Mit dem Wiederaufleben der Black Lives Matter-Bewegung in der ganzen Welt hat der Kampf gegen Rassismus endlich auch in Deutschland einen prominenteren Platz auf der politischen Tagesordnung bekommen. Wir widmen dieses Heft der Kritik des Rassismus im Gesundheitswesen und beginnen es mit einem Text der Gruppe Kritische Medizin München, der die Funktionen und Wirkungen rassischer Kategorisierung erfassen will; dazu bedarf es einer gesellschaftskritischen Perspektive und eines Verständnisses für den historischen Kontext und die Rolle der Wissenschaft. In Deutschland werden bislang keine geeigneten Daten zur Messung von rassistischer Diskriminierung erhoben, im medizinischen Alltag hingegen werden Personen vom Gesundheitspersonal willkürlich fremdkategorisiert. Als Studierende fordern sie Konsequenzen und eine aktive Beteiligung der Münchner Universitätskliniken an der Erforschung der Auswirkungen von strukturellem Rassismus auf die Gesundheit. Regina Brunnett diskutiert dieses Problem mit einem Blick auf die internationale wissenschaftliche Public Health Forschung und Literatur; es bleibe zu klären, in welchem Verhältnis Rassismus und andere Achsen der Ungleichheit zueinander stehen. Kritischer Gesundheitswissenschaft käme damit die Aufgabe zu, die kritische Perspektive in doppelter Weise auf Gesundheit / gesundheitliche Lage und auf soziale Herrschaftsverhältnisse als gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen.
Cevher Sat und Urs Mörke diskutieren mit dem Begriff der epistemischen Gewalt den Zusammenhang von (wissenschaftlichem) Wissen und globalen Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen und damit auch die kolonialen Verstrickungen wissenschaftlicher Disziplinen. Rassismus, so ihr Schluss, ist ebenso wie die Wissensproduktion konstitutiv für den Kolonialismus und für dessen Kontinuitäten. Ria Prilutski vom Medinetz Jena beschreibt Rassismus theoretisch als einen Prozess und eine Ideologie, der „Rassen“ als Kategorie zur Einteilung von Menschen herstellt. Praktisch beschreibt sie ihn als ein soziales Verhältnis, das die Organisation der Gesellschaft in ihrer spezifischen historischen Form beeinflusst und konkretisiert dies an ihren Erfahrungen im Medinetz. Karoline Wagner berichtet über Antisemitismus im Gesundheitswesen, der im letzten Jahr und mit COVID-19-Pandemie noch mal dramatisch zugenommen hat. Als Konsequenz fordert sie, dass zukünftigen Ärzt*innen schon im Studium klargemacht werden muss, dass Antisemitismus in der Medizin kein Thema der Vergangenheit ist.
Milli Schröder und Philipp Dickel von der Poliklinik Veddel in Hamburg zeigen praktische Konsequenzen in der ambulanten Versorgung auf. Jérémy Geeraert zeigt an Beispielen des Medibüros Berlin, wie sich struktureller Rassismus im Gesundheitssystem zeigt, wie er sich auf Betroffene auswirkt und welche zum Teil menschenrechtswidrigen Regelungen des Aufenthaltsrechts, der Migrations- und Asylpolitik dafür verantwortlich sind. Bernhard Winter berichtet, wie schwer sich die Hessische Landesärztekammer damit getan hat, den ersten Rassismusbeauftragten einer Ärztekammer in Deutschland zu benennen. Der Text von Amma Yeboah beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Rassismus auf die psychische Gesundheit und diskutiert dabei auch die Frage nach dem Weißsein der Behandler*innen und deren Umgang damit. Direkt im Anschluss stellt Anne-Sophie Windel Fragen an sich und den Text von Amma Yeboah aus der explizit subjektiven Perspektive einer Weißen Ärztin.
„Mund Aufmachen ist angesagt“ haben wir das Interview mit zwei Mitgliedern der neu gegründeten Hochschulgruppe BIPoC an der Uni Leipzig genannt, womit eine Quintessenz benannt ist: Es gibt viel zu wenige Weiße Studierende, die das Wort ergreifen, wenn es in ihrem Umfeld (oder auch weiter weg) rassistische Vorfälle oder Thesen gibt. Weiterhin kommen sie zu dem Schluss, dass rassistische Strukturen so lange aufrechterhalten werden, solange man nichts aktiv dagegen unternimmt. Kurzum: Wir müssen Rassismus aktiv bekämpfen. Daran will sich der vdää auch mit diesem Heft beteiligen. Daran will sich der vdää auch mit diesem Heft beteiligen. Dazu beitragen will auch die von den Kritischen Mediziner*innen Berlin herausgegebene Broschüre „Solidarisches Krankenhaus für die Kitteltasche“, aus der wir das Kapitel zu Rassismus dokumentieren.
Damit kommen wir zum letzten Text in dieser Ausgabe, denn wenn man über Rassismus diskutiert, darf die Kritik der AfD nicht fehlen. Thomas Kunkel hat sich einige Protokolle von Bundestagsdebatten angeschaut und herausgearbeitet, was man daraus erfährt über gesundheitspolitische Vorstellungen bei der AfD: wenig Konsistentes, aber die AfD lässt – wie zu erwarten - kaum eine Gelegenheit aus, Rassismus als Leitmotiv, Begründung oder Rechtfertigung ihrer Gesetzentwürfe in das Zentrum der politischen Kommunikation zu stellen.
Das Heft ist nicht zufällig etwas dicker geraten, als sonst. Es sind auch dicke Bretter, die hier gebohrt werden und sicher bleibt hier noch ganz viel unausgesprochen und viele Probleme harren noch einer Diskussion und Lösungsvorschlägen. Die aufmerksamen Leser*innen werden beim Lesen aller Texte feststellen, dass der methodische Zugang zum Begriff Rassismus unterschiedlich, zum Teil gegensätzlich ist. Es bleibt den Diskussionen nach der Lektüre vorbehalten, die politischen Implikationen dieser verschiedenen Perspektiven kritisch zu diskutieren.
Wir wünschen eine entsprechend anregende Lektüre.