GbP 2-2022 Lehmkuhl

Divestment 

Ein Update von Dieter Lehmkuhl

2018 hatte Dieter Lehmkuhl in dieser Zeitschrift zu Divestment und über ärztlichen Initiativen berichtet, die ärztliche Versorgungswerke zu nachhaltigen Investitionen ihrer Kapitalanlagen bewegen wollten. Wir haben bei ihm nachgefragt, was sich seitdem getan hat.

In den vier Jahren seit 2018 hat sich eine große Dynamik entwickelt auf den internationalen Finanzmärkten, dem Gebiet der staatlichen Regulierung und der internationalen Klimapolitik, insbesondere der EU. Nachhaltige Geldanlagen sind weitgehend Mainstream geworden, obwohl viel Greenwashing und Etikettenschwindel dabei ist. Inzwischen fließt weit mehr Anlagekapital in erneuerbare Energien, die inzwischen in vielen Regionen preiswerter sind als fossile Energieträger. Die EU ist dabei, eine Taxonomie zu verabschieden, die definiert, was nachhaltige Investments sind und gibt damit – zumindest für die EU – einen Rahmen vor. Immer mehr Länder geben sich Ziele für Klimaneutralität bis spätestens 2050 (obwohl dies nicht ausreicht, um die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad zu begrenzen) und große Investoren, wie auch große Unternehmen verpflichten sich auf Netto Null-Emissionen bis spätestens 2050 und geben sich z.T. Zwischenziele, die mit Maßnahmen zur Zielerreichung unterlegt und regelmäßig und transparent überprüft und notfalls angepasst werden müssen. So z.B. die Net-Zero Asset Owner Al­liance, ein Bündnis klimaorientierter Anleger, das 2019 von der UN initiiert wurde und das große Pensionsfonds, Versicherungsunternehmen und institutionelle Investoren umfasst.

Die EU-Offenlegungsrichtlinie schreibt ab 2021 vor, dass Banken und große Finanzinstitute ihre Klimarisiken offenlegen müssen und die staatliche Regulierung verpflichtet zunehmend auch (große) Unternehmen, ihren Treibhausgasfußabdruck offen zu legen. Wenn es auch noch an Standards und einheitlichen Kriterien für das Reporting fehlt, so werden diese inzwischen entwickelt und auch immer mehr geeignete Verfahren (Tools) zu Klimarisikoanalysen erstellt. 

Finanzielle/ökonomische Klimarisiken

Klima-und umweltökonomische Analysen beziffern die ökonomischen Kosten durch Klimawandel und Umweltzerstörung bei einem »weiter so« auf ein Vielfaches der Kosten für Klimaschutz mit steigender Tendenz (z.B. Stern 2008). Ökonomische Studien zeigen, dass die physischen Risiken der Erderwärmung, sowohl durch Extremwetterereignisse und deren Folgen (Hitze- und Trockenperioden, Überflutungen, Stürme, Hagel, Waldbrände, Lawinen) als auch durch langfristige Veränderungen klimatischer und ökologischer Bedingungen, die transitorischen Risiken (durch Umstellung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft, politische Maßnahmen, Durchsetzung neuer Technologien) und Reputationsrisiken (keine gesellschaftliche und politische Akzeptanz von klima- und umweltschädigende Geschäftsmodellen) erhebliche Auswirkungen auf die Rendite von Kapitalanlagen bis zum totalen Werteverlust (so genannte stranded assets) haben können.

Laut einer aktuellen Studie unter Beteiligung der London School of Economics (LSE), der ETH Zürich und der Universität Cambridge könnte das Bruttoinlandsprodukt klimabedingt weltweit in diesem Jahrhundert um 37% sinken, 6 mal stärker als bisher angenommen. Die sozialen Kosten für eine Tonne CO2 werden mit 3.000 Euro angegeben. Laut einer Stresstest-Analyse des Swiss Re Institutes (2021) drohen der Weltwirtschaft bis 2050 Verluste des Bruttoinlandsproduktes von bis zu 18% (ohne Gegenmaßnahmen), dagegen nur 4 % bei Einhaltung des Pariser Klimaziels (unter 2 Grad). 55% des globalen BIP, das entspricht ca. 42 Billionen US-Dollar, sind abhängig von funktionierenden Ökosystemen und Biodiversität. Einem Fünftel der Länder droht der Zusammenbruch der Ökosysteme, wie die Studie des Rückversicherers Swiss Re zeigt, und der Klimawandel wird als langfristig größte Gefahr für die Weltwirtschaft bezeichnet. Die 30 Milliarden Euro Schäden der Flutkatastrophe 2021 im Rheinland und in NRW sind nur ein Vorgeschmack, was auf uns mit weiterer Erderwärmung zukommen wird.

