Vorreiter im Umgang mit dem Klimawandel
Laurie Laybourn-Langton über den NHS
Wir dokumentieren hier einen Text von der englischen Internetseite »Left Foot Forward«, der auf der Suche nach einem Weg jenseits des neoliberalen Staates den die nationale Institution National Health Service (NHS) – seit jeher Alternative zum Neoliberalismus – vorstellt als ein Vorbild dafür, wie der Staat das Handeln gegen den Klimawandel demokratisieren kann.
Der NHS ist Großbritanniens System der Gesundheitsversorgung, das bei Inanspruchnahme kostenlos ist und durch allgemeine Steuern finanziert wird. Die Debatten über den NHS konzentrieren sich (zu Recht) auf die Finanzierung und seine schleichende Privatisierung. Dies verdrängt jedoch wichtige Dimensionen der Arbeit des NHS: Sein Einfluss auf die Gesellschaft geht über die Behandlung von Menschen hinaus und zeigt außerdem, wie ein anderes Regierungsmodell die Maßnahmen gegen Umweltzerstörung beschleunigen und gleichzeitig deren Schäden beheben könnte.
Im Jahr 2018 gab der NHS in England jährlich 27 Milliarden Pfund für Waren und Dienstleistungen aus und war einer der größten Arbeitgeber der Welt, mit 1,5 Millionen Mitarbeiter*innen (etwa 5 Prozent aller Erwerbstätigen [in Großbritannien, Anm. d. Übers.]) und belegte über 8.000 Standorte auf 6.500 Hektar allein in England. Die schiere Größe seiner Aktivitäten führt dazu, dass der NHS einen Einfluss auf die Welt hat, der darüber hinausgeht, kranke Menschen gesund zu machen.
Das kann gut oder schlecht sein. So hat der NHS beispielsweise rigide Ansichten darüber, was ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bei den Medikamentenpreisen ausmacht. Diese Einschätzung wird sowohl vom zentralisierten NHS-Beschaffungssystem für Medikamente als auch von vielen medizinischen Diensten auf der ganzen Welt verwendet und in der Folge werden die Preise für Medikamente weltweit nach unten gedrückt.
Auf der anderen Seite ist der NHS für etwa 3,5 Prozent des gesamten Straßenverkehrs in England verantwortlich, was zu Treibhausgasemissionen und Luftverschmutzung führt, die Krankheiten entstehen lassen, Leben verkürzen und geschätzte wirtschaftliche Kosten von 345 Millionen Pfund verursachen. Wie auch immer, der NHS kann seine enorme Macht nutzen, um soziale, wirtschaftliche und ökologische Aspekte in Großbritannien zu verbessern – auch über den klinischen und medizinischen Bereich hinaus.
Entscheidend ist, dass dies auf eine Art und Weise geschehen kann, die das Aufblühen einfallsreicher Gemeinschaften fördert und die Zentralisierung der neoliberalen Ära und des ihr vorangegangenen Nachkriegskonsenses hinter sich lässt. Dies geschieht in der Tat bereits. Mehrere Krankenhäuser und Gesundheitszentren verfolgen den Ansatz des gemeinschaftlichen Wohlstandsaufbaus [»community-wealth-building« im Original], um als »Ankerinstitutionen« aufzutreten und ihre wichtige Rolle als Käufer von Gütern und Dienstleistungen, als Grundbesitzer und Arbeitgeber zu nutzen.
Das hat einige dazu veranlasst, auf Krankenhausgeländen erneuerbare Energie zu erzeugen, welche durch Investitionen der Gemeinde finanziert werden. Folglich bringt es den Menschen vor Ort Gewinne, die in einigen Fällen auch in einen Fonds fließen, der Menschen unterstützt, die von Energiearmut betroffen sind. Gleichzeitig wird Wohlstand geschaffen und vor Ort gehalten, die Treibhausgasemissionen werden reduziert, die Energiekosten sinken, und die Gesundheit verbessert sich, da die Energiearmut verringert wird.
Inzwischen haben auch andere NHS-Einrichtungen Programme eingeführt, um Personal und Patient*innen zur Nutzung von Fahrgemeinschaften, zum Radfahren oder zum zu Fuß zu gehen zu motivieren, was wiederum durch körperliche Aktivität und weniger Luftverschmutzung die Fitness steigert, während gleichzeitig die Transportkosten gesenkt werden.
Weitere Beispiele sind die Beschaffung von einigen der 300 Millionen Mahlzeiten von nachhaltigen, lokalen Lebensmittelherstellern, die der NHS jedes Jahr serviert oder industrielles Abwärme-Recycling1 für die Menschen vor Ort, wodurch Rechnungen gesenkt und Energie eingespart werden können. Die Liste der Projekte lässt sich fortsetzen und zeigt in jedem Fall, dass eine nachhaltigere Gesundheitsversorgung gleichbedeutend ist mit einer effizienteren und effektiveren Gesundheitsversorgung.
