Soziale Determinanten in Zeiten der Krise
Bericht über die diesjährige JHV – von Luca Baetz und Nadja Rakowitz
Die diesjährige Jahreshauptversammlung bzw. das Gesundheitspolitische Forum von vdää und Solidarischem Gesundheitswesen hatte das Thema: »Soziale Determinanten von Gesundheit in Zeiten der Krise«. Nachdem wir letztes Jahr so freundlich und professionell von der Basisgruppe Medizin in Göttingen empfangen und versorgt wurden, wollte dieses Jahr die Berliner vdää-Gruppe uns bei der Organisation der JHV in Berlin behilflich sein. Ein cooler Ort für die Tagung Anfang November war auch gefunden, aber im Spätsommer musste der Vorstand entscheiden, die Veranstaltung nicht als Präsenzveranstaltung zu machen, sondern ins Internet zu verlegen. Die Entscheidung war nicht leicht gefallen, denn alle hatten sich sehr gefreut auf ein echtes Treffen in Berlin, auf den echten Schnack beim Kaffee auf dem Flur, auf neue Gesichter und Geschichten von Leuten, die man noch nicht kennt, mit denen man aber ein gemeinsames Anliegen teilt, auf gemeinsames Mittag- oder Abendessen – und auf die Party am Samstagabend.
Was lernen wir aus der Covid 19-Pandemie
Die Entwicklung der Pandemie ließ es leider nicht zu und die Zahlen Anfang November gaben uns Recht. Die JHV fand komplett im Netz statt. Die Berliner vdää-Gruppe hat für Freitagabend das Thema »Was lernen wir aus der Covid 19-Pandemie« gesetzt und mit fünf selbstgemachten Videos vorbereitet, die man sich in der Woche vor der JHV auf youtube anschauen konnte. Die Themen der Videos waren: Bildung, Prekäre Beschäftigung, Schwangerschaftsabbrüche, Häusliche Gewalt und medizinische Versorgung in Haftanstalten.
Bei der Diskussion am Freitagabend, an der ca. 65 Menschen teilnahmen, zeigte sich, welchen Nerv diese Videos getroffen hatten. Während die Kommunikation sonst in Onlinekonferenzen zu Beginn oft etwas holprig ist, weil niemand den Raum einnehmen möchte und es als Moderation gilt, die Stille zu durchbrechen, war es hier anders. Es gab einen regen Austausch darüber, welche eigene Erfahrungen die einzelnen TN in der Pandemie auch in Bezug auf die Themen der Videos bisher gemacht haben, wie sich ihre Patient*innen verändert haben, welche Schicksale es zu begleiten galt und gilt, aber auch, wie sich das Arbeits- und Lernumfeld Gesundheitssystem für alle dort Tätigen verändert hat. Für die langjährigen vdää-Mitglieder war es besonders schön zu sehen, dass sich neue, junge Menschen zu Wort meldeten und es so einen bunten Mix aus altbekannten Gesichtern als auch neuen Vorstellungen gab. Ein online Raum kann zwar die Vor-Ort-Interaktion nicht adäquat ersetzen und doch hat es die Berline Ortsgruppe durch ihre Vorarbeit und Moderation geschafft, dass es außerordentlich nah am echten Leben war: Die einzelnen Personen bezogen sich in ihren Redebeiträgen aufeinander, es wurden Witze gemacht und der Austausch hatte eine lockere Atmosphäre trotz des ernsten Themas.
Und auch wenn wir alle hoffen, dass es nächstes Jahr die JHV wieder in Präsenz gibt, muss auch festgehalten werden, dass das Onlineformat einigen Menschen die Möglichkeit bot, teilzunehmen, denen es sonst nicht möglich gewesen wäre und ohne die der Freitagabend und ganz sicher auch der lockere, virtuelle Kneipenabend am Samstag nicht derselbe gewesen wären.
Gesundheitspolitisches Forum
Das Gesundheitspolitische Forum am Samstag bestand aus zwei Panels am Vormittag und am Nachmittag einer Workshop-Phase mit vier parallelen Workshops und danach einer Plenumsveranstaltung zur »Aktuellen Gesundheitspolitik«. Den Auftakt machten im ersten Panel Martin Kronauer, Professor für Gesellschaftswissenschaften aus Berlin, der über Armut in Deutschland sprach, und Tobias Hofmann, Arzt, Privatdozent und Mitglied im vdää-Vorstand aus Berlin zum Thema: Wie verändert der Neoliberalismus unsere Patient*innen? Beide Vorträge sind hier abgedruckt. An der Veranstaltung nahmen, soweit wir das technisch feststellen konnten, 100 Rechner mit mindestens so vielen Menschen teil.
Das zweite Panel bestritten Leonie Sundmacher, Professorin für Health Services Management an der Uni München mit dem Thema: »Planung bedarfsgerechter ambulanter Strukturen unter Berücksichtigung sozialer Determinanten von Gesundheit«, Lukas Waidhas, der als Community Health Nurse für die Poliklinik Hamburg arbeitet mit dem Thema: »Medizinische Versorgung unter Berücksichtigung sozialer Determinanten der Gesundheit« und Ben Wachtler, Arzt, Public Health Wissenschaftler und Mitglied im vdää-Vorstand zum Thema: »Soziale Determinanten in der angelsächsischen Public Health-Debatte«. Bens Vortrag ist ebenfalls in diesem Heft veröffentlicht.
