Medizinische Ausbildung braucht Politik
Es ist ein alltäglicher Moment dieses Semesters, fünf Student*innen vor dem Bildschirm, Webcam an, Mikrophone aus – so lang sie nicht selbst sprechen. Doch dies ist keine Online-Vorlesung und auch kein Seminar. Die fünf Studis sind nicht einmal alle an derselben Uni. Moritz und Rafaela studieren in Halle, Elena in Freiburg, Cevher und Luca in Göttingen. Und heute wird es nicht darum gehen, was im Studium passiert, sondern, was so alles nicht passiert. Die fünf sind Teil von kritischen Studierendengruppen, Sintoma in Halle, die Basisgruppe Medizin in Göttingen und Kritische Mediziner*innen in Freiburg. Wir hören mal rein…
Moritz: Naja, wir haben uns nicht mit großem Plan gegründet. Es war eigentlich eher so eine Freundeskreis-Idee. Wir waren Leute, denen es ähnlich ging mit dem Medizinstudium und dann haben wir 2018 einfach in einer WG-Küche gestartet.
Rafaela: [nickt] Schon krass, wenn man bedenkt, dass wir mittlerweile mehr als 30 Aktive sind.
Luca: Wahnsinn, so einen personellen Rückhalt haben wir leider nicht. Wir sind so 20 Aktive.
Cevher: Im Plenum meist eher weniger – wie es eben allen so passt. Nicht jede*r hat die Ressourcen, um neben Studium und gegebenenfalls Arbeit wöchentlich Zeit und Energie für ein zusätzliches Engagement aufzubringen. Das wissen wir und nehmen entsprechend Rücksicht darauf.
Elena: Bei uns schwankt die Anzahl von Aktiven von Semester zu Semester, je nach individuellen Kapazitäten. Wir hatten uns vor vier Jahren nach dem Vorbild der Kritischen Mediziner*innen aus Berlin gegründet, mit denen wir uns von Beginn auch vernetzt hatten.
Moritz: Wir haben auch ganz schön was aufgewirbelt mit unserer Gründung. Es ging scheinbar vielen Leuten so wie uns, dass sie sich in den bisherigen universitären Strukturen einfach nicht repräsentiert gesehen haben.
Cevher: Das ist ein ewiges Thema. Hier in Göttingen gibt es die Basisgruppe Medizin schon seit den 70ern. Gegründet hat sie sich aus ähnlichen Gründen: um Kritik an den hierarchisierten Strukturen zu äußern, aber auch um politischen Einfluss auf das Leben und Lernen in der Uni zu nehmen.
Luca: [verdreht die Augen] Und da sind wir heute immer noch dran. Nur, dass wir uns jetzt auch mit den Gesamtbedingungen im Gesundheitssystem befassen.
Elena: So viele Studis kamen schon zu uns und hatten sich gefragt, warum sie beispielsweise noch nie etwas von der DRG-Kritik gehört hatten, obwohl es im fünften Semester eine Vorlesung zu Gesundheitsökonomie gibt. Oftmals war die Antwort, dass die Vorlesung nicht sehr ansprechend aufgebaut war oder andere größere Fächer einfach den Vorrang hatten und es keine Zeit gab, sich damit zu beschäftigen.
Rafaela: Es ist schon krass, dass dieses existierende System kaum hinterfragt wird. Ich bin jetzt fast am Ende meiens Studiums und habe für meine Dissertation weder gelernt, zu hinterfragen, wer Wissen produziert, noch, wie ich eigentlich so richtig wissenschaftlich arbeite.
Cevher: Es gibt ja auch keinen angemessenen Raum dafür an der Uni. Den müssen wir uns, zumindest hier in Göttingen, selbst schaffen, um endlich über die Verknüpfung von Gesellschaft und Medizin zu sprechen. Doch eine Parallelstruktur sollte nicht unser Endziel sein – die Themen müssen in der Lehre verankert werden!