Dass kein Klimaschutz viel teurer ist als Klimaschutz, wird inzwischen auch von der Politik anerkannt, auch wenn sie (noch) nicht dieser Einsicht gemäß handelt. Auch immer größere Teile der Wirtschaft und der Investoren verstehen inzwischen, dass der Klimawandel die Grundlagen ihres Wirtschaftens gefährdet und drängen die Politik zum Handeln. Wirtschaftliche Prosperität kann langfristig nur halbwegs gesichert werden, wenn man Klima- und Umweltschutz energisch, konsistent, sektorübergreifend und umgehend angeht. Das betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft sowie jeden Einzelnen nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Die ärztlichen Versorgungswerke als Investoren

Dieser Imperativ gilt auch für die ärztlichen Versorgungswerke, die über ein Anlagevermögen von etwa 120 Mrd. Euro verfügen. Über kurz oder lang werden auch sie die Klimarisiken ihrer Geldanlagen offenlegen und ihre Portfolios auf Klimarisiken und CO2-Bilanzen überprüfen müssen; zum einen, weil es von ihnen verlangt wird, zum anderen, um ihrer treuhänderischen Pflicht gegenüber ihren Mitgliedern nachzukommen, ihre Anlagen nachhaltig anzulegen, um langfristig wertbeständige Renten für ihre Mitglieder zu sichern.

Sie müssen die Klima- und Umweltrisiken nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre jüngeren Mitglieder berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Mai 2021 das Klimagesetz der Bundesregierung in Teilen für verfassungswidrig erklärt, weil es die Freiheitschancen zukünftiger Generationen unzulässig einschränke. Mit diesem Urteil hat der Klimaschutz de facto Verfassungsrang und theoretisch könnten sich aus dem Urteil auch Klagen von Mitgliedern gegen ihre Versorgungswerke ableiten. In Australien gab es eine entsprechende Klage, die weitgehend im Sinne des Klägers geregelt wurde1.

Die derzeitige Entwicklung stellt die für Kapitalanlagen Verantwortlichen vor große Herausforderungen, weil angesichts der multiplen ökologischen und anderer Krisen alte Gewissheiten nicht oder nur noch begrenzt gelten.2

Andererseits bieten sich durch die Transformation ökonomische Chancen (Stichwort Green Economy). Inzwischen gibt es hinreichend Evidenz, dass nachhaltige Anlagen i.d.R. besser, zumindest aber gleichwertig performieren als konventionelle, obwohl sie von traditionellen Investoren oft noch als Risikoinvestments angesehen werden.

Ärzteschaft und Kapitalanlagen

Das British Medical Journal, der Weltärztebund, große nationale Ärzteverbände (AMA, BMA, CMA) haben die Klimakrise zu einem medizinischen Notfall erklärt und haben zu Divestment, also dem Abzug von Kapital aus Industrien der fossilen Energiebranche und ihrer Förderer aufgerufen. Denn Divestment spielt für die Umlenkung von Finanzströmen in klima- und umweltfreundliche Anlagen eine zentrale Rolle. Der Finanzsektor wird als zentraler Hebel und wichtiger sozialer Kipppunkt für die sozialökologische Transformation angesehen.

Viele medizinische Fachgesellschaften in Großbritannien und Kanada folgen inzwischen mit ihren Kapitalanlagen diesem Aufruf. Das British Medical Journal startete 2020 seine Divestkampagne »Investing in Humanity«3 und hat dies ausführlich begründet.

Das ethische Argument

Ärzt*innen und ärztliche Institutionen sollten nicht in eine Industrie investieren, die der menschlichen und planetaren Gesundheit schadet und den Klimawandel- und die Umweltzerstörung befördert mit einer potenziell existenziellen Gefährdung der Menschheit. Ein Divestment-Aufruf von US-Ärzt*innen an medizinische Institutionen und ärztliche Pensionsfonds im NEJM vom März dieses Jahres schließt mit den Worten: »Lassen Sie uns bei unseren institutionellen Investitionspraktiken die gleichen ethischen Maßstäbe anlegen, die wir auch bei der Verpflichtung gegenüber unseren Patienten anwenden: Zuallererst keinen Schaden anrichten.« (Übersetzung d. A.)

Auch die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer sieht vor, dass es Aufgabe der Ärzt*innen sei, an der Erhaltung der natürlichen Grundlagen mitzuwirken, soweit sie sich auf die Gesundheit auswirken. Dass der Klimawandel als eine der größten, wenn nicht die größte Bedrohung der globalen Gesundheit anzusehen ist (WHO, Lancet), ist inzwischen unbestritten. Inzwischen hat auch der Deutsche Ärztetag 2019 zu ethischem und nachhaltigem Investment der Versorgungswerke aufgerufen.

