GbP 3-2022 Mujawayo-Keiner

»Wir konnten kämpfen, weil wir nichts mehr fürchteten.«

Interview mit Esther Mujawayo-Keiner

»AVEGA setzt sich für soziale Gerechtigkeit für die Witwen des Völkermords an den Tutsi von 1994 sowie für andere gefährdete Frauen, Kinder und Familien ein, die vom Konflikt betroffen sind. Wir tun dies, indem wir den Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu sozioökonomischen Möglichkeiten verbessern und die Gleichstellung der Geschlechter fördern, damit die Mitglieder ihr Leben verändern und wieder aufbauen können. Die Organisation wurde am 30. Oktober 1995 als lokale gemeinnützige Organisation eingetragen. Heute zählt sie mehr als 20.000 Witwen und über 71.000 Angehörige und Genozid-Waisen zu unseren Mitgliedern. Wir arbeiten auch mit jungen Menschen, die ein generationenübergreifendes Trauma erleben, und mit Kindern, die nach einer Vergewaltigung durch den Völkermord geboren wurden. Was als Gespräch begann, hat sich zu einem landesweiten Unterstützungsnetz entwickelt, das Menschen dabei hilft, ein Unternehmen zu gründen, finanziell unabhängig zu werden, verlorenes Land und Eigentum zurückzuerlangen und Zugang zu psychologischer Hilfe zu erhalten.« (Übersetzung von der AVEGA-Homepage) Esther Mujawayo-Keiner gründete in Ruanda die Association des Veuves du Génocide (AVEGA1 – Organisation der Witwen des Genozids), zusammen mit anderen Frauen, die den Genozid überlebt hatten. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie als Traumatherapeutin, zunächst in Ruanda und seit 2001 in Deutschland. Zurzeit arbeitet sie zusammen mit unserem Redaktionsmitglied Felix Ahls beim Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf e.V. (PSZ Düsseldorf). Für diese Ausgabe der GbP sprachen die beiden über den Völkermord, sowie ihren Werdegang und Arbeitsansatz als Traumatherapeutin sowie über eigenständige Organisierung und kollektive Traumabewältigung. Wie auch in ihren Büchern wird in diesem Interview explizit über traumatische Erfahrungen mit extremer Gewalt und das Leben danach berichtet.

FA: 1995, kurz nach dem Genozid in Ruanda, hast Du gemeinsam mit anderen Witwen AVEGA gegründet. Kannst Du kurz erzählen, wie Ihr zusammengefunden habt und wie es zur Gründung kam? Was für eine Organisation war AVEGA? Wie habt Ihr gearbeitet und wie hat sich Eure Arbeit mit der Zeit verändert? Ist die Organisation immer noch aktiv?

EMK: Formell gegründet haben wir AVEGA im Jahr 1995, aber angefangen hat es schon 1994, direkt nach dem Genozid. Der hat am 7. April 19942 angefangen, im Juli war er beendet. Drei Monate lang gab es Tote, Tote, Tote. Es ging ums Verstecken und Überleben. Eine Million Menschen wurden in dieser Zeit ermordet. Wenn Du bis Juli überlebt hast, hast Du immer gedacht, Du bist die Einzige. Denn Du hast immer nur gehört, wer alles gestorben ist. Und dann plötzlich triffst Du eine Freundin auf der Straße. So hat AVEGA angefangen. Es gab so viele Freundinnen, die Witwen waren. Und wenn Du Jemanden getroffen hast, die Dich kennt, die noch lebt, Jemand mit dem Du reden kannst, Jemand bei dem Du weinen kannst, dann war das therapeutisch. Aber wir wussten nicht, dass das therapeutisch ist. So wie wir nicht wussten, dass wir traumatisiert waren. Wir haben gedacht, wir sind verrückt.

FA: Was meinst Du damit?

