik kehren die Parteien nun an den Verhandlungstisch zurück und die Gewerkschaft hofft auf ein Einlenken der Klinikbetreiber.
Die Minnesota Nurses Association hat online Namen und Gehälter der Geschäftsführer*innen der Kliniken veröffentlicht. Die betragen das 10 bis 40 fache der Durchschnittsgehälter der examinierten Pflegekräfte. »We are the ones that are showing all the workers, all across America, how it is to fight and what it means to stand up for your contracts but not only that — stand up for the working people of America« Mary Turner, Präsidentin der Minnesota Nurses Association
Quellen
- https://mnnurses.org/15000-nurses-determined-to-win-a-fair-contract-to- put-patients-before-profits-after-historic-strike/
- https://www.mprnews.org/story/2022/09/15/striking-nurses-hope-to-return- to-bargaining-table-as-strike-ends
Zusammenstellung von Karen Spannenkrebs
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)