Der Anonyme Krankenschein
Carola Wlodarski-Simsek und Olga Ungurs über das Praxisbeispiel Thüringen
»Jeder hat das Recht auf […] ärztliche Versorgung«, besagt Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das Recht auf Gesundheit, unabhängig von Nationalität oder sozialem Status, und der besondere Schutz von Müttern und Kindern sind in vielen staatlichen und überstaatlichen Resolutionen verankert. Die Realität von vielen Menschen in Deutschland ist jedoch eine andere. 2018 kritisierte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dass das Recht auf Gesundheit nicht von allen Menschen in Deutschland wahrgenommen werden kann. Laut Schätzungen leben 200.000-1.000.000 undokumentierte Geflüchtete in Deutschland, denen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt bleibt. Hinzu kommen EU-Bürger*innen ohne formale Beschäftigung, Asylsuchende, Menschen mit unzureichender Auslandskrankenversicherung, aber auch Deutsche ohne festen Wohnsitz, mit Beitragsschulden bei der Krankenkasse oder gänzlich ohne Krankenversicherung, die nur einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem haben.
Nach vier Jahren der Konzeptfindung und politischen Verhandlungen wurde im Jahr 2017 aus dem MediNetz Jena und durch Unterstützung der linken Landesregierung der Anonyme Krankenschein Thüringen (AKST) ins Leben gerufen. Damit konnte die Arbeit, die lange Zeit ehrenamtlich durch Mitglieder des MediNetzes erfolgte, professionalisiert und ausgebaut werden. Seither wurden über 400 Anonyme Krankenscheine ausgegeben und Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen unterstützt. Jedes Jahr werden es mehr.
Nach der ursprünglichen Idee des AKST, die vom Gesundheitsministerium und den Koalitionsparteien im Koalitionsvertrag vom 4. Dezember 2014 formuliert wurde, sollen anonymisierte Krankenscheine Menschen ohne Papiere den Zugang zum Gesundheitssystem ermöglichen. Die Kostenübernahme geschieht durch Fördermittel des Landes und orientiert sich nach dem Behandlungsumfang des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Thüringer Rahmenvereinbarung für die elektronische Gesundheitskarte für Asylsuchende.
Die Gesetzeslage sieht vor, dass Menschen ohne Papiere für die Kostenübernahme einer ärztlichen Behandlung einen Antrag an das Sozialamt stellen müssen. In der Praxis wird damit der Zugang zum Gesundheitssystem unmöglich, da nach §87 des Aufenthaltsgesetzes Sozialämter dazu verpflichtet sind, die Personendaten mit der Ausländerbehörde abzugleichen, und Behandlungsbedürftige damit eine Abschiebung riskieren. Die Anonymisierung des Krankenscheins soll Menschen die Angst nehmen, dass ihre Daten an Behörden weitergeleitet werden, und es ihnen ermöglichen, ihr Recht auf medizinische Versorgung wahrzunehmen. Doch der Bedarf an Anonymen Krankenscheinen ist noch größer. Zunehmend nehmen auch EU- und deutsche Staatsbürger*innen ohne Krankenversicherung die Möglichkeit der Behandlung durch Anonyme Krankenscheine wahr.
Für die Ausstellung eines Krankenscheins können sich Patient*innen an eine von derzeit landesweit 36 Ausgabestellen wenden. Neben dem Büro in Jena konnten durch das Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen bisher 35 Ärzt*innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen für eine Zusammenarbeit gewonnen werden, um die Versorgung von Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung zu dezentralisieren und lange Anfahrtswege zu vermeiden.
Die Ausgabe der Scheine erfolgt nach einem Zwei-Ärzt*innen-Prinzip: Durch die Ärzt*innen der Ausgabestellen werden die Patient*innen untersucht und an ein*e Kolleg*in einer geeigneten Fachrichtung zu Behandlung überwiesen. Die Kontaktdaten werden nur bei dieser ersten Konsultation erfasst. Der herausgegebene Krankenschein ist auf ein Pseudonym ausgestellt, das in der nachfolgenden Kommunikation als Patient*innenname dient. Der Krankenschein ist eine Kostenübernahmegarantie bis 500 Euro; höhere Behandlungskosten benötigen der vorherigen Absprache mit der Ärzt*in des AKST und werden nach Möglichkeit bewilligt. Die Abrechnung der Behandlungskosten erfolgt gemeinsam mit dem Krankenschein über unsere Kostenstelle.