EMK: Was Du machst, ist total bizarr: Vorher warst du eine Dame, hast z.B. als Sekretärin gearbeitet und du gehst nun auf die Straße und hast Dein Kleid falsch herum angezogen. Du schämst Dich und fragst Dich, was mit Deinem Kopf ist. Oder Du willst zum Markt gehen und weißt plötzlich nicht mehr, wo er ist, obwohl Du dort immer hingegangen bist. Dieses Konzentrationsproblem gab es sehr oft, auch bei mir. Auch Kochen war plötzlich ein Problem. Du hast eh schon Schwierigkeiten, genug zu essen zu finden für die Kinder und dann kochst Du und weißt nicht mehr, ob Du schon gesalzen hast oder nicht. Und dann machst Du ein zweites Mal Salz rein oder sogar ein drittes Mal und man kann es nicht mehr essen. Ganz oft passierte es jedenfalls, dass Freundinnen sich wieder gesehen und gemerkt haben, dass es hilft zu reden. Alle haben gesagt: Das ist toll. Wir sollten uns mehr treffen. Aber wir hatten kein Büro oder einen Plan, was wir machen. Zuerst haben wir uns nach Feierabend im Büro einer Freundin getroffen, die damals schon bei einer NGO gearbeitet hat, oder einfach draußen unter einem Baum oder in einem Raum der Kirche. Dann kamen wir auf die Idee, etwas zu mieten. Um an Geldgeber zu kommen, mussten wir formal eine Institution gründen. Deshalb haben wir angefangen, eine Satzung zu entwerfen. Es gab da eine Frau, eine Britin, die in Ruanda geboren wurde, die in einer internationalen NGO arbeitete. Ihr Bruder wurde im Genozid getötet und ihre Schwägerin war Witwe wie wir. So kannte sie solche Geschichten auch aus ihrer Familie, aber sie kannte sich auch aus mit Organisationen und stellte Kontakte für uns her zu NGOs, die uns finanzieren könnten. So kam es auch, dass unsere finanzielle Förderung aus Großbritannien kam. Dann konnten wir ein kleines Büro mieten und eine Person bezahlen. Sie konnte Leute empfangen, die tagsüber kamen, und wir setzten unsere Abendtreffen fort. Und ganz langsam wurde die Organisation größer und größer. Heute sind wir mehr als 25.000 Mitglieder und im ganzen Land verteilt. Es hat wohl geholfen, dass wir als Selbsthilfegruppe von Witwen authentisch waren.

FA: Wie war die Zusammenarbeit mit internationalen NGOs, hatte das Einfluss auf Euch und die Organisation?

EMK: Unser großes Problem war, dass die NGOs, die Geldgeber, ihre eigene Politik machen. Sie sagen Dir: Wir finanzieren dieses Projekt. Und Du sagst: Ja, sowas brauchen wir. Nun gibt es im Gesundheitsbereich die körperliche Gesundheit, aber auch die psychische Gesundheit. Man muss wissen: Die meisten Menschen, die überlebt haben, haben deshalb überlebt, weil die Killer gedacht haben, Du bist tot. Sie haben Dich verwundet, mit einer Machete verletzt und wähnten Dich tot. Viele Überlebende mussten anschließend operiert werden. Ich erinnere mich an eine Frau, der sie ins Gesicht gehackt hatten. Sie konnte ihren Mund nicht mehr öffnen. Sie konnte nur noch Flüssignahrung zu sich nehmen. Als sie dann Malaria bekam und sich dauernd übergeben musste, ging das nicht, weil sie den Mund nicht aufmachen konnte. Also musste sie es wieder herunterschlucken. Es war Horror. Es gab viele ähnliche schreckliche Fälle. Mit all diesen körperlichen Gesundheitsproblemen haben wir zu kämpfen. Aber wenn wir dann darüber sprachen, was passiert ist, war das Schlimmste, dass die Menschen nicht über Vergewaltigung sprachen. Langsam wurde uns klar, dass das eine Katastrophe war. Viele Frauen überlebten diese drei Monate nur, indem sie von Mobs vergewaltigt wurden. Viele wurden mit HIV infiziert und viele starben auch daran, weil sie keine medikamentöse Behandlung bekamen. Dies war einer der größten Kämpfe mit den NGOs, weil wir ihnen sagen mussten: Wir brauchen weder Trainings noch Informationen, wir brauchen Geld für HIV-Medikamente, die Frauen sterben sonst. Das war ein großer Kampf, den NGOs klar zu machen, dass sie etwas finanzieren sollten, was nicht zu ihrem Politik-Konzept gehörte.