Auch wenn Diskussionen in Videokonferenzen immer etwas zäh sind, wurde doch lebhaft diskutiert und in der Evaluation der Veranstaltung wurde sogar von einigen hervorgehoben, dass die Diskussion so disziplinierter ablief und dass bestimmte, bei manchen unbeliebte Phänomene wie das des Vielredens so nicht auftraten. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen bevorzugt aber – auch wenn alles technisch sehr gut vorbereitet war und entsprechend gut geklappt hat – die Diskussion vor Ort bei Präsenzveranstaltungen.
Bei der Wahl der Technik können wir allerdings auch noch manches besser machen: So wurde z.B. in der Evaluation kritisiert, dass wir bei den Panels mit der »Webinar«-Funktion von Zoom gearbeitet haben, bei der die Teilnehmer*innen nur die Referent*innen und Moderator*innen sehen, nicht aber die anderen Teilnehmer*innen. Da es sich bei der JHV aber auch um ein Treffen mit langjährigen Genoss*innen, die man manchmal nur einmal im Jahr, nämlich bei dieser Gelegenheit, sieht, hätten wir auf diese für wissenschaftliche Veranstaltungen bisweilen sinnvolle Funktion eher verzichten sollen und ein großes virtuelles Meeting machen sollen. Besser hätten wir die Funktion der so genannten »Breakout Rooms« nutzen sollen, bei der man eine große Gruppe für einen bestimmte Zeit virtuell in Kleingruppen zerlegt, in denen dann wenige Menschen miteinander reden können. Dieses Format kommt einer live-Gesprächssituation am nächsten.
Für den Nachmittag hatten wir fünf parallele Workshops geplant:
- »Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und medizinische Versorgung« mit Prof. Dr. Nico Dragano vom Institut für Medizinische Soziologie der Uni Düsseldorf
- Wohnungslosigkeit und medizinische Versorgung mit Navina Sarma, Public Health Wissenschaftlerin aus Berlin
- Diskussion der vdää-Arbeitskreise zur Ambulanten und Stationären Versorgung: bedarfsgerecht und demokratisch – Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem
- Medizinische Versorgung im Knast – der vdää-AK stellt sein Positionspapier zu Diskussion
- Der ebenfalls angekündigte und sehr gut nachgefragte Workshop »To hell with poverty – Überlegungen zur Psychiatrisierung von Armut« mit Dipl. Psych. Christian Küpper vom Weglaufhaus »villa stöckle« in Berlin fiel wegen Krankheit leider aus. Wir planen aber, ihn im neuen Jahr als Abendveranstaltung nachzuholen.
Trotz des Ausfalls eines der Workshops waren die anderen mit insgesamt noch fast 90 Teilnehmer*innen gut besucht. Zum Thema Wohnungslosigkeit gibt es Interessierte, die im Anschluss an den Workshop überlegen, einen Arbeitszusammenhang zu gründen (siehe auch den Text von Jakob Zschiesche in diesem Heft). Der AK Knast konnte sein Positionspapier produktiv weiterdiskutieren und es haben sich auch dort Interessierte gefunden, die zumindest an Teilbereichen mitarbeiten werden. Ebenso bei den AK Ambulante und Stationäre Versorgung.
Für den nun schon traditionellen Input am Ende der JHV zur aktuellen Gesundheitspolitik (auch hier immer noch ca. 65 TN) konnten wir zur Lage der Pflege Agnes Kolbeck, Krankenschwester, Vizepräsidentin der Vereinigung der Pflegenden in Bayern und Aktive in ver.di gewinnen. Nadja Rakowitz berichtete zum Stand der Auseinandersetzung um die DRG und die Krankenhausfinanzierung, Wulf Dietrich über die Digitalisierung des Gesundheitswesens und Andreas Wulf über Globale Gesundheit in Zeiten von Corona.
Die Mitgliederversammlung am Sonntag war mit fast 60 Mitgliedern sehr gut besucht. Ein Protokoll davon findet Ihr in der Vereins-Beilage zu diesem Heft.
In vielen Texten über dieses Jahr und auch unserem ist häufig zu lesen, dass »alles anders als sonst« ist. Und obwohl sich viele Dinge verändert haben und wir uns anpassen mussten, lässt sich durch die Erlebnisse auf der JHV auch sagen: Wir sind als Verein kämpferisch wie eh und je; die Themen, an denen wir vor Corona gearbeitet haben, sind auch jetzt politisch aktuell und wir führen diese Arbeit hochmotiviert fort; wir platzieren weiterhin unsere Kritik, unsere Forderungen und Alternativen öffentlich und sind bereit, uns neue politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen zu stellen. Es ist eben nicht alles anders als sonst, denn es gilt für uns als Verein immer noch das Motto dieser Zeitschrift: Gesundheit braucht Politik.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Nr. 4, Dezember 2020)