GbP 4-2020 Hofmann

Manager*innen ihrer eigenen Krankheit

Tobias Hofmann über Patient*innen im Neoliberalismus

Polit-ökonomisch wie gesundheitspolitisch können wir inzwischen ziemlich genau beschreiben, was der Neoliberalismus an den Strukturen und finanziellen Beziehungen im Gesundheitswesen verändert hat. Auch, was das mit uns Ärzt*innen macht, haben wir schon oft diskutiert. Was aber macht das mit den Patient*innen? Tobias Hofmann versucht eine erste Antwort.

Als Neoliberalismus wird eine »Weltanschauung« bezeichnet, die nach einem Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen strebt1 und von Vorstellungen eines »schlanken Staates« und Marktfundamentalismus gekennzeichnet ist. Von den Menschen werden neben hoher Leistungsbereitschaft und Kompetitivität, individuelle Verantwortungsübernahme sowie persönliche Risikobereitschaft und Risikomanagement verlangt. Materielle Unterschiede und gesellschaftliche Ungleichheiten werden in erster Linie als Folgen bewusster, individueller Entscheidungen gesehen, und nicht als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen. Mit dem Begriff der Gouvernementalität beschrieb Michel Foucault Verfahren und Techniken aber auch unbewusste Gewohnheiten, die daran beteiligt sind, eine solche Gesellschaftsordnung zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Auf der Ebene des Individuums wirken dabei (neben Fremdführung und Disziplinierung) die von Foucault so genannten »Technologien des Selbst«, also Selbstführung, Selbstdisziplin und Selbstmanagement, die externe Wirkmächte in das Innere des Individuums verlegen und als »permanentes ökonomisches Tribunal« in allen Lebensbereichen wirken.2

Möglicherweise spiegelt sich diese Ausgestaltung des »homo oeconomicus« als »Unternehmer seiner selbst« (Foucault) bereits in der Entwicklung der Definition des Begriffes »Pa­tient*in« in Nachschlagewerken. Im Brockhaus von 1991 lautet diese beispielsweise: »Kranker in ärztlicher Behandlung, auch generell derjenige, der eine ärztliche Betreuung in Anspruch nimmt«3, in Wikipedia von 2020: »Mensch (…), der ärztliche Dienstleistungen oder Dienstleistungen anderer Personen, die eine Heilbehandlung durchführen, in Anspruch nimmt«.4 Deutlich scheint bereits an diesen Definitionen zu werden, dass Patient*in zu sein zum einen nicht zwingend bedeutet, krank zu sein, noch nicht einmal unbedingt, einer medizinischen Behandlung zu bedürfen, sondern, dass es sich auch um eine Rolle im Behandlungsgeschehen handelt. Diese wandelt sich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen und wird unter neoliberalen Bedingungen offenbar zunehmend von der Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen bestimmt.

Kleine Umfrage

Ich habe per Email einige Kolleg*innen gefragt, wie sich aus ihrer Sicht Patient*innen in der von ihnen überblickten, zurückliegenden Zeit verändert haben. Auf die Frage: »Wie haben sich aus Ihrer Sicht die von Ihnen betreuten Patient*innen ganz allgemein in dem von Ihnen überblickten Zeitraum hinsichtlich der Vorstellungen von einer medizinischen Behandlung verändert?« antwortete beispielsweise ein Krankenhausarzt in leitender Funktion mit 30 Jahren Berufserfahrung: »Abhängig vom Schweregrad und der Art der Erkrankung. Bei leichter Erkrankten z.B. in der Notaufnahme stärkere Serviceerwartung, während bei Patienten mit definierten strukturellen Schäden, z.B. Tumorerkrankungen die Patientenrolle eher überraschend stabil scheint…«

Eine weitere Kollegin, niedergelassen, berufstätig seit 20 Jahren, meinte: »Ich würde allgemein sagen, es unterscheiden sich die jüngeren von den älteren Patient*innen. Informierte Patient*innen möchten häufiger medizinische Beratung, seltener direktive Behandlung und wenn, dann begründet. Ärztliche Gespräche nehmen mehr Raum ein.«

Eine leitende Krankenhausärztin, die auf knapp 30 Jahre Berufsleben zurückblickt, schrieb. »Die Vorstellungen der Patient*innen zu ihrer medizinischen Behandlung sind dezidierter geworden, sie ›wissen‹ oft mehr, was sie wollen oder nicht wollen als vor 20-30 Jahren. Vielleicht hat das aber weniger mit der Ökonomisierung zu tun, als mit dem Internet und der an vielen Stellen schon beschriebenen Entwicklung, dass alle zu allem eine Meinung haben, anstatt Fachleuten zu vertrauen. Die Autoritätshörigkeit hat insgesamt in der Gesellschaft abgenommen.«