FA: Gab es da Ausnahmen? Gab es NGOs, die anders agiert haben?

EMK: Nein, eigentlich nicht. Es gab eine kleine Organisation in Holland, mit einer sehr engagierten Frau. Von ihr bekamen wir die ersten HIV-Medikamente. Ich erinnere mich an das Mädchen, dem ich mein erstes Buch3 gewidmet habe. Wir konnten sie nicht retten. Sie war 16, als sie vergewaltigt wurde und 19, als sie starb, weil die Medikamente zu teuer waren. Wir sind heute sehr stolz darauf, dass wir so lange gekämpft haben, dass HIV-Medikamente in Ruanda erst bezahlbar wurden und heute sogar kostenlos zur Verfügung stehen. Wir konnten kämpfen weil wir nichts mehr fürchteten. Wir haben alles verloren. Und wenn Du alles verloren hast, hast Du die Chance, frei zu sein. Wir sind nicht gestorben, wer soll uns noch Angst machen? (Sie lacht.) Und dann haben wir es uns zunutze gemacht, dass die Menschen Angst vor Witwen haben. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass eine Witwe so etwas Ähnliches ist wie eine Hexe. So lebten wir anfangs mit diesem Stigma: Wir können nichts verlieren. Wir konnten dann sehr wirkungsvoll zusammen auftreten, zum Beispiel als wir einmal einer Frau geholfen haben, ihr Haus zurückzubekommen, dass von jemand anders in Besitz genommen worden war.

FA: Das klingt so, als ob Euer Kampf schließlich nicht nur Euch und anderen Witwen und ihren Familien beim Weiterleben geholfen hat, sondern auch für gesellschaftliche Veränderungen sorgte. Würdest Du das auch sagen?

EMK: Ich denke, wir haben viel beigetragen zur Veränderung in der Gesellschaft, besonders, was die Rolle der Frau angeht. Frauen sollten z.B. nicht melken. Das Problem war, dass die traditionellen Kleider beim Melken ungünstig waren, sie verrutschen, wenn man unter der Kuh sitzt, und man ist zum Teil entblößt. Das gleiche Problem hatten wir, wenn wir irgendwo hochsteigen mussten bei der Arbeit. Also zogen wir Hosen oder Shorts an und jetzt können wir wie die Männer sitzen beim Melken. Wir hatten verrückte Ideen wie diese und begannen, sie zu propagieren. Wir nahmen auch an Treffen teil, die vorher nur für Männer waren, oder gingen zur Bank, um einen Kredit zu bekommen. Jetzt, wo es keinen Vater, keinen Bruder, keinen Ehemann mehr gab, stellte sich nicht mehr die Frage: Wer wird für Dich hingehen? Also bist Du selbst hingegangen und es war Dir egal. Immer mit dem Gedanken, dass Du ja sowieso eine Witwe bist und nichts zu verlieren hast. Ich kann nur gewinnen. Um wieder von der psychischen Gesundheit zu sprechen: Wir haben dieser britischen Frau erzählt, wie verrückt wir sind. Daraufhin hat sie uns mit einem Arzt in Kontakt gebracht, einem Psychiater und Psychotherapeuten, der wirklich nett war, Dr. Brandon, ein alter Mann. Und er kam zu uns und sagte, was ich allen meinen Klient*innen sage: »Frauen, Ihr seid nicht verrückt, was Euch passiert ist, war verrückt. Ihr seid nicht abnormal. Was Ihr für verrückte Reaktionen haltet, passiert, weil das, was Euch passiert ist, abnormal war. Wenn Du in drei Monaten Deine ganze Familie, alle Deine Kinder, Deine Gesundheit, Deinen ganzen Besitz verlierst, stell Dir vor, was noch übrig ist. Natürlich tut Ihr deshalb abnormale Dinge, aber eigentlich seid Ihr ganz normal.« »Sie meinen also, dass wir nicht verrückt sind?« »Ja, Ihr seid nicht verrückt.« »Also kann mit uns alles wieder in Ordnung sein?« »Ja, es kann wieder in Ordnung kommen. Sogar mehr als in Ordnung.«

