GbP 2-2022 Fateh-Moghadam

Der Krieg in der Ukraine aus Sicht der Gesundheitsfürsorge

von Pirous Fateh-Moghadam

Als uns der Text »Der Krieg in der Ukraine aus Sicht der Gesundheitsfürsorge« des Arztes Pirous Fateh-Moghadam zugeschickt wurde, fanden die meisten Redaktionsmitglieder ihn gut und nützlich für eine Debatte. Redaktionsmitglied Felix Ahls meldete allerdings Kritik an, die wir in der Redaktion diskutierten und zunehmend für plausibel halten. Wir sind sehr froh, dass er seine Kritik nochmal zugespitzt und zu einem Text verarbeitet hat. Wir versuchen mit dem Druck beider Texte, der Debatte um den Krieg etwas Konstruktives hinzuzufügen, ohne einfache Lösungen anzubieten. (siehe Text von Felix Ahls in dieser Ausgabe)

Hintergrund

Am 24. Februar 2022 ist die russische Armee völkerrechtswidrig in die Ukraine einmarschiert und hat einen blutigen Angriffskrieg entfesselt, der zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Berichts bereits seit etwa drei Wochen andauert. Die Verantwortung für den Einmarsch und für den anschließenden bewaffneten Konflikt liegt allein bei der Regierung Putin, die seit zwei Jahrzehnten eine ultrareaktionäre imperialistische Politik verfolgt. Unsere Solidarität als Gesundheitsarbeiter*innen gilt dem angegriffenen Land und seiner Bevölkerung sowie denjenigen in Russland, die sich der kriegerischen Politik ihrer Regierung widersetzen.

Die NATO und mehrere westliche Staaten, die ihr angehören, verfolgen jedoch ebenfalls eine imperialistische Politik. Sie sind in ihrer Geschichte für völkerrechtswidrige Kriege verantwortlich, die massenhafte Verluste unter der Zivilbevölkerung zur Folge hatten. Diese unbestreitbare Tatsache kann jedoch nicht als mildernder Umstand für die niederträchtige Politik der russischen Regierung dienen.

Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, dass eine Analyse der gegenwärtigen Situation aus der Perspektive der Gesundheitsfürsorge, d.h. unter dem Gesichtspunkt des Schutzes und der Förderung der Gesundheit im Sinne des körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens, ein Wegweiser sein kann, um eine wirklich humanitäre Position gegenüber dem aktuellen Krieg zu finden und gleichzeitig einen Ausweg aus der gegenwärtigen globalen Unordnung in Richtung einer friedlicheren, dem Klimawandel gegenüber widerstandsfähigen Welt mit Gesundheit und Wohlbefinden für alle aufzuzeigen. Man muss nicht Ärzt*in oder Krankenpfleger*in sein, um diese Perspektive einzunehmen, wer aber im Gesundheitswesen tätig ist, hat eine Ausrede weniger, es nicht zu tun.

Die Natur der modernen Kriegsführung

Die lehrbuchmäßige Führung eines modernen Krieges beinhaltet die Zerstörung von Dämmen, Kraftwerken, Wasserversorgungssystemen, Krankenhäusern, Straßen, Brücken, Eisenbahnen, Flughäfen und Industrien. Der gegenwärtige Konflikt in der Ukraine unterscheidet sich nicht von dem, was bereits bei den Interventionen der UN-Bündnisse (Golfkrieg 1991) oder der NATO (Bundesrepublik Jugoslawien 1999) und der anglo-amerikanischen Koalition (Afghanistan 2002, Irak 2003) oder Russlands in Tschetschenien und Syrien, Israels in Gaza und im Libanon usw. zu beobachten war. Das ultimative Ziel ist immer die absichtliche Zerstörung der physischen und sozialen Umwelt eines ganzen Landes/Territoriums.