Auf die Frage, wie das Selbstverständnis der Patient*innen hinsichtlich ihrer Rolle eingeschätzt wird, ob sich Patient*innen also beispielsweise als Konsument*innen, gleichberechtigte Partner*innen, Anspruchsberechtigte, Hilfesuchende etc. erleben, antwortet die zuletzt genannte Kollegin: »In diesem Kontext gibt es auch mehr die Haltung der Anspruchsberechtigten: ›Ich verlange diese oder jene Behandlung‹. Das kann gepaart sein mit der Befürchtung, dass die Kasse nicht alle sinnvollen Behandlungen übernehme (›Gäbe es etwas Besseres, wenn ich es selbst bezahlen würde?‹ – vielleicht auch getriggert vom IGeLn in der Praxis??, wo Patient*innen suggeriert wird, man müsse sinnvolle Maßnahmen selbst bezahlen).«

Sind die Beobachtungen von zumindest in Teilen vermehrter Serviceorientierung, besserer Informiertheit und (damit einhergehender) erhöhter Anspruchshaltung und dies womöglich besonders bei Jüngeren, die ja durchgängig in einer zunehmend neoliberal organisierten Gesellschaft sozialisiert sind, als Veränderungen im Sinne des »homo oeconomicus« zu sehen, der sich auch in der Behandlungsbeziehung und in der im Medizinalsystem eingenommenen Rolle widerspiegelt?

Verfügbare Evidenz

Empirische Untersuchungen gibt es hierzu sehr wenige. Im Folgenden werde ich drei Studien vorstellen, wovon sich die erste nicht explizit mit der Frage nach Auswirkungen von Ökonomisierung und neoliberalem Umbau auf Patient*innen beschäftigt, sondern primär mit dem Phänomen des »Crowding«, also der zunehmenden Überfüllung von Notaufnahmen. Es handelt sich, wie auch bei den beiden anderen vorgestellten Untersuchungen, um eine qualitative Studie, für die mit 40 Patient*innen Interviews geführt wurden, die sich ohne als dringlich eingeschätzten Behandlungsbedarf in der Notaufnahme vorgestellt hatten.5 Ein wichtiger Grund, weshalb die Notaufnahme in diesen Situationen aufgesucht wurde, scheint die nicht adäquate ambulante Versorgung (subjektiv zu wenig Diagnostik beim Hausarzt oder zu lange Wartezeit auf fachärztliche Behandlung) zu sein, die dann durch Notaufnahmebesuche substituiert wird (sogenanntes sekundäres Aufsuchen von Notaufnahmen). Aber es werden auch Gründe für das primäre Aufsuchen von Notaufnahmen genannt, die in der Untersuchung mit drei Begriffen beschrieben wurden: »Doc to go«, »High-Tech statt Hausarzt« und »all-inclusive«. Hier könnten gesellschaftliche Veränderungen möglicherweise eine Rolle spielen.

Der Typus »Doc to go« bezeichnet demnach vornehmlich jüngere Patient*innen, die im Alltag kaum Zeit zu haben scheinen und die Behandlung in der Notaufnahme der in der hausärztlichen Praxis mit ihren beschränkten Öffnungszeiten vorzögen. Der zweite Typus, der z.B. chronisch Kranke Patient*innen charakterisiert, wähle »High-Tech statt Hausarzt« und vermute direkt in der Klinik einen höheren technischen Standard und eine der Schwere des Leidens entsprechende professionellere Behandlung. Der dritte Typus zeige eine »all-inclusive«-Haltung, die darauf spekuliere, medizinische Untersuchungsergebnisse, womöglich aus mehreren Fachgebieten, in kurzer Zeit zu erhalten. Vorstellbar ist, dass sich in solchen Haltungen eine Intoleranz gegenüber dem Aufschieben von Bedürfnissen zeigt, eine hohe Abhängigkeit von Technikversprechen oder die Einstellung, alles sofort bekommen zu wollen, wie es dem neoliberalen Subjekt zugeschrieben wird.

