GbP 3-2022 Nagell

Die Suche nach dem Gegengift

oder: Welche gesellschaftlichen Erwartungen spiegeln sich in verschiedenen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren wieder? - von Waltraud Nagell

Der Mythos des Menschen als Monade ist längst entzaubert: Philosophen von Hegel, Buber bis Habermas haben uns gelehrt, dass das personale »Ich« aus der Begegnung mit dem »Du« erwächst. Der Kern unseres (Selbst)Bewusstseins entsteht durch die Spiegelung und das Anerkanntwerden vom Anderen ? was bereits die konflikthafte existenzielle widersprüchliche Grundverfasstheit des Menschen widerspiegelt, nämlich den Wunsch nach Autonomie und gleichzeitig den nach Anerkennung. So prägen individuelle Persönlichkeitsmerkmale (das Gewordensein, die psychodynamischen Vorgänge) und intersubjektive psychosoziale Bezüge (gesellschaftspolitische, ökonomische, institutionelle und arbeitsweltliche Strukturen) das Erleben von subjektiver Wirklichkeit. Identitätsbildung wird zur lebenslangen, unabgeschlossenen Aufgabe, die nie dauerhaft befriedet und von intrapsychischen und zwischenmenschlichen Konflikten und Brüchen durchzogen ist. Bohleber1 begreift sie als psychische Arbeit an den »Schnittstellen«, vor allem der »zwischen gesellschaftlichen Erwartungen an den einzelnen und dessen psychischer Einzigartigkeit«. Sie sei ein »Produkt der …dynamischen Balance zwischen beiden«, der soziologisch-gesellschaftlichen wie der psychologisch-individuellen Dimension.

Gesellschaftliche Vorgaben

Es ist zunächst nach den gesellschaftlichen Vorgaben zu fragen. Die (Arbeits-)Welt im permanent schneller werdenden Wandel birgt Chancen, aber auch Risiken in sich – zwei Seiten derselben Medaille. Die Steigerung der Komplexität von Prozessabläufen, flexiblere Arbeitsformen, permanenter Innovationsdruck, Forderungen nach unbegrenzter Erreichbarkeit und rastloser Mobilität, die Auflösung kontinuitäts- und sicherheitsspendender Arbeitsbezüge durch Home Office und virtuelle Begegnungen bieten die Chancen wachsender Handlungsspielräume, zeitlicher Autonomie und Eigenverantwortung, aber auch die Risiken existentieller Verunsicherung, ob man noch mithalten kann. In der Hoffnung auf ein Gegengift gegen Versagensängste wird dann die Anstrengung verstärkt, der Einsatz verdoppelt. Die Verdichtung der Arbeitsabläufe bei gleichzeitiger Entgrenzung (Arbeit und Privates gehen ineinander über) führt zu zunehmender Entsicherung.2 Das Unterwerfen unter das »Diktat der Schnelligkeit und Effizienzsteigerung«3 birgt hohe Risiken für die individuelle und gesellschaftliche Homöostase. Gesellschaftlich führt der Kampf ums Gesehenwerden und Dazugehören zu Entsolidarisierung und Rückkehr zu überwunden geglaubten »Freund-Feind-« und »Gewinner-Verlierer«-Schablonen; auf der Ebene des Subjekts zu massiven Anstrengungen, den populär gewordenen Erwartungen an eine ausgewogene Work-Life-Balance gerecht zu werden (auch die Freizeit wird durchgetaktet und effektiv durchorganisiert) oder man rennt gegen die schleichende Angst eines psychischen und physischen Zusammenbruchs an, dem drohenden Burnout. Die strukturellen Bedingungen geraten nun aus dem Blickfeld, das Scheitern wird subjektiviert, der Mensch pathologisiert und zum Kranken.

Kehrseitig kann die Anpassung unter beschleunigte Arbeits- und Lebensabläufe nicht nur dem äußeren Zwang geschuldet sein, sondern dazu genutzt werden, kompensierend dem Gewahrwerden innerer Leere und fragiler Selbstwertgefühle kontraphobisch zu entkommen. So wird das Agieren am Limit zum Triumph über Begrenzung und Vergänglichkeit – mit der Gefahr des Umkippens in den Exzess. Selbstüberschreitung ähnelt häufig – im Sinne einer »Dialektik von Selbstvervollkommnung und Selbstzerstörung« – einem Risikoverhalten, bei dem … die mentalen und emotionalen, temporalen und körperlichen Grenzen in der Suche nach Selbstverbesserung fortlaufend forciert und auf gefährliche Weise verschoben werde.3

Medizin und Psychotherapie können sich als Teil einer Gesellschaft diesem Trend nicht entziehen, aber: Inwieweit bedienen sie die Vorgaben oder setzen andere Lebensentwürfe dagegen? Wo und wie finden sie sich bewusst und unbewusst in den verschiedenen Psychotherapieverfahren wieder? Welchen Einfluss hat dabei das jeweils zugrundeliegende Menschenbild auf die metatheoretische Konzepte, auf die Definition von psychischer Gesundheit und Krankheit, die Bedeutungszuschreibung von Symptomen und diagnostischer Kategorisierung? Und wie schlägt sich dies in den verfahrensspezifischen Behandlungskonzepten nieder?

Schulenübergreifend, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung, hat sich eine beziehungsorientierte Ausrichtung in den psychotherapeutischen Konzepten und der Behandlungstechnik vollzogen. Besonders in den psychodynamischen Verfahren (psychoanalytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie [TP]) spielen menschliche Beziehungen eine übergeordnete Rolle. Das entspricht einer inneren Haltung, die statt einer pathologisierenden Reduktion auf den mutmaßlich kranken Menschen wieder das Erleben der individuellen Gesamtpersönlichkeit – gleichgültig, ob Patient*in oder Therapeut*in – und ihr Zusammenspiel mit dem Gegenüber in den Blick nimmt.

Das (unterschiedliche) Verstehen der Therapeut*innen-Patient*innen-Beziehung und ihrer Funktion

In psychodynamischen Verfahren stehen neben der Konzentration auf das intrapsychische Geschehen in der Patient*in auch die aufmerksame Beobachtung und Reflexion des Zusammenspiels der Subjektivitäten beider Beteiligten im Fokus der Arbeit. Chancen und Grenzen des Sinnverstehens liegen in der subjektiven Verfasstheit beider und das Verstehen der Therapeut*in ist nur eines der vielen möglichen Zugangswege. Verzichtet die Therapeut*in auf Deutungshoheit und scheinbares Wissen darüber, was mit der Patient*in los sein soll, dann setzt er/sie sich und die Patient*in den Ängsten aus, die man in sich verspürt, wenn vorübergehend Orientierungslosigkeit, Ohnmacht und Nicht-Verstehen zugelassen werden können. Diese Haltung anerkennt, dass psychische Wahrheit prinzipiell subjektiv, vorläufig, unvollständig, beunruhigend ist und vor allem nur gemeinsam kontextuell konstruiert werden kann ? nicht alleine von der Therapeut*in, aber auch nicht alleine von Patient*innen. Im intersubjektiven Verständnis liegt der Schwerpunkt therapeutischer Arbeit in der teilnehmenden Beobachtung und Reflexion der Art und Weise, wie gesprochen wird. In der Übertragung reaktualisieren sich nämlich zwangsläufig die alten, verinnerlichten, oft erstarrten dysfunktionalen Beziehungsentwürfe aller und werden im Sinne einer »interaktiven Ansteckung« im Miteinander erfahrbar. Die Therapeut*in kann dabei keine außenstehende Wissensposition einnehmen. Wenn es gelingt, die miteinander erlebten konflikthaften Szenen, die fixierten und ich-einschränkenden Verhaltensmuster wieder mit den zugrundeliegenden Konflikten und den eigenen inneren Gefühlen in Verbindung zu bringen, entstehen Sinnzusammenhänge und ein Zugewinn an kohärentem Selbsterleben.

Dem verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzept liegt ein anderes Verständnis zugrunde. Zwar gewinnt auch hier die therapeutische Beziehung zunehmend an Bedeutung – zumal in der Psychotherapie gezeigt werden konnte, dass der Outcome vor allem vom emotionalen Erleben in der therapeutischen Beziehung und erst in zweiter Linie von Theorie, Technik, Wissensvermittlung und kognitivem Verstehen bestimmt wird. Dennoch wird das Verhältnis zueinander mehr durch eine standardisierte Rollenzuschreibung einer wissenden Therapeut*in und einer unwissenden Patient*in bestimmt; der eine glaubt zu wissen und der andere hofft darauf, von einem Fachmann, einer Fachfrau objektive Wahrheiten über sich zu erfahren und durch Hilfe von außen von inneren Nöten befreit zu werden. Die Therapeut*in ist zudem nicht so sehr mit ihren persönlichen, subjektiven Kompetenzen und Schwächen involviert, sondern orientiert sich an den Vorgaben eines störungsspezifischen Therapiemanuals (Ratschläge, was zu tun ist), das die Individualität der Patient*in und die Patienten- und Therapeutenvariablen weitgehend nicht berücksichtigen muss (Sulz).4

Vergleicht man beide Konzeptionen der therapeutischen Arbeitsbeziehung, so sind auch hier ambivalente, gegensätzliche Wünsche zu erkennen: einerseits die Sehnsucht nach einem, der weiß wie es geht und etwas »macht« ? andererseits gleichzeitig der komplementäre Kampf gegen Fremddefinition. Wie auf der gesamtgesellschaftlichen Bühne begegnet man auch in Therapien dem Drang zu Idealisierung (incl. Identifizierung und Teilhabe am Ruhm) und in der Nachfolge dem Kippmoment in die Entwertung, weil die Therapeut*in Nöte und Bedürfnisse zwar anerkennen, aber sie weder »wegmachen« noch erfüllen kann. Der intrapsychische Konflikt in der Person wird dann bisweilen auf die interpsychische Bühne zwischen den Personen aufgespalten, wo einer Hilfestellungen und Ratschläge anbietet, die der Andere dann ablehnen kann. Die Suche nach dem Gegengift: Um der mit Idealisierung verbundenen Angst vor verschmelzender Identifikation zu entgehen, wird das Gegenteil davon gemacht ? die Orientierung am Anderen aber bleibt unverändert, das Gegengift nicht wirklich heilsam.

Zur Bedeutung von Symptom, Abwehr, psychischer Störung und diagnostischen Kategorien - verfahrensspezifische Perspektiven

Die kognitivistisch-verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Verfahren unterscheiden sich auch grundlegend in ihrem Verständnis bezüglich der Bedeutung von Symptomen, psychischen Störungen, der Frage nach Kategorisierung in Diagnosen. Dies hat weitreichende Konsequenzen auf die Behandlungstechnik. Psychodynamisches Denken geht von der ubiquitären Existenz sozialer Grundkonflikte aus, die sich um die Koexistenz paradoxer, widersprüchlicher Bedürfnisse drehen; die Ambivalenz kann zu unaushaltbaren, zumeist unbewussten, namenlosen Spannungszuständen führen, dass das psychisch Nicht-Verstandene und Nicht-Integrierbare zur Symptombildung führt. Zu den menschlichen psychischen Grundbedingungen gehören der Wunsch nach befreiender Veränderung und gleichzeitig der Angst davor. Deshalb kann Veränderung nicht gegen die Abwehr des Einzelnen (Gegengift), sondern nur in Zusammenarbeit mit den Befreiungswünschen geschehen.5 Symptome werden als Sprache, als Ausdruck ungelöster unbewusster Konflikte verstanden – sie haben also Funktion und Sinnhaftigkeit. Mentzos6 spricht von der »Funktion der Dysfunktion« und verweist damit nicht nur auf die defizitären, sondern auch die resilienten Aspekte von psychischen Störungen. Sie sind nicht statisch und festschreibend, sondern funktional und dynamisch zu verstehen. So können Krankheitssymptome des Einzelnen Hinweis und Ausdruck kranker oder krankmachender sozialer Systeme sein und damit resilienter Natur. Man denke z.B. nur an psychisch auffällig gewordene Kinder in gestörten Familiensystemen (die Rolle des Symptomträgers im System). Therapeutisches Arbeiten sucht deshalb nicht primär nach den Auslösern, sondern den zugrundeliegenden Gründen und Konflikten und der mehr oder weniger gelingenden Art und Weise, wie diese Konflikte verarbeitet oder abgewehrt werden. Nach Mentzos ist nicht primär der Konflikt, sondern die spezifische Art der Abwehr entscheidend für die Entstehung von psychischem Leiden. Persistierende dysfunktionale Erlebens- und Verhaltensmuster werden als bestmögliche, aber misslingende Pseudolösung vorbestehender Grundkonflikte verstanden.6 Der gewählte Verarbeitungsmodus erwies sich nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems. Psychodynamisches Arbeiten fokussiert deshalb nicht primär auf die rasche Beseitigung von Symptomen, auch nicht auf das Wissen über, sondern der Suche nach der individuellen Bedeutung und der Art der Konfliktverarbeitung. Diese weist bei unterschiedlichen psychischen Krankheiten starke Ähnlichkeiten auf. Grundkonflikte sind allgemein menschlich und häufig vergleichbar – sie können depressiv, zwanghaft, phobisch, süchtig, psychosomatisch usw. verarbeitet werden, in Abhängigkeit von den stets individuell-strukturellen Möglichkeiten der einzigartigen Persönlichkeit. Insofern spielt behandlungstechnisch die kategoriale diagnostische Zuordnung eine untergeordnete Rolle.

