GbP 4-2019 Ethikrat

Big Data und Gesundheit

Stellungnahme des deutschen Ethikrates 2018 zu Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung

Wir dokumentieren hier die Einleitung der Stellungnahme des Ethikrats ab. Bei Interesse zur tieferen Lektüre findet sich der Text zur freien Verfügung im Internet.

Big Data gehört zu den Schlüsselbegriffen der gegenwärtigen Debatte über die technologisch in­duzierte gesellschaftliche Veränderung. Obwohl die als Big Data zusammengefassten Technologien oft selbst keiner festgelegten, eindeutigen Definition folgen, entfaltet der Begriff in der Öffentlichkeit große Wirkmacht. Hinter dem Stichwort Big Data verbirgt sich ein zentraler Mechanismus der Datenwelt: die Erfassung, Analyse und neue Verknüpfung wachsender Datenmengen auf Grundlage einer aufwendigen Infrastruktur. Die Menge der weltweit kursierenden Daten wächst stetig und rasant an. Durch Rekontextualisierungen und Rekombinationen lassen sich immer weitergehende Erkenntnisse aus den vorhandenen und neu erhobenen Daten gewinnen. Die mit Big Data verbundenen Prozesse gehen dabei über die bisherige, auf einen bestimmten Verwendungszweck konzentrierte Datenerfassung weit hinaus. Sie fordern deshalb unseren bisherigen Umgang mit Daten heraus und konfrontieren uns mit Fragen zu einer Reihe gesellschaftlicher Praktiken, wie die Gestaltung von Versicherungsverträgen, und zu angemessenen rechtlichen Standards, insbesondere den Datenschutz. Die Diskussion um Big Data betrifft im Kern unser Selbstverständnis als Einzelne sowie als Gesellschaft unter den Bedingungen der Digitalisierung und der zunehmenden Vernetzung.

Die transformativen Potenziale von Big Data für Individuen und Gesellschaft zeigen sich in besonders anschaulicher und eindrücklicher Weise im Gesundheitsbereich. Schon jetzt arbeiten immer mehr Forscher, Firmen und Ärzte mit riesigen Datenmengen. Gesundheitsdaten werden aber längst nicht mehr nur in Arztpraxen und Studien gesammelt, sondern auch von Bürgern selbst erfasst – etwa über die Sensoren und Apps von Mobiltelefonen und am Körper getragenen Geräten (Fitness-Tracker, Smartwatches). Gleichzeitig wachsen dank neuer Entwicklungen in der Datenwissenschaft und Dateninfrastruktur die Möglichkeiten, die so gewonnenen, vielfältigen Daten schnell und effektiv auszu­werten, auszutauschen und sie miteinander sowie mit anderen Daten zu verknüpfen, die gerade in der Zu­sammenschau ebenfalls gesundheitsrelevant werden können, zum Beispiel Informationen über das Einkaufs­verhalten, Suchanfragen im Internet, Ortsdaten oder die Analyse von Text-, Sprach- und Videomaterial. Solche Analysen ermöglichen nicht nur tiefe Einblicke in den aktuellen ­Gesundheitszustand, die Persönlichkeit und den Lebenswandel, sondern erlauben mitunter sogar entsprechende Vorhersagen. Insgesamt fließt eine immer größere Zahl verschiedener Datenströme in Big-Data-basierte Auswertungshorizonte ein.

Die beschriebene Verknüpfung unterschiedlicher Datenarten verspricht neue Erkenntnisse für wissenschaftliche Forschung und medizinische Behandlungsstrategien. Die gemeinsame Auswertung von zum Beispiel klassischen medizinischen Daten, Forschungsdaten, Daten öffentlicher Gesundheitsversorgung, Bewegungsdaten, Fitnessdaten, Daten aus sozialen Netzwerken und Versicherungs­daten ermöglicht ganz andere Einblicke und Eingriffe beim Umgang mit Gesundheitsrisiken und Krankheiten als bisher. Dass solche Visionen besserer, schnellerer und präziserer Diagnose, Prävention und Behandlung überhaupt möglich erscheinen, hängt jedoch auch mit der Entgrenzung von Gesundheitsfragen zusammen, in deren Zuge alles, was wir tun und erleben, nicht nur in Bezug auf unsere Gesundheit analysiert wird, sondern beispielsweise auch in die Berechnungen des Krankheits- oder Gesundheitsstatus einfließen kann. Dies gilt für medizinische Diagnosen, Therapie- und Präventionsoptionen ebenso wie für die Kalkulationen von Krankenversicherungsprämien oder von Berufsrisiken.

Gesundheitsdaten gelten herkömmlich als besonders sensible Daten und sind entsprechend geschützt. Hierfür gibt es mindestens zwei Gründe: Wo in einem sozialen Kontext (Beruf, Verträge, Beziehungen) als ungünstig erachtete Gesundheitszustände bekannt werden, kann dies für die Betroffenen zu Benachteiligungen – bis hin zu Diskriminierungen und Stigmatisierungen – mit der Folge sozialer und gegebenenfalls vertraglicher und finanzieller Exklusion führen. Zweitens und unabhängig von solchen Folgenabwägungen gilt die leibliche Konstitution der Person in unserer Gesellschaft als etwas zutiefst Intimes. Über sie muss bis auf im Einzelnen zu begründende Ausnahmefälle keine Rechenschaft gegenüber anderen abgelegt werden. Ob bestimmte Daten als sensibel oder gesundheitsrelevant zu betrachten sind, lässt sich jedoch angesichts der neuen Kombinations- und Auswertungsmöglichkeiten von Big-Data-Anwendungen oft nicht mehr bei der Erhebung bestimmen, sondern hängt zunehmend vom Kontext ab, in dem die Daten verwendet werden.