Eine andere Studie beschäftigt sich mit dem Begriff des Selbstmanagement (»self-management«) und ist auch mit »The good self-manager« überschrieben.6 Selbstmanagement wurde seit den 1980er Jahren als eine Form des »patient empowerment« v.a. für Patient*innen mit chronischen Erkrankungen propagiert und in Deutschland beispielsweise in den Disease-Management-Programmen aufgegriffen. Das Konzept bezeichnet Kompetenzen der Problemlösung, der Entscheidungsfähigkeit und der Ressourcennutzung in Bezug auf die Bewältigung von Erkrankung und Gesundheitsversorgung. Als »reflexive Selbstüberwachung« der eigenen Gesundheit und mit der Betonung von Selbststeuerung und individueller Verantwortungsübernahme weist es aber auch Bezüge zu neoliberalen Entwürfen auf.

Explizit verbunden ist das Konzept des Selbstmanagements auch mit dem der Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«), einem Konzept von Albert Bandura.7 Wichtig hierbei ist, dass bei »self-management«, wie es im geschilderten Zusammenhang meist verwendet wird, letztlich nur noch das Individuum gedacht wird und nicht mehr das Individuum im Zusammenspiel mit seiner sozialen Umwelt. In der neoliberalen Denkart meint Selbstwirksamkeit, die Fähigkeit eines Individuums schwierige Situationen aus eigener Kraft zu bewältigen, indem es sich u.a. auch soziale Unterstützung organisiert. Die Frage, wie Individuen durch ein System sozialer Unterstützung Selbstwirksamkeit, die sie zur Bewältigung von Herausforderungen befähigt, überhaupt erst entwickeln, wird nicht mehr beachtet, was in der ursprünglichen Konzeption von »self-efficacy« bei Bandura durchaus noch vorkommt.

Bei dieser in Großbritannien durchgeführten Studie wurden mit 174 Personen (97 Patient*innen, 35 pflegende Anghörige, 20 »healthcare professionals«, 22 »healthcare commissioners«) 17 Fokusgruppen und 61 Interviews durchgeführt. Die Untersuchung kam zum einen zu dem Ergebnis, dass die Sichtweisen darauf, was eigentlich ein guter »self-manager« ist, in allen vier genannten Gruppen recht weitgehend übereinstimmten. Zum anderen ließen sich drei wesentliche Merkmale (»traits«) herausdestillieren. Das erste Merkmal wird als »to be remoralised« bezeichnet und ist gekennzeichnet durch die Anforderung der Übernahme von Eigenverantwortung für ihre Gesundheit und das Behandlungsgeschehen seitens der Patient*innen, weg von der passiven Entgegennahme der Behandlung, hin zur Position der gestärkten (»empowered«) Partner*innen in der Behandlung. Es ergeben sich daraus allerdings quasi-moralische Verpflichtungen, indem Patient*innen aufgefordert sind, ihr Bestes zu geben, um ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu managen und hierdurch beispielsweise die Inanspruchnahme von Krankenkassenleistungen zu minimieren.

Der zweite Aspekt, der gute Selbst-Manager*innen auszeichnet, ist der der Kompetenz oder Sachkundigkeit (»to be knowledgable«). Hierbei geht es um die Erwartung an Patient*innen, Wissen, Fähigkeiten und Selbstvertrauen zu entwickeln, über Informationen zu verfügen bzw. zu lernen, sich diese anzueignen und dadurch Risiken für ihre Gesundheit abzuwenden (»knowledge is key«).

Drittens wird Aktivität bezüglich der eigenen Gesundheitsversorgung erwartet (»to be active«). Gute Selbst-Manager*innen sollen in der Lage sein, die gewonnenen Informationen im Sinne des »informed decision making« zu nutzen. Während es hierbei oftmals für Ältere darum geht, Entscheidungen zu treffen im Sinne des Befolgens von Vorschlägen (»decisions to comply«), steht für Jüngere meist die Frage im Vordergrund, welche Vorschläge seitens der Gesundheitsprofessionellen nicht befolgt werden sollten (»decisions not to comply«). Für sich genommen sind dies keine negativen Entwicklungen. Es geht in dieser Lesart aber tatsächlich auch darum, Patient*innen fit zu machen, eigene Entscheidungen zu treffen und hierdurch eine Entlastung der Aufgaben des Gesundheitssystems und damit der gesellschaftlichen Verantwortung zu erreichen.

