Weg mit PEPP?
Erfahrungen mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung und Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG)
von Andreas Heinz
Anfang des Jahrtausends bestand in Deutschland ein System der stationären Krankenversorgung, das sich durch gesellschaftliche Planung der benötigten Betten und Therapien und des dafür notwendigen Personals auszeichnete. Die Rede ist von der psychiatrischen Krankenversorgung, die durch die sogenannte PsychPV (Psychiatrie-Personalverordnung) und eine Bettenzahl gekennzeichnet war, die von den Bundesländern in Absprache mit den Krankenkassen entsprechend dem Bedarf für die Versorgung einer bestimmten Region festgelegt wurde. Die Zuteilung bestimmter Betten pro Versorgungsgebiet nahm dabei eine Idee der Psychiatrie-Reform der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf, nach der Patient:innen in ihrem Lebensumfeld behandelt werden sollten, auch wenn sie stationär im Krankenhaus aufgenommen wurden. Die Psychiatrie-Personalverordnung legte je nach Schwerefeld der Erkrankung das notwendige Personal zur Behandlung der einzelnen Patient:innen mit genauen Minutenwerten pro individueller Schwere der Erkrankung für alle Berufsgruppen fest.
Allerdings wurde die Umsetzung vom Gesetzgeber nicht kontrolliert, insbesondere gab es keine Regelung zum Umgang mit Lohnerhöhungen, so dass sich eine zunehmende Lücke zwischen der gesetzlichen Verordnung und ihrer Umsetzung ergab. Zudem waren die Überlegungen, die der Psychiatrie-Personalverordnung zu Grunde lagen, zunehmend veraltet. So ging diese Personalverordnung noch davon aus, dass akut schwer erkrankte Patient:innen vor allem Medikamente und kaum psychotherapeutische Gespräche benötigen, was keiner sachgemäßen Versorgung entspricht. Auch immer kürzere Behandlungszeiten und der damit verbundene, zunehmende Dokumentations-Aufwand waren nicht berücksichtigt. Von daher gab es auch in reformorientierten Bewegungen in Psychiatrie und Psychotherapie einen breiten Konsens, dass die Psychiatrie-Personalverordnung erneuert werden müsste, und dass der Gesetzgeber hier tätig werden sollte.
Allerdings wurde die Rechnung ohne den neoliberalen Wirt gemacht, der sich mittlerweile eine Vielzahl gewinnorientierter Krankenhausträger an den Tisch geladen hatte. Nirgends lässt sich im Krankenhausbereich kurzfristig leichter Gewinn machen als durch Absenkung des Personals. Im Jahr 2012 wurde dementsprechend ein Psychiatrie-Entgeltgesetz beschlossen sowie im nächsten Jahr ein Krankenhausfinanzierungsreformgesetz, mit dem ein neues Entgeltsystem für den Bereich der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik entwickelt werden sollte. Zum Entsetzen vieler Betroffener, ihrer Angehörigen und professionell tätigen Personen sollte damit aber eine abgewandelte Art des DRG-Systems eingeführt werden. An die Stelle von Personalvorgaben wie in der PsychPV und einer Kontrolle der Liegezeiten durch den Medizinischen Dienst der Kassen sollte jetzt ein pauschaliertes Entgeltsystem treten. In diesem gab es zwar – anders als im klassischen DRG-System – keinen feststehenden Betrag für die Behandlung einer bestimmten Erkrankung, aber einen mit zunehmender Behandlungsdauer abnehmenden Festbetrag pro Tag für die Krankenhausversorgung. Statt wie in der PsychPV normativ vorzugeben, welche Behandlungsqualität eine Patientin mit einer bestimmten Erkrankungsschwere erhalten sollte, sollte jetzt der Behandlungsalltag in seinem unzureichenden Ist-Zustand nach Jahrzehnten der Unterfinanzierung des Personals im stationären Bereich erhoben werden.
Besonders unsinnig war das obsessive Zählen der 25- oder 50-minütigen Therapiesitzungen, die eine durchschnittliche Patientin pro Erkrankungskategorie in Anspruch nimmt – denn dabei kam wenig überraschend heraus, dass die besonders schwer kranken Personen es kaum schaffen, an solchen standardisierten Therapiesitzungen teilzunehmen. Sie wurden dann dementsprechend (sachlich falsch) als Personen mit geringem Behandlungsaufwand klassifiziert. Gegen dieses sogenannte »Pauschalierte Entgeltsystem für die Psychiatrie und Psychosomatik« (PEPP) erhob sich ein vielfältiger Protest, der anfangs vielerorts spontan »von unten« organisiert war und dem sich nach und nach verschiedene Gewerkschaften, Organisationen von Betroffenen und Angehörigen und Berufsverbände anschlossen (»PEPP muss weg!«). Wichtig für die Leserschaft dieser Zeitung: vdää*, ver.di, attac und andere starteten bereits 2013 eine Kampagne gegen das PEPP-System. 2014 initiierte die Selbsthilfegruppe Pandora gemeinsam mit vielen anderen Verbänden eine Petition an den Deutschen Bundestag, die die nötige Unterschriftenzahl nur knapp verfehlte.