Verhaltenstherapeutische Ansätze versuchen, sich im kognitiven Verstehen und der behandlungstechnischen Umsetzung idealerweise an ein wissenschaftlich evaluiertes störungsspezifisches Therapiemanual zu halten, vergleichbar der »Evidence Based Medicine«4. Man geht von Common Factors4 bei den einzelnen Krankheitsbildern aus, die Allgemeingültigkeit in der jeweiligen Diagnosekategorie haben. Das Übergeordnete hat Vorrang vor der Bedeutung des Subjektiven, sowohl bei der Patient*in wie der Therapeut*in. Symptome werden auf ihren Auslöser hin erforscht und nach Wegen und Praktiken gesucht, wie sie best- und schnellstmöglich reduziert bzw. beseitigt werden können. Anders als bei der nach außen hin scheinbar passiven, tatsächlich im Inneren aber hochaktiven Präsens der psychodynamischen Therapeuten werden Verhaltenstherapeuten im Handeln aktiv; sie geben Ratschläge und konkrete Hinweise zu möglichen Verhaltenskorrekturen und Anpassungsmodalitäten. Dies bringt für Patienten häufig eine schnellere Symptombesserung und spürbare Entlastung mit sich, die sie handlungs-, funktions- und evtl. rascher arbeitsfähig machen und ein labilisiertes Selbstwerterleben wieder stärken. Kritisch anzumerken wäre, dass zugrundeliegende gesellschaftliche Normen wie Kostendruck, Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung bedient, zumindest vom Methodenansatz her kaum infrage gestellt und in ihrer längerfristigen Wirkung auf das individuelle Schicksal der Patient*in hin reflektiert werden.

Waltraud Nagell ist Fachärztin für Innere Medizin, Psychotherapie, Psychoanalyse und Gruppenanalyse und arbeitet in freier Praxis in Frankfurt/Main. – Es wird versichert, dass keinerlei Interessenskonflikte bestehen.

Verweise

  1. Werner Bohleber: Identität und Selbst. Die Bedeutung der neueren Entwicklungsforschung für die psychoanalytische Theorie des Selbst, in: Psyche – Z Psychoanal 1992, (46), S. 336 – 365
  2. Brigitte Hausinger: Riskante Arbeitswelten-Die Expertise der Supervision, in: Rolf Haubl, Brigitte Hausinger, G. Günter Voß (Hrsg.): Riskante Arbeitswelten. Zu den Auswirkungen moderner Beschäftigungsverhältnisse auf die psychische Gesundheit und die Arbeitsqualität, Frankfurt 2013
  3. Vera King: Zeitgewinn und Selbstverlust in verdichteten Arbeits- und Lebenswelten. Oder: Wie übersetzen sich Veränderungen gesellschaftlicher Praxis in psychosoziale Belastungen?, in: Rolf Haubl, Brigitte Hausinger, G. Günter Voß (Hrsg.): Riskante Arbeitswelten. Zu den Auswirkungen moderner Beschäftigungsverhältnisse auf die psychische Gesundheit und die Arbeitsqualität, Frankfurt 2013
  4. Serge Sulz: Supervision in der Ausbildung zum Kognitiven Verhaltenstherapeuten, in: Wolfgang Mertens, Andreas Hamburger (Hrsg.): Supervision – Konzepte und Anwendungen, Band 2, Stuttgart 2017
  5. Thea Bauriedl: Szenische Veränderungsprozesse in der Supervision, in: Bernd Oberhoff, Ulrich Beumer (Hrsg.): Theorie und Praxis psychoanalytischer Supervision, Gießen 2001
  6. Stavros Mentzos: Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen, Göttingen 2009

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)


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