»I’m running my depression«

Für eine dritte, in Australien durch­geführte Studie mit dem Titel »I’m running my depression« wurden 58 depressiv erkrankte Proband*innen rekrutiert und es wurden Interviews mit ihnen durchgeführt.8 Ausgewertet wurde, wie die Betroffenen ihre medizinische Behandlung und die Begegnung mit dem australischen Gesundheitssystem erlebten und welche Auswirkungen dies auf sie hatte. In der Studie werden vier Schritte skizziert, die mit den ersten Kontakten mit dem Gesundheitssystem starten. Hier werden oft unbefriedigende und frustrierende Erfahrungen gemacht, da die Strukturen als übermäßig formalisiert, sehr voraussetzungsreich (u.a. ist zu Zugang zu bezahlbarer/kostenloser psychiatrischer Versorgung in Australien eingeschränkt) und damit als nicht leicht zu durchschauen und wenig zugänglich erlebt werden. Der zweite Schritt beschreibt das »becoming a neoliberal patient« und schildert, wie sich die Verantwortung im Laufe der Behandlung im Sinne neoliberaler Steuerungsziele zunehmend auf das (kranke) Individuum verlagert. Neben den Schwierigkeiten, die Kosten der Behandlungen zu tragen, werden Patient*innen mit der Erwartung konfrontiert, sich den Weg durch das Gesundheitssystem selbst zu suchen, und sind im Verlauf zunehmend wegen der geringen Flexibilität dieses Systems frustriert.

In der Folge kommt es zum einen zu zunehmend schnellen Medikamentenverschreibungen als vermeintlich einfachstem Weg für Behandler*innen wie auch Patient*innen. Im weiteren Verlauf folgten dann verstärkt Selbstmedikation, auch in Form von eigenständigen Dosisänderungen, Einnahme von weiteren Medikamenten und Alkohol und die Hinzunahme von komplementären bzw. alternativen Präparaten. Diese mündeten dann in die zunehmende Anwendung von »Lebensstil-Praktiken« wie die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, das ausgeprägte Achten auf gesunde Ernährung und sportliche Bewegung, Meditation oder das Führen von Symptomtagebüchern. Diese Verhaltensweisen, die für sich genommen nicht schädlich oder ungesund sind und selbstverständlich durchaus erfolgreich in der Behandlung von Erkrankungen eingesetzt werden können, wandeln sich jedoch mehr und mehr zu »Technologien des Selbst« und erhalten damit einen äußerst ambivalenten Charakter. Interessant ist, dass die Einnahme von Antidepressiva gleichzeitig von den Patient*innen durchaus kritisch gesehen wurde. Allerdings nicht unbedingt im Sinne einer möglicherweise ungünstigen »schnellen Lösung«, sondern dahingehend, dass es der »faule Weg« sei und zu wenig Eigeninitiative entwickelt wurde.

Zusammengefasst kommt diese Studie zu dem Ergebnis, dass in Australien die verstärkte Implementierung von Selbstmanagementpraktiken zu einer geringeren Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, zu mehr Selbstmedikation bei den Patient*innen sowie zu einer vermehrten Anstrengungen der Patient*innen hinsichtlich eines Selbstmonitoring geführt haben. Grundsätzlich durchaus erstrebenswerte Konzepte wie »patient empowerment« und »self-efficacy« erhalten durch die Entbindung aus dem sozialen Kontext offenbar einen neoliberalen Spin und können in die zunehmende Individualisierung von Gesundheit eingebunden werden.

Patient*innen-Selbstverständnis und neoliberales Selbst

Neben den bereits beschriebenen »Technologien des Selbst« werden die zunehmende Erosion und Fragmentierung etablierter gesellschaftlicher Strukturen in der neoliberalen Gesellschaft als ursächlich für Veränderungen im Selbstverständnis von Patient*innen gesehen9. Erwerbstätigkeit wird umstrukturiert, der Arbeitsplatz auf Lebenszeit ist eine Seltenheit geworden. Religion und Kirche spielen wie auch andere Institutionen eine immer geringere Rolle. Etablierte Formen des Familienzusammenhalts verlieren an Bedeutung. Sämtliche dieser Organisationsformen gesellschaftlichen Zusammenlebens können ihrerseits zu verminderten Gesundheitschancen und Erkrankung beitragen, geben in ihrer funktionsfähigen Form jedoch Halt und Orientierung. Ihr zunehmendes Aufbrechen bei gleichzeitigem Fehlen tragfähiger und vor allem gesellschaftlich akzeptierter alternativer Strukturen wird daher als wichtiger Faktor für Veränderungen in der psychischen Entwicklung und den daraus entstehenden psychischen Dispositionen bis hin zu sogenannten frühen bzw. ich-strukturellen psychischen Störungen angesehen.