Die Proteste hatten überraschend viele Personen mobilisiert und wurden zur Manifestation des Widerstands gegen ein Krankenhaussystem, das an den Bedürfnissen der Betroffenen, ihrer Angehörigen und der im Krankenhaus Tätigen vorbei auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Durch vielfältige Verbindungen auch in die Politik hinein hatte dieser Protest teilweise Erfolg, und es wurden mit dem »Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen« im Jahr 2017 wesentliche Änderungen eingeführt. Im Sinne eines klassischen Kompromisses wurde das PEPP-System nicht beseitigt, sondern für die Abrechnung der einzelnen Krankenhäuser weiterverwendet. Ein wesentlicher Erfolg war aber, dass die Personalausstattung für die Budgetfindung der Krankenhäuser auch weiterhin von entscheidender Bedeutung ist. Dabei trat an Stelle der Psychiatrie-Personalverordnung seit 2020 eine Personal-Mindestvorgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses, in dem Verbände der Krankenhäuser und Krankenkassen stimmberechtigt sind; Vertreter:innen der Betroffenen und Angehörigen allerdings nicht. Diese Mindestvorgabe mit dem Titel »Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie«(PPP-RL) baut auf der PsychPV auf.
Zur Enttäuschung vieler Aktivist:innen erhöhte diese neue Richtlinie aber nur die Behandlungsminuten im Bereich der psychologischen Psychotherapie. Allen anderen Berufsgruppen wurde als neue Mindestausstattung ein Minutenwert unterhalb der bisherigen Werte der PsychPV zugeteilt. Hinzu kam ein wesentlicher Konstruktionsfehler: Als Mindestvorgabe sanktioniert diese Richtlinie nur eine Personalbesetzung, die medizinisch als nicht mehr verantwortbar gilt. Es fehlt also eine Sollvorgabe für eine qualitativ gute Behandlung, die modernen Ansprüchen an psychosoziale Versorgung und Unterstützung entspricht. Eine solche Sollvorgabe müsste nach Ansicht viele Expert:innen etwa 20 % oberhalb der bisherigen PsychPV liegen. Immerhin ist in der neuen Richtlinie ein schrittweiser Anstieg der Personalminuten vorgesehen, so dass sich hier – allerdings recht langsam – die Mindestvorgaben erhöhen. Einrichtungen, die jetzt schon eine bessere Personalausstattung haben, können diese aber nicht unter Verweis auf die Mindestvorgaben einfordern – das ist eben einer der entscheidenden Konstruktionsfehler in der neuen Richtlinie.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Personalmangel, der jetzt insbesondere nach den Corona-Jahren im Gesundheitswesen herrscht. Durch die genaue Prüfung der Personalmindestvorgaben ist es in vielen Einrichtungen zu einer deutlichen Zunahme des Personals, insbesondere im Pflegebereich, gekommen. Allerdings verschärfen sich hier Schwierigkeiten, die insbesondere Kliniken auf dem Lande schon lange betreffen. Denn da es sich um eine Mindestvorgabe handelt, deren Unterschreitung mit harten Sanktionen belegt ist, können Krankenhäuser mit chronischem Personalmangel eigentlich nur Stationen schließen oder Jahr für Jahr auf eine Sonderregelung hoffen, wie sie in den Corona-Jahren erfolgte. Bei chronischer Unterbesetzung und entsprechenden Sanktionen können Stationen oder gegebenenfalls ganze Kliniken eigentlich zukünftig nur schließen. Damit droht erstmals seit der Psychiatrie-Reform vor 50 Jahren wieder ein Verlust an kleineren Krankenhäusern, die wohnortnah betroffene Patient:innen versorgen. Ohne entsprechende Gegensteuerung könnten neue gewinnorientierte Groß-Kliniken entstehen, die wohnortfern – ähnlich wie die früheren Landeskliniken – Patient:innen zentralisiert behandeln, auf Kosten der Kontakte zu Freund:innen, Angehörigen und Behandler:innen am Wohnort. Besonders negativ erscheint eine solche Entwicklung angesichts der zunehmenden sozialen Probleme durch Einkommensungleichheit in der Bevölkerung. So versorgen Berliner Akutstationen für Psychiatrie und Psychotherapie bereits derzeit einen Anteil von 10-30 % wohnungsloser Patient:innen! Auch unter den derzeitigen Umständen ist es äußerst schwierig, für diese Personen einen passenden Wohnraum zu finden, noch viel dramatischer wäre die Situation, wenn diese Personen auch noch wohnortfern in Groß-Kliniken versorgt werden. Eine Alternative zur stationären Versorgung bietet in vielen Fällen die stationsersetzende Behandlung, bei der mobile Teams die Patient:innen zu Hause versorgen, was aber wiederum einen angemessenen Wohnraum voraussetzt.
Fazit
Der Protest gegen die Einführung eines DRG-artigen Systems in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik war durchaus erfolgreich. Es gibt gültige Personalvorgaben für jede Berufsgruppe, deren Unterschreitung sanktioniert ist. Das ist für die Personalausstattung der Krankenhäuser ausgesprochen wichtig. Ungelöst sind aber die Probleme von Krankenhäusern, die – häufig auf dem Lande – trotz angemessener Bezahlung kaum Personal finden. Zudem zeigt ein Blick auf die häufig absolut unzureichende Wohnsituation psychisch erkrankter Personen, dass sich eine Reform des Gesundheitswesens nicht erfolgreich durchführen lässt ohne Bezug auf soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker hat vor drei Jahren erfolgreich eine Petition an den Deutschen Bundestag durchgeführt, um einen ständigen Beirat aus Betroffenen, Angehörigen und in der psychiatrischen Versorgung Tätigen zu etablieren, der das Bundesgesundheitsministerium berät. Es ist ein Skandal, dass diese Initiative vom Gesetzgeber bis heute aufs Abstellgleis geschoben wurde. Eine Reform des bestehenden Krankenhauswesens geht nur mit Betroffenen und ihren Angehörigen auf Augenhöhe, denn nur sie haben alle Aspekte der sozialen Lebensrealität im Blick, zu der eben auch Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Diskriminierung und Ausgrenzung gehören.
Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)