FA: Diese Sätze kenne ich von Dir. Das hast Du von ihm gelernt?

EMK: Ja, das hat Dr. Brandon gesagt. Und das ist unser berühmtes Motto. Beziehungsweise dachten wir immer, das wäre unser berühmtes Motto, aber ich habe festgestellt, dass das eigentlich eine wissenschaftlich erwiesene Theorie ist. Nicht PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung, sondern PTG – Posttraumatic Growth, also Wachstum nach Trauma, nicht nur als Störung, sondern als Wachstum, das daraus entstehen kann. Dr. Brandon war sehr gut. Ich habe andere getroffen, die nicht gut waren. Und so bin ich Psychotherapeutin geworden, ja, ich springe jetzt etwas (Beide lachen). Ich habe eigentlich als Soziologin gearbeitet. Ich habe in Belgien Soziologie studiert und habe dann in Ruanda bei Oxfam gearbeitet und eine Familie gegründet, geheiratet, Kinder bekommen. Während des Genozids hat Oxfam wirklich viel versucht, um mir bei der Flucht oder beim Überleben zu helfen. Nachher bin ich dann zu meiner Arbeit bei Oxfam zurückgekehrt. Als nationale Vertreterin von Oxfam in Ruanda nahm ich an einem Treffen mit anderen großen NGOs teil, bei dem es um Trauma ging. Ich glaube, es war eine Person von UNICEF, die erzählte, was sie mit den traumatisierten Kindern machen, die alles gesehen haben, sie haben gesehen, wie ihre Eltern getötet wurden, sie mussten fliehen, sie mussten sich verstecken und sie waren noch so klein. Er beschrieb, wie sie den Kindern helfen, mit dem Trauma umzugehen. Und ich habe ihm gesagt: Es ist großartig, was Ihr macht, aber Ruanda ist nicht wie hier, eins der reichen Länder, wo man zur Therapie geht und zur Sozialarbeiter*in und so weiter. Wir haben nicht all diese verschiedenen Dienste. Was denken Sie also, was essen diese Kinder oder wo schlafen sie? Wer kümmert sich um sie, bei wem sind sie? Er war dann sehr unbeholfen und war kein guter Therapeut, denn er fragte mich: Warum fragen Sie das? Was ist Ihr Hintergrund? Was ist Ihr Beruf? Und ich sagte: Ich bin Soziologin, ich bin Leiterin von Oxfam. Und er sagte: Ich verstehe, dass Sie die Situation nicht verstehen. Das gehört nicht zu Ihrem Beruf. Und ich dachte: Okay, ich habe kein Diplom für diese Frage, aber was ich sage, ist trotzdem korrekt. (Beide lachen). Warte mal ab. Ich bring’ Dir ein Papier, ein Diplom und sage das gleiche nochmal. Ich bin sehr stur. (Sie lacht) Oxfam gewährte mir ein Sabbatjahr. Eigentlich war es so, dass nach dem Genozid eine Frau aus Großbritannien zu uns zu Oxfam kam, deren Begleiter im Kongo war und von den Geflüchteten im Kongo beeinflusst worden war. Es ist ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Geflüchteten im Kongo dieselben waren, die uns getötet hatten, bevor sie in den Kongo flohen. Diese Frau war naiv und sie erzählte nur Unsinn. Wir haben uns ständig gestritten. Also ging diese Frau zu Oxfam und sagte: »Esther ist so traumatisiert, es ist wirklich schwierig, mit ihr zu arbeiten.« Und ich sagte: »Ich bin nicht traumatisiert. Du bist dumm.« (Beide lachen.) Und wenn Du das zu einer Britin sagst, dann denkt sie, Du musst sehr traumatisiert sein.