Gemeinsame Merkmale von bewaffneten Konflikten, an denen moderne Armeen beteiligt sind:

  1. 1. Einsatz von Rüstungsgütern und militärischen Strategien, die es unmöglich machen, zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden, die Bedeutung indirekter Auswirkungen bei der Bestimmung der unmittelbaren und langfristigen gesundheitlichen Folgen;
  2. die Abzweigung wirtschaftlicher Ressourcen aus dem Sozial- und Gesundheitssektor zugunsten des Militärs;
  3. die Verschärfung sozialer Ungleichheiten (sowohl im angegriffenen Land als auch im Land des Angreifers);
  4. die teilweise Privatisierung des Krieges (Söldner*innen) und die Aushöhlung der Bürgerrechte (sowohl im angegriffenen Land als auch im Land des Aggressors);
  5. das Risiko eines (auch versehentlichen) Einsatzes thermonuklearer Waffen und das Streben nach deren Entwicklung;
  6. die Erosion räumlicher, zeitlicher und rechtlicher Grenzen im Zusammenhang mit der zunehmenden Weltunordnung.

Auswirkungen auf die Gesundheit

Wir haben keine verlässlichen Daten über Tote und Verletzte im aktuellen Konflikt in der Ukraine, da auch der »Informationsblackout« immer ein Produkt des Krieges selbst ist. Es ist jedoch bekannt, dass selbst bei den direkten Auswirkungen in der Regel auf jeden getötete/n Soldat*in mindestens ein ziviler Todesfall kommt(1). Wir wissen auch, dass die durch indirekte Auswirkungen verursachten Todesfälle und Verletzungen ein Vielfaches der direkten Auswirkungen betragen(2).

Indirekte gesundheitliche Auswirkungen können durch die Zerstörung oder Beschädigung der Stromversorgung, von Gesundheitseinrichtungen, der Lebensmittelversorgung und der Wasser-/Abwasserentsorgung, durch die Bombardierung von chemischen oder nuklearen Industrien, durch lange Latenzzeiten von Waffen (nuklear/chemisch, Minen, Streubomben und andere nicht explodierte Munition), durch die Unterbrechung kultureller Aktivitäten und des Bildungswesens, durch allgemeines Chaos und die erzwungene Migration von flüchtenden Menschen verursacht werden. Außerdem ändern sich die Prioritäten: Menschen konzentrieren sich verständlicherweise auf das unmittelbare Überleben. Themen wie Umweltschutz oder langfristige Gesundheitsförderung werden irrelevant.

Ein konkretes Beispiel für dieses Konzept (neben vielen anderen) ergibt sich aus einer Analyse der bewaffneten Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent (3), aus der hervorgeht, dass die Zahl der Kinder, die durch indirekte Ursachen sterben, 3–4 mal höher ist als die Zahl der Kinder, die während der Kampfphase sterben. Diese Wirkung hält auch noch viele Jahre nach Ende des Konflikts an. Sie erstreckt sich bis in eine Entfernung von 100 km vom Kampfgebiet und ist vergleichbar mit der von Unterernährung.

Merkmale moderner bewaffneter Auseinandersetzungen sind insbesondere das Fehlen räumlicher, zeitlicher und rechtlicher Grenzen, die Unmöglichkeit, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden, langfristige indirekte Auswirkungen und die allgegenwärtige Gefahr einer thermonuklearen Eskalation. Sie verbieten sich deshalb auch als dann als Mittel, wenn humanitäre Ziele verfolgt werden sollen. Die einzig mögliche Haltung ist die des Widerstands und der Prävention.

Kriegsprävention: primär, sekundär und tertiär

Die Verhütung von Kriegen ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, aber die Angehörigen der Gesundheitsberufe haben eine Ausrede weniger, sich nicht zu engagieren, denn Krieg ist ein bedeutender Risikofaktor für die globale öffentliche Gesundheit. Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit müssen Militarismus und Krieg mindestens als gleichwertig mit anderen vermeidbaren Krankheits- und Todesursachen betrachtet werden. Wie in anderen Bereichen des öffentlichen Gesundheitswesens lassen sich auch bei der Kriegsprävention drei Ebenen unterscheiden:

  1. 1. Primärprävention: Verhinderung des Ausbruchs eines Krieges oder Beendigung eines bereits begonnenen Krieges;
  2. Sekundärprävention: Verhinderung und Minimierung der gesundheitlichen und ökologischen Folgen eines laufenden Krieges;
  3. Tertiärprävention: Bewältigung der Kriegsfolgen (einschließlich der Aufnahme von Geflüchteten).