[Alle nicken]
Elena: Wir hatten innerhalb unserer Gruppe letztes Semester das Überthema »Soziale Determinanten von Gesundheit« behandelt und uns allen ist aufgefallen, dass zum Beispiel der sozio-ökonomische Status und die Verhältnisse, in denen Menschen leben, als Ursache mancher Krankheiten oder als Faktor, der Situationen verschlechtern kann, so gut wie nie Thema im Studium ist.
Cevher: Das Motto der Basisgruppe »Medizin ist eine soziale Wissenschaft« ist für mich da essentiell. Wir brauchen einen institutionalisierten Raum, der eine Sensibilisierung für die Vielfalt an Menschen und Lebensrealitäten, denen wir in unserer Arbeit begegnen, ermöglicht. Es muss doch noch Platz für soziale Kompetenzen neben dem ganzen Faktenwissen geben!
Rafaela: Mich nervt dieser scheinbare Widerspruch sowieso total. Eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Position und das aktive Zurücknehmen voreiliger, auf Stereotypen basierender Werturteile ist doch absolute Fachkompetenz und steht in keinerlei Widerspruch zu Faktenwissen. Studien zeigen doch, wie sehr Menschen unter all diesen ganzen rassistischen, heteronormativen und ausgrenzenden Selbstverständlichkeiten leiden. Rassismus und Sexismus in der Medizin sind real.
[Alle schweigen betroffen]
Moritz: Ich halte unsere Arbeit im Studium daher für einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Schon während der medizinischen Ausbildung sollten wir sensibilisiert und darin geschult werden, Patient*innen – auch wenn sie nicht einer angenommenen Norm entsprechen – bedürfnisorientiert zu behandeln.
Cevher: Was macht Ihr denn so, um Eure Kommiliton*innen zu erreichen? Normalerweise organisieren wir zum Beispiel Veranstaltungen und Workshops zu den Themen. Wir hatten letztes Semester eine Diskussion zur Bürger*innenversicherung.
Elena: Wir versuchen auch, mit Veranstaltungen oder Aktionen wie Kundgebungen oder Demonstrationen Studis und andere interessierte Leute zu erreichen. Oftmals haben wir gemerkt, dass es sinnvoll ist, medial präsent zu sein und dass wir politischen Druck ausüben können, wenn mit der lokalen Presse Interviews geführt werden. So haben wir dafür gekämpft, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch endlich im Studium integriert wird. Und es hat geklappt!
Rafaela: Respekt dafür! Wir fanden von Anfang an wichtig, auch außerhalb des Mikrokosmos Uni aktiv zu sein, und wir haben uns z.B. am Aktionstag Pflege im Fokus beteiligt oder Stolpersteine geputzt und uns mit der Vergangenheit der Medizin auseinandergesetzt. So sind wir schließlich auch zur Gedenkstätte Buchenwald gefahren.
Moritz: Wir hatten mehr Anmeldungen als Plätze für den Besuch. Wir werden das auf jeden Fall nochmal machen.
Luca: Was wir aus Göttingen auf jeden Fall noch weiterempfehlen können: Letztes Semester haben wir ein Regal in der medizinischen Bibliothek organisiert. Mit Lektüre zu Global Health und Social Sciences, um den Zugang zu gesundheitspolitischem Wissen zu erleichtern. Dazu haben wir einen Antrag für Unigelder gestellt und bewilligt bekommen!
Cevher: Und jetzt haben wir uns gefragt: ›Wie kriegen wir in diesen Zeiten unsere Themen unter die Leute?‹ Seit einem Monat nutzen wir daher einen Telegram-Kanal, wo wir alle zwei Tage Inhalte posten, die wir spannend finden. Alles rund um das Thema Gesundheitspolitik. Wir hoffen, dass wir so vielleicht ein paar mehr Leute erreichen und zeigen, was so außerhalb unserer Lehrbücher geht.
Rafaela: Bildung und Weiterbildung sind natürlich unerlässlich! Auf die Straße zu gehen, für unsere Interessen zu demonstrieren, ist jetzt mindestens genauso wichtig. Darum haben wir gemeinsam mit anderen politischen Akteur*innen unter dem Motto Vergesellschaften statt Klatschen eine ganze Aktionswoche im Mai organisiert, da war alles dabei: Ökonomisierungskritik, soziale Verhältnisse, Feminismus, Antirassismus und diese in Bezug auf Gesundheit.
Luca: Man muss sich immer wieder vor Augen halten, wie wichtig die ganzen Bündnisse sind, die wir so schaffen. Wir geben daher immer wieder DemoSani-Workshops für verschiedene politische Gruppen in Göttingen und haben so auch nochmal mehr gemerkt: Gesundheit braucht eben Politik.
Cevher: Das fängt schon an der Uni selbst an. Wir sind hier mit anderen Basisgruppen in einem Bündnis vernetzt und wollen über unsere Fächergrenzen hinweg kritische Wissenschaft vorantreiben.
Elena: Genauso hatten sich in Freiburg die Kritischen Einführungstage gegründet, um den Einstieg in linke Politik für neue Studierende zu erleichtern. Ich wäre echt froh gewesen, wenn es das schon vor ein paar Jahren gegeben hätte! Leider bin ich nur bei einer klassischen Stadt-Ralley der Fachschaft Medizin mit viel Alkohol, nackter Haut und peer pressure gelandet, was ich im Nachhinein echt ätzend fand. Hier entsteht gerade ein Arbeitskreis Awareness von verschiedenen Fachschaften, bei dem wir gerne mitwirken wollen, um bei solchen Aktionen eine Gegenstimme anbieten zu können.
Moritz: Es ist so hilfreich, sich auszutauschen, eine Gegenmeinung zu repräsentieren. Und auch Menschen zu haben, mit denen ich darüber reden kann, wie es mir damit geht.
Rafaela: Und gemeinsam Worte zu finden. Ich habe so viel dazugelernt in den anderthalb Jahren, die wir aktiv sind. Sowas wie Critical Whiteness lerne ich definitiv nicht im Studium. Und der Kontakt zu anderen Gesundheitsorganisationen ist ja auch etwas ganz Besonderes. Zum Beispiel auch der vdää, über den wir fünf jetzt ja verbunden sind.
Cevher: Definitiv, solche Organisationen und Bündnisse erlauben es uns, diesen Zwischenzustand zu überbrücken als Studierende zwischen Anfänger*in und Expert*in. Oft habe ich dieses Gefühl ›Wir sind nicht so richtig Arbeitende im Gesundheitssystem, aber gleichzeitig doch schon ein Teil davon‹ – daher ist es schon jetzt sinnvoll, und nicht zu früh, weiterzudenken, ich meine über das Studium hinaus. Dabei ist es ermächtigend zu sehen, dass auch die, die schon lange im vdää dabei sind, uns zuhören und von uns genauso lernen können, wie wir von ihnen.
Luca: Der Gedanke an den Krankenhausalltag ist erschreckend. Viele von uns sind daher im Göttinger Supportbündnis Tarifvertrag und kämpfen in der Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen, zuletzt für die Gastronomie und die Servicekräfte hier am Uniklinikum.
Moritz: Da denk ich außerdem an Krankenhaus statt Fabrik. Mir gefällt der Gedanke, Arbeitsbedingungen jetzt schon zu transformieren. Aber dabei eben nicht nur eine bessere Zukunft für Ärzt*innen anzustreben, sondern für uns alle im Gesundheitswesen.
Cevher: Ich finde diesen Zukunftsblick auch nötig, wenn man sich so die Probleme der Welt anschaut. Wir waren daher an der Gründung einer Health 4 Future Ortsgruppe beteiligt, um zu zeigen: Wir schauen über den Tellerrand hinaus. Klar gibt es unser wöchentliches Plenum. Aber manche Themen überschreiten unsere Kapazitäten und machen ein Engagement in anderen Kontexten notwendig.
Luca: In der Basisgruppe treffen wir Entscheidungen basisdemokratisch. Manches können wir nicht mit allen entscheiden, aber wir sind alle gleichberechtigt. Besonders vor der Redeliste.
Elena: Das Prinzip der doppelt quotierten Redeliste finden wir super praktisch, obwohl es sich anfangs auch ein wenig starr und unpersönlich angefühlt hatte. Aber es hilft, den Plena und Diskussionen bei Veranstaltungen Struktur und auch Frauen* mehr das Wort zu geben.
Moritz: Wir mussten erstmal in diese Arbeitsweise reinkommen. Wir waren zwar voller Tatendrang, aber wir hatten ja nichts, worauf wir aufbauen konnten. Und zack, hatten wir plötzlich fünf Plätze im Fachschaftsrat, aber kein Geld für irgendwas. [lacht]
Rafalea: Das Thema Finanzierung ist wirklich noch ein Knackpunkt für die Zukunft …
Luca: Da haben wir es leichter. Die Basisgruppe hat sehr lange die O-Phasen-Parties organisiert und wir hatten dank unserer Vorgänger einiges, womit wir unsere Ideen so finanzieren konnten. Zum Beispiel bringen wir jedes Semester ein Ersti-Heft, die Med-Info, raus, in der wir eigene Texte zu aktuellen Themen, die uns interessieren, drucken und damit andere für die Themen motivieren wollten. Man braucht kein gesundheitspolitisches Vorwissen, um Alternativen und kritisches Denken zu erlernen. Darum gibt es bei uns einmal im Semester ein Einstiegsplenum für alle, die Lust auf mehr linke Gesundheitspolitik haben.
Moritz: Die Frage, wie man noch mehr Medizinstudierende politisieren kann, sitzt uns immer im Nacken. Oft stößt man auf Widerstände.
Elena: Ja, das finden wir auch. So oft mussten wir auf Nachfrage erklären, warum es uns als Fachschaftsgruppe geben soll und was der Mehrwert denn sei.
Luca: Aber genau das meinen wir bei der Basisgruppe, wenn wir mehr Weitsicht im Studium fordern. Für uns ist das ganz klar die Aufgabe der Lehre, dies zu fördern.
Rafaela: [nickt] Ich glaube, es hilft nicht, die Angepasstheit zu kritisieren. Das wird meist eher als Angriff aufgefasst und drängt Menschen von uns weg.
Moritz: Wir müssen da weitermachen, wo die Lehre aufhört: Auf bestehende Lücken hinweisen, denn nur so realisieren auch andere, was schiefläuft bzw. dass überhaupt etwas schiefläuft.
Luca: Es nervt mich, dass das Curriculum kaum Freiräume bietet, persönliche Akzente setzen zu können, mal durchzuatmen und zu schauen, wie man das Ganze eigentlich findet. Mich macht es unfassbar wütend, dass ich mir in meiner Freizeit selbst erarbeiten muss, wie sich Gesellschaft und Gesundheit zueinander verhalten.
Cevher: Ich würde mir für die Zukunft wünschen, dass wir mit unseren Veranstaltungen nur noch inhaltlich vertiefen müssen oder mal einen anderen Zugang, wie zum Beispiel einen Film bieten.
Rafaela: Genau darum wollen wir auch mit unserem Sitzen im Fachschaftsrat auf die Lehre Einfluss nehmen. Wir wünschen uns ein Studium mit mehr Diskussionen, Hinterfragen, kritischem Denken und konstruktivem Austausch und mit weniger starrem Auswendiglernen und sturem Multiple-Choice-Fragen-Ankreuzen.
Moritz: Ich möchte einfach, dass sie nicht nur behaupten, dass wir soziokulturelle Aspekte der Gesellschaft mit in unser Bild einzubeziehen sollen, sondern dass es uns einerseits vorgelebt und andererseits später im Berufsleben auch ermöglicht wird.
Elena: Dieses Vorleben und Vorbildsein ist so wichtig. Wie gerne hätte ich mir beispielsweise feministische Gynäkolog*innen gewünscht, anstatt auf konservative Strukturen zu treffen.
Luca: Denn eigentlich versuchen wir doch lediglich, in Patient*innen mehr als nur eine Diagnose zu sehen und sie bestmöglich zu versorgen. Dafür studieren wir doch schließlich Medizin, oder?
[Zustimmendes Nicken]
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ausbildung Gesundheitsberufe, Nr. 2 Juni 2020)