FA: Diese Frau hat Dich pathologisiert. Ist Dir das oft passiert?

EMK: Sehr oft. Und das ist es, was man bei der Arbeit mit Traumatisierten wirklich immer beachten muss. Man darf nicht sofort denken: Das ist jetzt das Trauma, das ist jetzt das Trauma. Es ist wie mit dem Label des Psychosomatischen. Wenn Du die gan­ze Zeit denkst: Das ist psychosomatisch. Prüfe zuerst, ob der Magen in Ordnung ist, prüfe zuerst, ob die Muskeln in Ordnung sind, prüfe zuerst, ob das Herz in Ordnung ist. Oder mach beides. Aber dieses Label ist wirklich gefährlich! Ich bin froh, dass ich nicht so traumatisiert war. Denn ich konnte mich wehren. Eigentlich hatte ich richtig Glück. Ich habe überlebt, ohne dass ich körperliche Verletzungen davon getragen habe, weder durch Macheten noch durch Vergewaltigung. Und alle meine drei Töchter haben überlebt. Wenn ich also sage, dass ich sehr viel Glück hatte, denken die Leute: Bist Du verrückt? Aber im Vergleich zu den anderen ist es so. Ich hatte danach meinen Job, ich hatte ein Dach über dem Kopf.

FA: Noch mal zurück zu Deinem Studium und dem Sabbatjahr. Haben Sie Dir das gegeben, um Dich da rauszuholen?

EMK: Ja, um mich da rauszuholen. Und sie haben mir wirklich grünes Licht gegeben. Ich durfte selbst entscheiden, was ich in dem Jahr mache, und sie haben mich weiter bezahlt, als ob ich arbeiten würde. Das war wirklich toll. Ich konnte auch meine Kinder mitnehmen. Wir gingen zusammen mit einer Cousine, die auch Witwe war und einen kleinen Jungen hatte, und waren wie eine Familie mit 2 Witwen und 4 Kindern. Ich habe an den dummen Trauma-Therapeuten gedacht und habe angefangen, nach etwas zu suchen, was ich im Bereich Trauma machen kann – und zwar in nur einem Jahr, was nicht einfach ist. Ich fand heraus, dass es eine Universität in East Anglia in Großbritannien gibt, die University of East Anglia in Norwich, nicht weit von London. Dort gab es ein sehr gutes Programm, inspiriert von Carl Rogers4, ein Psychotherapie-Intensivkurs. Es war wirklich toll. Die Gruppe in meinem Kurs war wirklich großartig und ich habe viel Energie aus meiner Therapie dort und aus meiner Gruppe mitgenommen. Dann ging ich zurück nach Ruanda und arbeitete mit den Witwen.

FA: Kannst du noch mehr zum Studium erzählen? Bei wem hast Du studiert bzw. welche Ansätze und Theorien hast Du gelernt?

EMK: Es gab dort zunächst ein langes Vorstellungsgespräch, um zu sehen, was Deine Motivationen sind, wer Du selbst bist und was Dein Hintergrund ist. Ich glaube wirklich, dass der Ansatz von Rogers die beste Schule ist. Für ihn ist es so, dass die Klient*in, obwohl sie viel, viel durchgemacht hat, immer noch am Leben ist, sie hat Ressourcen in sich, obwohl sie wirklich schwer erschüttert ist. Was die Therapeut*in mit ihrer Klient*in macht, ist, ihr die Sicherheit zu geben, den Raum, und das ganze Bla-Bla, das wir sagen – nein nicht Bla-Bla, das ist sehr wichtig (beide lachen), um ihr dann zu helfen, sich umzustrukturieren, zu reorganisieren, zu gießen, zu düngen, dies alles. Es geht wirklich vom Klienten aus. Deshalb ist es personenzentrierte Therapie. Nach dem Bewerbungsgespräch sagte mir der Professor: Weißt du, Esther, ich zögere noch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich nehmen kann. Und ich sagte: Warum? Und er fragte mich: Ich habe Angst, dass wenn ich Dich aufnehme, wenn Du nach East Anglia kommst und im Laufe des Jahres, wenn Du auch hospitierst und zu therapieren beginnst, glaubst Du, dass Du in den Therapiesitzungen wirklich Mitgefühl für jemanden haben wirst, der seinen Hund verloren hat?