In diese Richtung geht auch der Appell der (italienischen d.Ü.) Verbände der Ärzt*innen in Weiterbildung zum Krieg in der Ukraine und zur anhaltenden humanitären Krise in Europa (4), »diesen Konflikt zu beenden, indem man zu einer Lösung beiträgt, die eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten beinhaltet«. In dem Appell wird auch betont, dass es nicht nur um die Linderung von Leiden und die Behandlung von Krankheiten geht, sondern auch um die Berücksichtigung der sozialen Determinanten von Gesundheit.

Ich bin überzeugt, dass auch die Voraussetzungen von Kriegen berücksichtigt werden müssen, um die oben beschriebenen Aufgaben der primären Prävention richtig anzugehen. Es muss die Frage gestellt werden, welche Rolle die Gesundheitsberufe (und andere) bei der Bekämpfung und ausdrücklichen Ablehnung des Militarismus, der Existenz des Militärs (das selbst in Friedenszeiten enorme Gesundheits- und Umweltschäden verursacht) spielen. Man muss sich aktiv für die Reduzierung/Abschaffung der Militärausgaben, das Verbot der Atomwaffen in der Welt, des Waffenhandels usw. einsetzen.

Die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet ist unter diesem Gesichtspunkt eine Schlüsselfrage, die gegenwärtig die italienische und europäische Öffentlichkeit spaltet. Die Beurteilung der Frage, inwieweit die Lieferung von Waffen an die Ukraine mit den gesundheitspolitischen Zielen der Vorbeugung oder der sofortigen Beendigung der Feindseligkeiten vereinbar ist, kann ein nützlicher Kompass sein, um sich in dieser Debatte besser zurechtzufinden und aus professioneller Sicht Stellung zu beziehen.

Aus dieser Perspektive wird dann klar, dass die Lieferung von Waffen an den Kriegsschauplatz in der Ukraine, auch wenn sie politisch diskutabel ist, im Widerspruch zu den Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsfürsorge steht und von denjenigen abgelehnt werden muss, die für die Förderung der Gesundheit eintreten. Das Ersuchen um Waffen oder andere militärische Unterstützung durch diejenigen, die einen bewaffneten Kampf führen, um sich gegen eine Aggression zu verteidigen, ist legitim. Die Ablehnung eines solchen Ersuchens mit der Begründung, eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern, und in Anwendung des medizinischen Grundsatzes »primum non nocere« muss ebenfalls als legitim angesehen werden.

Die Worte von Giorgio Cosmacini (5) über die professionelle Rolle der für die Gesundheit Tätigen bezüglich der Kriegsverhütung in den ersten beiden Weltkriegen sollten uns zu denken geben: »Die Tatsache, dass niemand – oder nur sehr wenige – unter den Protagonisten der Medizin (…) das Problem der Verhinderung einer der tödlichsten Pandemien in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften aufgeworfen hat, sollte uns über die tatsächliche Folgerichtigkeit einer medizinischen Wissenschaft nachdenken lassen, die zwar behauptet, im Dienst des Lebens zu stehen, sich aber weigert, Position zu beziehen und sich für neutral erklärt. (…) Wenn die Ideologie und die Politik, die an der Macht sind, eine soziale und biologische Katastrophe wie den Krieg mit sich bringen oder ihr nicht wirksam entgegentreten, muss die Medizin, wenn sie nicht ›ein Modus der Macht‹ sein will, eine mutige Kritik an dem unheilvollen ideologisch-politischen Kontext üben. (…). Die Ärzte müssen ein neues Gebiet der Präventivmedizin erforschen: die Verhütung von Kriegen«.

Also: Was tun?