Die neoliberale Veränderung psychischer Dispositionen führt also womöglich, wenn nicht zu einer Entgrenzung der Ansprüche an die Medizin, so möglicherweise doch zu deren Erhöhung. Ideen der allumfänglichen Machbarkeit, der Lösbarkeit auch des letzten (vermeintlichen) gesundheitlichen Problems scheinen zuzunehmen. Diese gestiegenen Ansprüche werden dabei sicherlich auch durch das Medizinalsystem selbst transportiert, weil dessen Selbstdarstellung die Vorstellung von einer Medizin befördert, die alles kann und die, wenn noch nicht jetzt dann demnächst, alle gesundheitlichen Probleme lösen kann. Es handelt sich hierbei also um ein weiteres neoliberales Technikversprechen, dass von den Menschen internalisiert, gelebt und in eigene Ansprüche übersetzt wird.
Hinzu kommt eine in der Gesellschaft verwurzelte Haltung zur und in der Medizin, die nicht nur die Behandlung von Erkrankungen erwartet, sondern eine vollständige Wiederher­stellung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, die es erlaubt, das Leben voll auszukosten, viel leisten zu können, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt werden zu können. Leiden und Leid, die sicherlich untrennbar zum Leben gehören, können immer weniger toleriert werden. In dieser Haltung scheint dann wieder das neoliberale Leistungsnarrativ auf, in dem das Individuum unter dem ­Imperativ steht, ein aktives und erfolgreiches Leben führen zu müssen. Wobei auch die Frage, was ein erfolgreiches Leben denn sei, in einer ganz bestimmten, im aktuellen Zeitgeist sozial akzeptierten Weise aufgelöst wird. So wird Gesundheit zunehmend als Voraussetzung gesehen für ein erfolgreiches »Lebensprodukt«. Patient*innen (als im Neoliberalismus lebende Menschen) wünschen daher möglicherweise zunehmend eine Garantie dafür, dass die volle Genuss-, Reise- und Erlebnisfähigkeit erhalten bleibt.10

Das Zitat »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts« (Arthur Schopenhauer), das auch gerne mal von (privaten) Krankenversicherern verwendet wird, erhält hier eine neue, vermarktende ­Bedeutung, in der Gesundheit das Produkt und die Voraussetzung für ein lebbares Leben wird. Dieses Leben muss daher ohne Mangel sein. Menschen leiden heute nicht nur an einer Erkrankung, sondern mindestens ebenso sehr an der Diskrepanz zu einem mangellosen Leben.10 Aus diesen von neoliberalen Anrufungen und Erfordernissen in den letzten Jahrzehnten beeinflussten Haltungen ergeben sich neue Wünsche, Verhaltensweisen und Forderungen an die Medizin. Es bildet sich eine Änderung in der Einstellung zu Erkrankungen heraus, weg vom schicksalhaften Erleben hin zur »machbaren« Gesundheit, die, wenn schon nicht von neoliberalen Einschreibungen in Körper und Psyche verursacht, so doch wenigstens mit neoliberalen Werten bestens vereinbar ist und sich in der Patient*innenrolle durchaus bemerkbar machen dürfte.

 

Tobias Hofmann ist Mitglied im erweiterten Vorstand des vdää und aktiv im Arbeitskreis stationäre Versorgung. Er ist Oberarzt der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Charité in Berlin. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages auf der Jahreshauptversammlung 2020 des vdää.

Fußnoten

  1. Butterwegge CL, B.; Ptak, R.: Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2008
  2. Foucault M.: Die Geburt der Biopolitik – Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt 2006
  3. Brockhaus Enzyklopädie, 19. ed., Mannheim 1991
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Patient – abgerufen am 10.12.2020
  5. Schmiedhofer MH, Searle J, Slagman A, Mockel M.: Inanspruchnahme zentraler Notaufnahmen: Qualitative Erhebung der Motivation von Patientinnen und Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf, Gesundheitswesen 2017; 79: 835-44
  6. Ellis J, Boger E, Latter S, et al.: Conceptualisation of the ›good‹ self-manager: A qualitative investigation of stakeholder views on the self-management of long-term health conditions, Soc Sci Med 2017; 176: 25-33
  7. Bandura A.: Self-efficacy in changing societies, Cambridge / New York 1995
  8. Brijnath B, Antoniades J.: »I’m running my depression« Self-management of depression in neoliberal Australia, Soc Sci Med 2016; 152: 1-8
  9. Schmeling-Kludas C.: Ökonomisierung und Psychotherapie, Psychotherapeut 2008; 53: 349-59
  10. Maio G.: Medizin im Umbruch. Ethisch-anthropologische Grundfragen zu den Paradigmen der modernen Medizin, Zeitschrift für Medizinische Ethik 2007; 53: 26

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Nr. 4, Dezember 2020)



Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf