Psychiatrie und gesellschaftlicher Fortschritt
Erich Wulff beim Marburger Kongress 1973
Vor fast 50 Jahren am 20. und 21.01.1973 fand in Marburg der Kongress »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt« statt. 1.800 Teilnehmer*innen (Personen aus unterschiedlichen medizinischen Fachberufen, Gewerkschafter*innen, Kommunalpolitiker*innen etc.) suchten in diesen Tagen nach Veränderungspotentialen im Gesundheitswesen. Dabei nahm auch die psychiatrische Versorgung großen Raum ein. Wir drucken hier aus dem Dokumentarband des Kongresses Teile des einleitenden Kommentares vor Erich Wulff zum Psychiatriekapitel ab.1 Er verdeutlicht sehr plastisch die damaligen Schwierigkeiten unterschiedlicher linker politischer Strömungen, gemeinsam über die Umgestaltung des Gesundheitswesens zu diskutieren. Manches findet sich auch heute noch wieder. Der Beitrag von E. Wulff zeigt aber auch, wie sich inzwischen die Themen (weiter-) entwickelt und z.T. verlagert haben.
Psychiatrische Krankenversorgung
Aus drei Gründen hatte der lnitiativausschuß sich entschlossen, für die psychiatrische Krankenversorgung eine eigene Arbeitsgruppe zu bilden. Einmal, weil sie innerhalb der gesamten Krankenversorgung zahlenmäßig einen sehr großen Anteil hat. Zum zweiten, weil die psychiatrische Krankenversorgung in der BRD auf das in den westeuropäischen Industriestaaten niedrigste Niveau abgesunken ist, als Institution ebenso wie in der theoretischen Grundlegung und in der ärztlichen Praxis. Drittens, weil Teile der Studentenschaft in eine kritische Psychiatrie – in der Aufdeckung gesellschaftlicher Ursachen psychischer Leiden ebenso wie in die politisch mobilisierende, therapeutische Aufarbeitung dieser Ursachen bei jedem einzelnen Kranken große, zum Teil – illusionäre Hoffnungen gesetzt hatten.
Das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg gab ein Beispiel für solch einen Irrweg. Demgegenüber sollte der Kongreß – besonders in dieser Arbeitsgruppe – dartun, daß die in der Psychiatrie sichtbaren Mängel in den wesentlichen Zügen die allgemeinen Mängel der Krankenversorgung in einer kapitalistischen Gesellschaft sind, die nur im Bereich der Psychiatrie einerseits besonders scharf hervortreten, andererseits aber auch hinter progressiv erscheinenden Theorien wie der Psychoanalyse, der Antipsychiatrie etc. sich verbergen.
Deshalb hatte der lnitiativausschuß diese Arbeitsgruppe auch »psychiatrische Krankenversorgung« und nicht »gesellschaftliche Probleme in der Psychiatrie« oder gar »soziale Ursachen psychischen Leidens« genannt. In dieser Betonung eher des Krankheitsschicksales als der Krankheitsursachen sollte auch etwas anderes erreicht werden: eine größere Nähe zur ärztlichen und gesellschaftlichen Praxis in ihrer gegenwärtigen Lage. Allzu abstrakte, allzu grundsätzliche und allzu theoretisch-deduktive Diskussionen um das »Wesen« des Kapitalismus und seine angebliche Zwangsläufigkeiten halfen in der Vergangenheit eher zu einem Umschlag ins Gegenteil: in eine begriffslose, pragmatisch-blinde Praxis, gerade wegen der praktischen Unanwendbarkeit der angebotenen globalen antikapitalistischen Theorie. Gesellschaftliche Bedingtheit ließ sich zudem – im gegenwärtigen Stadium der psychiatrischen Wissenschaft – am Krankheitsschicksal, d.h. an den Möglichkeiten und der Wirklichkeit der Krankenversorgung besser aufzeigen als im kontroversen, wissenschaftlich noch unzureichend bearbeiteten Gebiet der Krankheitsentstehung.
Und ebenso lagen die Möglichkeiten zu verändertem Handeln in der Psychiatrie vor allem auf der Ebene der Gesundheitspolitik und der Krankenversorgung, und vorerst noch nicht auf dem Gebiet der allgemeinen gesellschaftlichen Prävention. … Schließlich ließ sich am Kampf um eine den Interessen der Patienten und der Bevölkerung entsprechende Gesundheitsvorsorge und Krankenversorgung sowohl der Auftrag des Kapitals – Einsparung von unproduktiven Kosten und Konzentration der Mittel auf eine zügige Wiederherstellung der Arbeitskraft – als auch der Anspruch der Lohnabhängigen auf eine humane, die Wiederherstellung ihres seelischen Wohlbefindens anzielende Therapie aufzeigen.
Die psychiatrische Krankenversorgung zum Ausgangspunkt der Arbeit zu nehmen, schien dem lnitiativausschuß auch den Vorteil zu bieten, weder illusionär noch defätistisch an die Probleme der Psychiatrie heranzugehen, sondern realitätsgerecht, sachlich und politisch. … Das hat allerdings Unzufriedenheit bei denen entfacht, die auf mehr antikapitalistische Bekenntnisse aus waren. Das war unumgänglich und mußte in der Diskussion ausgetragen werden. Es hat aber auch Unbehagen erregt bei denen, die eine stringentere Ableitung psychiatrischer Krankenversorgung, Theorie und Praxis aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang erwartet hatten. Hier waren wir – die Veranstalter wie die Referenten – den berechtigten Erwartungen und Ansprüchen der Teilnehmer der Arbeitsgruppe oft in der der Tat nicht gewachsen, teils aus objektiven Gründen: weil diese Ableitung in Begriffen nicht einer abstrakten Kapitalismusanalyse als »System«, sondern in Begriffen des Klassenkampfes, wie dies allein angemessen gewesen wäre, ein so schwieriges Unternehmen ist, daß sie für die Psychiatrie als Ganzes vorerst von uns nicht zu leisten ist oder doch erst in jahrelanger Arbeit. Mitgespielt haben mag aber auch ein gewisser Ärger der Praktiker und Gesundheitspolitiker, die ·ihr schwieriges Tagwerk von den puristischen, ihnen moralisierend und dogmatisch erscheinenden antikapitalistischen Doktrinären nicht genügend gewürdigt sahen.
Statt zu erklären und zu vermitteln, haben sie und vielleicht auch wir, die Veranstalter, die kritischen Impulse, die von zugespitzten, extremen Meinungen ausgehen und die oft eine kritische Praxis erst in Gang bringen, manchmal zu schnell abgetan, haben wir uns der Diskussion nicht immer genügend gestellt. Im Bedürfnis, den neuen gewerkschaftlichen Bündnispartner nur ja nicht zu verprellen, haben wir nur die Gefahren des linksextremen Dogmatismus kritisiert und vor den Gefahren opportunistischen Reformismus die Augen vielleicht allzu sehr verschlossen. Wir haben es aber auch nicht versucht, etwa Mürles (ÖTV-Sekretär; Red.) reformerischen Ansatz und die gesellschaftskritische Perspektive, vieler Diskussionsredner konstruktiv als zwei Ebenen darzustellen, die einander bedingen. So war unser Ansatz zwar richtig – und wohl auch der einzig mögliche – aber unser Verhalten in der Diskussion teils zu starr, teils zu unkoordiniert. Die inhaltliche Breite der Diskussionen war beträchtlich. Sie reichte von Ausbildungsfragen in der Psychiatrie über den gesamten Bereich der Krankenversorgung bis zu den gesellschaftlichen Ursachen psychischen Leidens und bezog auch eine Strategie zur Verbesserung der psychiatrischen Krankenversorgung mit ein. …
Verweis
1 H-U. Deppe u.a.: Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt, Köln 1973, S. 231-233
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)