In den letzten drei Jahren konnte so vielen Menschen geholfen werden. Zuerst war nur ein Budget für ambulante Behandlungen vorgesehen, mittlerweile können auch stationäre Behandlungen in begrenztem Umfang übernommen werden. 2019 ist zudem eine Stelle für Clearing und Legalisierungsberatung hinzugekommen, mithilfe derer schon einige Menschen in eine reguläre Krankenversicherung zurückgeführt werden konnten. Die Stellenkapazitäten und das Budget für Behandlungskosten sind begrenzt, der Bedarf ist weiterhin höher als die zur Verfügung stehenden Mittel. Doch es ist ein Anfang.
Die häufigsten Konsultationsgründe kommen aus der Allgemeinmedizin, Zahnmedizin und Gynäkologie. Jedes Jahr übernimmt der AKST die Kosten mehrerer Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen und Geburten. Viele Patient*innen haben zudem psychische Erkrankungen, die einen besonderen Umgang und häufig auch Behandlung erfordern. Die Koordination erfolgt aus der Zentrale in Jena, von wo aus die vier Mitarbeiter*innen und ein*e Bundesfreiwilligendienstler*in arbeiten. Hier befindet sich das Verwaltungsbüro, das ärztliche Untersuchungszimmer, aus dem die Ausgabe von Krankenscheinen erfolgt, und das Büro der Clearing- und Legalisierungsberatung, welche Betroffenen den Weg in die Regelversorgung erleichtern soll.
Das Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (TMASGFF) unter Leitung von Gesundheitsministerin Heike Werner von der Partei Die Linke ist dabei eine große Unterstützung. Der politische Wille, das Projekt zu fördern und weiterzuentwickeln ist gegeben. Annahmen der Oppositionsfraktionen, dass das System der anonymen Krankenscheine auch Straftäter*innen beim Untertauchen unterstützt oder »Asyltourismus« provozieren würde, konnten durch Erfahrung und externe Studien widerlegt werden.
Um auch wirklich allen Menschen ihr Recht auf Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, ist aber noch einiges nötig. Besonders jetzt, während der Corona-Pandemie, zeigen sich die Lücken des Gesundheitssystems in Deutschland. Da Menschen ohne Papiere kein Vertrauen in staatliche Stellen haben können, scheuen sie bei einer Erkrankung den Gang zum Gesundheitsamt und können nicht isoliert werden. Menschen ohne Krankenversicherung berichten, dass sie trotz gegeben Verdachts ohne gültige Chipkarte von Teststellen abgewiesen werden. Auch Gemeinschaftsunterkünfte von Geflüchteten stehen vor großen Herausforderungen: Die Umstände begünstigen die Ausbreitung ansteckender Krankheiten und stellen vor allem bei Notwendigkeit einer Quarantäne zusätzlich eine große psychische Belastung dar. So wurde in Suhl ein gesamter Gebäudekomplex aufgrund der Infektion einer einzelnen Person unter Quarantäne gestellt, mehrere hundert Menschen waren betroffen. Zugleich gab es nur begrenztes mehrsprachiges Informationsmaterial, das den Bewohnern die Lage erklärt hätte. Es folgten Proteste, die einen Polizeieinsatz nach sich zogen.
Wir arbeiten gemeinsam mit dem TMASGFF weiter daran, die Versorgung von Papierlosen in Thüringen auszubauen. Dafür muss die Bekanntheit des AKST bei Behandelnden und Betroffenen weiter erhöht und die Vernetzung mit Krankenhäusern ausgebaut werden. Auch besteht ein hoher Bedarf an Clearing und Legalisierungsberatung, für welches bundesweit viele Städte bereits eigene Systeme entwickelt haben. Jedoch braucht es langfristig eine bundesweite und unbürokratische Lösung, die diesen besonders vulnerablen Menschengruppen Schutz und die Wahrnehmung ihrer Rechte ermöglicht.
Carola Wlodarski-Simsek ist Projektkoordinatorin Anonymer Krankenschein Thüringen e.V. und Olga Ungurs ist Ärztin Anonymer Krankenschein Thüringen e.V.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizinische Versorgung von Geflüchteten, Nr. 1 März 2020)