FA: (lacht) Ja, aber er stellte eine richtige Frage.

EMK: Ja genau. Das ist wichtig für mich: Man kann die Probleme der Menschen nicht gegeneinander abwiegen. Für manche ist der verstorbene Hund ja wirklich ein Trauma, eine Katastrophe. Aber sie haben versucht, mir keine Klient*innen zu geben, deren Probleme Haustiere waren. Wenn Du selbst Deine ganzen Leute verloren hast, dann passt das nicht so gut. Ach ja und es gab noch etwas (lacht): Ich habe ein Problem mit Hunden und Katzen. Als der Genozid begann, wurden alle weißen Menschen evakuiert. Und es gab eine Freundin in Belgien, die bereit war, meine Kinder aufzunehmen, ich hatte bereits die Pässe für die Kinder, wir waren gut vorbereitet. Also habe ich sie angefleht, meine Kinder mitzunehmen! Sie sagten, sie dürften keinen Ruander*innen, keine Tutsi evakuieren. Stattdessen haben sie die Belgier*innen mit ihren Katzen und Hunden evakuiert.

FA: Ich dachte gerade: Am Ende bist Du hier im PSZ bei Leuten gelandet, die existenziellere Probleme haben als verstorbene Haustiere.

EMK: Natürlich! Hier im PSZ ist es ähnlich wie in Ruanda.

FA: Was hast Du nach dem Studium gemacht? Hast Du dieses Wissen auch an die anderen weiter geben können?