Die Kapitalanlagen der ärztlichen Versorgungswerke und die AG Divestment

Das Thema Nachhaltigkeit scheint inzwischen in vielen Versorgungswerken angekommen zu sein, und das Bewusstsein für Klimarisiken ist gewachsen. Wirklich lässt sich das aber nicht beurteilen, da es dafür immer noch keine hinreichende Transparenz gibt. Ob es überhaupt Nachhaltigkeitsrichtlinien gibt und welche Kriterien diese leiten, ist oft intransparent. Die Situation in den Versorgungswerken ist dabei sicher unterschiedlich. Mit einigen Versorgungswerken bzw. den Landesärztekammern sind wir von der KLUG und Health for Future (H4F) Divestment AG im Kontakt und adressieren sie mit unterschiedlichem Erfolg. Das Versorgungswerk Berlin und die Bayerische Versorgungskammer, der auch das Bayerische Versorgungswerk angehört, scheinen Vorreiter zu sein. So lässt Berlin z.B. den CO2-Fußabdruck seines Portfolios analysieren und war auch das erste Versorgungswerk mit einem Divestmentbeschluss zu Kohle (2015). Die Bayerische Versorgungskammer ist vor einem Jahr als erster großer deutscher Finanzinvestor der Net-Zero Asset Owner Alliance beigetreten (s.o.). Auch die Rendite der Kapitalanlagen beider Versorgungswerke ist vergleichsweise vorbildlich.

Die gemeinsame AG Divestment von KLUG und H4F, der auch einige Mitglieder einiger psychotherapeutischen Versorgungswerke angehören, tauscht sich regelmäßig aus, hat verschiedene Online-Seminare zum Thema nachhaltige Kapitalanlagen durchgeführt, Experten eingeladen, verschiedene Artikel zur Nachhaltigkeit in Medizinzeitschriften publiziert, und war über ein Mitglied auch an wissenschaftlichen Untersuchungen zum Anlageverhalten ärztlicher Versorgungswerke und privater Krankenkassen beteiligt. Sie hat Basisinformationen zu nachhaltigen Kapitalanlagen erstellt sowie eine Liste von Best-Practice-Beispielen, die zeigen, dass es auch anders geht und dass Transparenz und Nachhaltigkeit nicht im Gegensatz zu Rendite stehen müssen: eher im Gegenteil.

Wir sind im Gespräch mit einem Finanzinstitut über die Auflage eines Impact Fonds, der sich an planetarer Gesundheit ausrichten soll. Auch mit der Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungswerke (ABV) sind wir inzwischen im Gespräch. Am 19. Mai 2022 fand eine Konferenz des Umweltbundesamtes mit Asset Ownern, darunter auch ärztliche Versorgungswerke, statt, an der wir beteiligt waren. Die Seminarserie soll fortgesetzt werden. Von der Bundesregierung wird derzeit ein neuer Beirat für Sustainable Finance berufen.

Derzeit erstellen wir ein Konzept für ein Seminar, um maßgeblich Verantwortlichen berufsständischer Versorgungswerke Gelegenheit zu geben, sich jenseits üblicher Diskussionsforen auszutauschen und Wege zu erörtern, wie Versorgungswerke ihre Portfolios perspektivisch 

  • klimaneutral (Net Zero Emissionen) bzw. 1,5 Grad kompatibel ausrichten, 
  • bei ihrer Investitionstätigkeit die planetaren Grenzen (bzw. Planetary Health) beachten,
  • und das Nicht-Schadens-Prinzip der ärztlichen Ethik und die Mitwirkung am Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen (Berufsordnung für Ärzt*innen) berücksichtigen können.

Leitend soll dabei sein: Es gibt nicht die eine Lösung, Grundsätze der Vergangenheit haben angesichts der multiplen ökologischen und ökonomischen Krisen und den mit ihnen einhergehenden disruptiven Veränderungen nur noch begrenzt Gültigkeit für die Zukunft. Das erfordert offenen Austausch, gedankliche Öffnung, Lernen von Best-Practice-Beispielen (die Außenperspektive). Die Transformation bietet mehr Chancen als Risiken auch in wirtschaftlicher Hinsicht gegenüber einem »weiter so«. Mit den Worten des Dichters und Schriftstellers Erich Fried: »Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht das sie bleibt.«

Dieter Lehmkuhl ist Arzt, aktiv bei der IPPNW und bei MEZIS und Gründungsmitglied von KLUG und Mitglied der AG Divestment von KLUG und H4F.

Anmerkungen

  1. https://www.ipe.com/news/australian-pension-fund-settles-climate-change- related-lawsuit/10048759.article;  https://www.jstor.org/stable/26554653 bzw. https://www.lawtimesnews.com/practice-areas/environmental/pension- fund-trustees-obligated-to-consider-climate-change-risk-lawyer/356834
  2. Larry Fink, der Chef von Blackrock und größter und einflussreicher Vermögensverwalter/Investor der Welt, hat 2020 in einem Brief an die Investoren mitgeteilt, dass der Klimawandel Blackrock dazu bringen würde, grundlegende Annahmen über moderne Finanzen neu zu bewerten und dies später präzisiert und eine Strategie vorgelegt, wie die gesamten Blackrock Investments 2050 klimaneutral werden sollen. Er tut dies – wie er betont – primär aus finanziellen Erwägungen.
  3. https://www.bmj.com/content/368/bmj.m167

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Klima. Wandel. Zukunft?, Nr. 2, Juni 2022)


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