Unleugbar sind der Militarismus, die Präsenz von Atomwaffen (auch auf italienischem Boden), die Militärausgaben und der Waffenhandel Teil dessen, was Cosmacini einen »unheilvollen ideologisch-politischen Kontext« nennt. Zu den Forderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die auch durch die verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften des Sektors und die Ärztekammern unterstützt werden sollten, könnte daher ein öffentlicher Appell an die italienische Regierung gehören, den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (den Italien noch nicht unterzeichnet hat) zu unterzeichnen und zu ratifizieren; eine Verpflichtung zur Senkung der Militärausgaben, die in Mittel zur Förderung der globalen Gesundheit umgewandelt werden sollen (wer Frieden will, muss in Gesundheit und Wohlergehen investieren) und die unverzüglich freigegeben werden müssen, um als Hilfe für die Opfer des derzeitigen Krieges und zur Unterstützung der ukrainischen Gesundheitsstrukturen eingesetzt werden zu können; die Umwandlung der Armee in eine unbewaffnete Zivilschutzorganisation; die Aufnahme aller Migrant*innen, die wegen Kriegen oder katastrophalen politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Bedingungen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen.

Einigen werden diese Maßnahmen zu wenig Wirkung auf den aktuellen Konflikt versprechen. Unsere Ohnmacht ist in der Tat frustrierend. Ihre Umsetzung ist jedoch von entscheidender Bedeutung, wenn ein Historiker des Jahres 2050 über unsere unmittelbare Zukunft nicht zu den analogen Schlussfolgerungen kommen soll, wie Cosmacini angesichts der ersten zwei Weltkriege.

Wieder Anderen wird der Ansatz als unrealistische Utopie erscheinen. In Wahrheit ist die einzige Utopie hier aber die Überzeugung, dass wir künftige Kriege vermeiden können, wenn wir die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die ihre Entstehung begünstigen, unverändert lassen. Wie Rodolfo Saracci vor 30 Jahren in einem Leitartikel in der Zeitschrift Epidemiologia e Prevenzione feststellte6, »führen Versuche, einen Krieg in letzter Minute zu verhindern, wenn dessen wesentliche Voraussetzungen bereits gegeben sind, unweigerlich zum Scheitern. (…) Die Vorbeugung von Kriegen muss viel früher beginnen, und zwar durch langfristige Maßnahmen, zu denen wir als Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens einen Beitrag leisten müssen«.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Pirous Fateh-Moghadam, Leiter der Epidemiologischen Beobachtungsstelle, Abteilung Prävention, Gesundheitsdienst Autonome Provinz Trient

(Quelle: https://ilpunto.it/la-guerra-in-ucraina-un-punto-di-vista-sanitario/ Übersetzung: Andreas Umgelter)

Verweise

  1. Ergänzung des Übersetzers: C J L Murray, G King, A D Lopez, N Tomijima, E G Krug: Armed conflict as a public health problem, BMJ Volume 324 9, Februar 2002
  2. Ergänzung des Übersetzers: Levy BS, Sidel VW (Hg.): War and public health, New York: Oxford University Press, 1997
  3. Zachary Wagner, Sam Heft-Neal, Zulfiqar A. Bhutta, Robert E. Black, Marshall Burke, Eran Bendavid: Armed conflict and child mortality in Africa: a geospatial analysis, The Lancet, published online 30. August 2018
  4. Comunicato congiunto Federspecializzandi, CoSMEU e MeSLO sulla guerra in Ucraina e la crisi umanitaria in corso in Europa. Le associazioni dei medici in formazione specialistica sulla guerra in Ucraina e la crisi umanitaria in corso in Europa, Saluteinternazionale, info, 15. März 2022
  5. Giorgio Cosmacini: Storia della medicina e della sanità in Italia, Laterza 1987, S. 426-427
  6. Rodolfo Saracci: Prevenire la guerra, Epidemiologia e Prevenzione, n. 47, 1991

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Klima. Wandel. Zukunft?, Nr. 2, Juni 2022)


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