EMK: Ja. Ich bin also zurückgegangen nach Ruanda und wir haben Therapie gemacht. Ich war weiterhin Angestellte von Oxfam mit allen Vorteilen. In der Zwischenzeit war auch das AVEGA-Programm größer geworden. Wir haben viele Häuser für die Witwen gebaut, die ihre Häuser verloren haben. Es gab auch wieder Geldgeber, die sagten: Wir finanzieren keinen Hausbau. Wir finanzieren nur die Renovierung von Häusern, die beschädigt wurden. Wir mussten also irgendwo anders ein bisschen Geld finden, um das Haus bis zu einem gewissen Grad aufzubauen. Und dann haben wir Geld von den Geldgebern verlangt, damit wir ein Dach aufsetzen konnten und Fenster einbauen, also quasi renovieren. Tja, was macht man da? Die Menschen, die das Geld haben, bestimmen die Politik und schauen nicht auf deine Bedürfnisse. Am beliebtesten waren für die Geldgeber diejenigen Projekte, die auch wieder Geld einbrachten. Und so konnten sie obendrein zeigen, dass Frauen empowert werden können, dass sie kleine Unternehmen führen können. Wir haben sie ausgebildet und dann waren sie unabhängig. Einer unserer Geldgeber für diese Programme war eine große Organisation aus Großbritannien namens Comic Relief. Für ihre Finanzierung nutzten sie diesen Red Nose Day, wo man sich diese Rote Nase aufsetzt und Comedy macht und solche Sachen. Aber dafür brauchten sie kurze Filme von Aktivitäten vor Ort. Also kamen sie und filmten unsere mutigen Frauen. Und als sie eines Tages fragten, ob sie wieder kommen und filmen dürften, habe ich sie abgewiesen, weil eine Freundin im Sterben lag: Nein, Ihr könnt nicht kommen und irgendetwas filmen. Das nächste Mal, wenn Ihr kommt, filmt ihr Gräber. Frauen sterben. Solange Ihr Euch weigert, uns antiretrovirale Medikamente zu geben, lohnt es sich nicht, Geschäftstätigkeiten zu fördern. Sie haben daraufhin den Film »Hope in Hell«5 (Hoffnung in der Hölle) gemacht, in dem sie Frauen interviewten, die vergewaltigt worden waren und mit HIV infiziert und die jetzt im Sterben lagen. Die Frauen fragten: Wenn ich sterbe, was passiert dann mit meinen Kindern? Es war ein beeindruckender Film! Als sie zum Red Nose Day nach Großbritannien zurückkehrten und den Film »Hope in Hell« zeigten, kam viel Geld zusammen, weil der Film so wirkungsvoll war. Wir haben dann gefordert, dass sie wenigstens die anti-retroviralen Medikamente für die Frauen in dem Film bezahlen, was sie auch taten. Das waren die ersten 14 Frauen. Sie waren wirklich kurz vor dem Sterben und dann ging es ihnen wieder gut. Darüber bin ich wirklich sehr froh. Wir konnten uns auch beim Gesundheitsministerium für ein Programm einsetzen, das Menschen, die HIV-positiv sind, hilft, nicht infizierte Babys zu bekommen. Wir haben also die AIDS-Sache gemacht, wir haben die Hausbausache gemacht, wir haben renoviert, wir haben Projekte zur selbständigen Lebensunterhaltssicherung gemacht, wir haben die Psychotherapie gemacht. Und was wir auch gemacht haben im Bereich Psychotherapie, mit Dr. Brandon, worauf wir wirklich stolz waren: Wir haben gemerkt, dass wir nie genug Therapeut*innen haben werden und eigentlich ist es nicht immer notwendig, einen Therapeuten zu haben. Wenn ich das sage, sind meine Kolleg*innen nicht glücklich (lacht). Aber man kann gar nie genug Therapeut*innen finden! Also haben wir so etwas wie psychotherapeutische Erste Hilfe gemacht. Was macht man als erste Hilfe, wenn so jemand traumatisiert ist? Wir haben also Frauen ausgewählt, die geeignet waren, die die Kapazitäten hatten, zuhören konnten. Als Menschen hatten sie Empathie, sie konnten auf eine Art zuhören, die wir helfendes aktives Zuhören (helpful active listening) genannt haben. Wir haben ihnen das Grundwissen beigebracht: Wie hört man zu? Man mischt sich nicht mit seinem eigenen Problem ein. Sag nicht: Ich auch. Bei Freund*innen sagst Du so etwas, aber diesen Frauen, die wir ausgebildet haben, haben wir beigebracht: Lassen Sie die Andere reden, hören Sie zu, ermutigen Sie sie. Und dann die Körpersprache: Wie Sie sitzen, diese kleinen Dinge. Und wenn Sie das Gefühl haben, es ist zu viel für Sie, dann leiten Sie sie weiter an die Therapeut*innen in der Organisation.

FA: Ich habe mir gerade vorgestellt, wie eure Organisation größer wurde und neue Arbeitsfelder hat. Hast Du dafür Beispiele oder habt Ihr einfach auf die Bedarfe reagiert?

EMK: Zu Beginn haben wir wirklich vor allem reagiert, aber dann haben wir begonnen, uns zu rekonstituieren, um unsere Finanzen besser zu strukturieren. Wir haben z.B. die Organisation dezentralisiert, denn die Reisekosten waren ein Problem.

FA: Gab es ähnliche Organisationen, die Euch als Vorbild dienen konnten?

EMK: Nein, die gab es nicht. AVEGA war wirklich die erste. Später haben wir Kontakt aufgebaut zu Organisation von Holocaust-Überlebenden, oder solchen die zum Genozid an den Armeniern arbeiteten. Und sie waren überrascht, wie früh wir angefangen hatte, über den Genozid zu sprechen. Wenn es nicht Gespräche unter uns, unter den Überlebenden selbst gewesen wäre, wäre das nicht so einfach gewesen.