Insgesamt haben lokale Maßnahmen sowie systemweite Veränderungen, einschließlich die Änderung des Verhaltens der zentralen NHS-Organe, dazu beigetragen, dass der NHS seine Umweltauswirkungen in bemerkenswertem Maße reduzieren konnte. Zwischen 2007 und 2017 sind die NHS-Emissionen um fast ein Fünftel gesunken, eine Menge, die den jährlichen Emissionen Zyperns entspricht. Dies gelang ihm, während seine Größe um mehr als ein Viertel zunahm, wie einige Indikatoren für die klinische Tätigkeit des NHS. Zwischen 2010 und 2017 hat der NHS seinen Wasserverbrauch um mehr als ein Fünftel gesenkt, was der Menge Wasser von 243.000 olympischen Schwimmbecken entspricht und rund 85 Prozent des Abfalls landen nicht mehr auf der Mülldeponie.
Der NHS hat noch einen langen Weg vor sich, bis er innerhalb wirklich garantierter Umweltauflagen arbeitet. Aber in vielerlei Hinsicht ist er weltweit führend, wenn es darum geht, seine Umweltauswirkungen zu verstehen und sie zu verringern. Dabei zeigt er uns, dass der Staat unverzichtbar ist, wenn es darum geht, auf Umweltkatastrophen zu reagieren, und zwar auf eine faire und besser vorbereitete Weise.
Dabei ermöglicht ein einheitliches Gesundheitssystem schnellere Veränderungen als zersplitterte private Systeme wie in den USA und stellt gleichzeitig sicher, dass die Gesundheitsversorgung ein grundlegendes Recht und kein Privileg bleibt. Auf diese Weise könnten die nationalen Strukturen des NHS einen angemessenen Schutz vor den enormen Gesundheitsbedrohungen bieten, die durch Umweltkatastrophen entstehen. Dies ähnelt der Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie, in der der NHS außerordentliche Ressourcen zum Aufbau ganzer Krankenhäuser innerhalb weniger Tage geboten hatte. Nicht nur der chinesische Staat kann dies tun. Diese Strukturen können auch den NHS in die Lage versetzen, als starker landesweiter Motor für Nachhaltigkeit zu fungieren und gleichzeitig die enormen Vorteile zu nutzen, zu einer nachhaltigeren Ernährungsweise und umweltfreundliches Reisen als Teil eines nachhaltigen Lebensstils im Allgemeinen zu lehren.
Eine solche Vision für den NHS bietet uns ein alternatives Modell für den Staat als Ganzes. Es ist ein Modell, das die Konzeption eines Green New Deal untermauert – der Plan für enorme, staatlich gelenkte Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels und anderer Umweltkrisen und gleichzeitig für die Beseitigung struktureller, sozialer Ungerechtigkeiten und zur Ankurblung von stagnierenden Volkswirtschaften.
Die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines grünen und gerechten Aufschwungs nach der Coronavirus-Pandemie und das Aufbrechen des Mythos, dass Regierungen keine Kredite aufnehmen und finanzieren können, um in außerordentliches Ausmaß zu investieren, um dringende Ziele zu erreichen, sind Ausreden für die Nichtumsetzung eines Green New Deal.
Aber selbst dann sind wir noch sehr weit von der Annahme eines postneoliberalen Modell des Staates entfernt. Auch beim NHS führen der Verkauf von öffentlichen Anlagen und das Outsourcing seiner Funktionen, zu einer Aushöhlung der staatlichen Macht. So haben umfangreiche Haushaltskürzungen und »Reformen«, dazu geführt, dass die öffentlichen Dienste nun wie private Unternehmen geführt werden und eine verschwenderische Bürokratie benutzen, die das neoliberale Mantra durchsetzen, welches betont, dass Wettbewerb und nicht Zusammenarbeit der Weg zum Erfolg sei.
Außerdem entzieht sich eine echte demokratische Kontrolle unserer knarrenden politischen Systeme des neunzehnten Jahrhunderts, die das Mitspracherecht der Wähler*innen einschränkt und die Einflussnahme von Interessengruppen begünstigen. Im Jahr 1948 hat Großbritannien die Gesundheit demokratisiert. Mit dem NHS, hatten Generationen des Kampfes den Menschen die Freiheit von Angst geschenkt. Generationen später ist eine stärkere demokratische Kontrolle über die Wirtschaft und Gesellschaft eine Voraussetzung für die Befreiung von der Angst und dem Feuer des ökologischen Zusammenbruchs.
Laurie Laybourn ist ein preisgekrönter Forscher, Autor und Stratege, er ist Visiting Fellow am Chatham House und am Global Systems Institute der Universität Exeter und Associate Fellow am Institute for Public Policy Research (IPPR).
(Quelle: Laurie Laybourn: The NHS shows the way in approaches to climate change, 16.04.2021, in: https://leftfootforward.org/2021/04/the-nhs-shows-the-way-in-approaches-to-climate-change/ – Übersetzung: Elena Beier / Felix Ahls)
1 https://www.cleanthinking.de/abwaerme-recycling-als-eine-technologie-der-energiewende/
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Klima. Wandel. Zukunft?, Nr. 2, Juni 2022)