FA: Ein sehr starker Aspekt dieses Ansatzes von Überlebenden für Überlebende!

EMK: Natürlich, Überlebende für Überlebende, und wir hatten Unterstützung durch Menschen, die uns wirklich zuhörten. Das taten nicht alle. Ich erinnere mich, dass eine christliche Organisation kam, die wirklich schlimm war. Sie kamen sehr menschlich daher und sagten: Frauen, was Ihr da macht, ist großartig. Jetzt wollen wir Euch finanzieren, wenn Ihr mit den Ehefrauen derer, die im Gefängnis sitzen, zusammenarbeiten wollt. Mit den Ehefrauen derer, die unsere Männer getötet haben. Und wir sagten ihnen: Ist das Euer Ernst? Das haben sie benutzt, um uns vorzuwerfen, dass wir rassistisch seien und nur für Tutsi arbeiteten, was nicht stimmt. Denn es gibt Frauen bei AVEGA, die Hutu sind und deren Ehemänner Tutsi waren und getötet wurden. Diese Organisation hat uns also Geld angeboten, aber wir haben Nein gesagt. Und wir waren stolz darauf. Und weil wir das internationale Tribunal angerufen haben wegen der Kombination von Vergewaltigung als Waffe, hat sich während des Krieges etwas im internationalen Recht geändert. Das war ein weiteres großes Thema.

FA: Welcher Gerichtshof war das?

EMK: Er wurde ICTR genannt – R für Ruanda, wie bei ICTY für Jugoslawien. Der ICC (International Criminal Court) kam später. Diese beiden wurden ad hoc geschaffen. Das Gericht war in Tansania, es gehörte zur UNO. Die dort inhaftierten HIV-positiven Täter wurden medizinisch versorgt, damit sie überlebten und dann verurteilt werden konnten. Ich folgte einer Frau dort auf Schritt und Tritt, die für das Gericht arbeitete, und sagte zu ihr: »Entschuldigen Sie, ich bin eine Witwe des Völkermordes, und ich möchte Sie fragen: Es ist großartig, dass Sie HIV-positive Menschen in Ihrem Gefängnis auf den Beinen halten, damit sie am Leben bleiben und verurteilt werden können. Aber was denken Sie über die Zeuginnen, die Frauen, die vergewaltigt wurden, die jetzt sterben, weil Sie sie nicht behandelt werden können?« Zumindest haben wir dafür gesorgt, dass die Frauen, die aussagen werden, auch behandelt werden. Ein bisschen so wie die Frauen, die von Comic Relief gefilmt wurden. Aber sie war sehr deutlich: Sie sagte, der Weg, den wir gehen, ist durch diese und jene Artikel vorgegeben. Es gibt keine Regelung für die Überlebenden, wir sind für die Gefangenen zuständig.

FA: Haben sie es geändert? Der ICC?

EMK: Der ICC hat das wegen uns geändert, ja. Es hat sich viel geändert. Zum Beispiel auch das Recht von Frauen zu erben. Wir haben wirklich viel Lärm gemacht und mit der Zeit auch Gesetze geändert.

FA: Vielen Dank für das Gespräch.

Verweise

  1. https://avega-agahozo.org/
  2. Am 6. April war das Flugzeug von Präsident Juvénal Habyarimana in Kigali abgeschossen worden; dies wird als äußerer Auslöser des Völkermords in Ruanda angesehen. (Die Red.)
  3. Esther Mujawayo, Souâd Belhaddad: SurVivantes – Rwanda, dix ans après le génocide, 2004; dt. Ausgabe: Esther Mujawayo, Souâd Belhaddad: Ein Leben mehr – Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, Wuppertal 2005
  4. Siehe z.B. https://www.carlrogers.de/grundhaltungen-personenzentrierte-gespraechstherapie.html
  5. Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=UuRq77nQirA (Dies ist der Link zu Teil 1, von dort wird man weitergeleitet zu den anderen Teilen der Dokumentation.)

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)


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