Auch die massive Einflussnahme auf diesen Sektor durch große IT- und Internetfirmen, die ihren Firmensitz außerhalb von Europa haben und derzeit noch immer, auch innerhalb Europas, schwer zu kontrollieren sind, verschärft die Herausforderung für den Einzelnen sowie für die Gesellschaft. Zentrale Prinzipien wie Privatheit und informationelle Selbstbestimmung erscheinen nicht nur gegen Eingriffe von außen zunehmend schwer zu verteidigen zu sein, sondern auch wegen des Verhaltens der Betroffenen selbst, die für die Servicevorteile vieler Apps, Programme und internetbasierter Technologien Eingriffe in den intimsten Persönlichkeitsbereich billigend in Kauf nehmen. Damit deutet sich ein weiterer Problembereich an: Individualisierung, die bei medizinischer Prävention und Behandlung möglicherweise segensreich ist, kann im Versicherungswesen und im sozialen Miteinander bewusste oder unbewusste Dynamiken der Entsolidarisierung hervorrufen. Was der Prämienvorteil für den einen wäre, könnte letztlich einen finanziellen Nachteil für den anderen bedeuten. Wer verbreiteten Verhaltensratschlägen zukünftig nicht folgt, könnte Gefahr laufen, Versicherungsschutz nur zu schlechteren Konditionen oder gar nicht zu erhalten.

Durch Big Data im Gesundheitsbereich eröffnen sich also einerseits vielversprechende neue Perspektiven und Chancen für die Erforschung, Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Andererseits sind aber auch ernst zu nehmende Herausforderungen und Risiken für verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu erkennen. Angesichts der starken Veränderungen, die diese Chancen und Risiken sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft bewirken könnten, stellen sich für den Einsatz von Big Data im Umgang mit Gesundheit zahlreiche Fragen: Wie berührt zum Beispiel die immer engmaschigere und oft kaum merkbare Sammlung gesundheitsrelevanter Daten unsere Selbstwahrnehmung, Freiheit und Selbstbestimmung? Entpuppt sich das, was unter den Bedingungen von Big Data Selbstbestimmung zu sein scheint, am Ende mög­licherweise als Selbstentmündigung, oder handelt es sich dabei nur um eine jener Veränderungen des eigenen Selbstverständnisses, wie sie im Laufe eines Lebens durchaus öfter stattfinden? Wie können Privatpersonen, Forscher und Firmen verantwortungsbewusst mit Big Data umgehen, und wie lässt sich die Qualität und Zuverlässigkeit komplexer Datenauswertungen sichern? Welche Herausforderungen stellen sich für Solidarität und Gerechtigkeit, zum Beispiel mit Blick auf Krankenversicherungen, aber auch mit Blick auf die Forschung, die für Big-Data-Anwendungen viele Daten benötigt? Wie kann das Vertrauen in die Forschung gewahrt bleiben, wenn auch anonymisierte Probandendaten zumindest im Prinzip immer wieder entschlüsselt werden können? Welche regulatorischen Mechanismen und Anreize bieten sich, um die Chancen und Risiken von Big Data im Gesundheitsbereich angemessen zu handhaben? Und wo sollen aus der Sicht des Individuums oder des regulierenden Staates Grenzen für die Erhebung, Verknüpfung und Nutzung von Daten gezogen werden? Sollten wir überhaupt Grenzen ziehen oder stattdessen die bisherigen Grenzen, wie gegenwärtig gültige Standards des Datenschutzes, lockern, um die gewünschten Effekte von Big Data noch besser nutzen zu können?

Angesichts solcher und anderer Fragen und Herausforderungen gilt es, zumindest aufmerksam wahrzunehmen, wie weit Big Data Einfluss auf das Verständnis von Gesundheit, Selbstbestimmung und sozialem Miteinander hat. Ziel muss es sein, diese Entwicklung so zu gestalten, dass sie nicht nur – was zunächst durchaus legitim ist – zu Gewinnen diverser beteiligter Unternehmen führt, sondern auch die reale Freiheitsgestaltung der Menschen in der Gesellschaft sichert und fördert. Die vorliegende Stellungnahme zielt vor diesem Hintergrund darauf, Sensibilität für das drängende Thema Gesundheit und Big Data zu wecken und zugleich ethische und rechtliche Standards auf diesem Felde zu setzen. (…)

Die Antworten darauf münden in die Forderung, mittels eines den neuen Big-Data-Bedingungen angemessenen Gestaltungs- und Regelungskonzepts das zentrale Ziel der Datensouveränität zu erreichen. Dieser Begriff ist im Zusammenhang mit Big Data in unterschiedlichen Bedeutungen geläufig; hier wird er verstanden als eine den Chancen und Risiken von Big Data angemessene verantwortliche informationelle Freiheitsgestaltung. Dieses Konzept nimmt damit basale rechtliche und ethische Überlegungen auf und entwickelt sie bereichsspezifisch weiter. Datensouveränität umzusetzen, ist eine komplexe Aufgabe, in der eine Vielzahl von Akteuren und unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden müssen. Die Grundlagen, jetzt hierfür technisch, ökonomisch, rechtlich, politisch und kulturell geschaffen werden, entscheiden langfristig über die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheit und Selbstbestimmung. In diesem Sinne formuliert der Deutsche Ethikrat abschließend Empfehlungen zum Umgang mit den erkannten ethischen, rechtlichen und sozialen Herausforderungen, die sich durch Big Data in gesundheitsbezogenen Bereichen ergeben.

(Quelle: Deutscher Ethikrat: »Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung«, Berlin 2018, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-big-data-und-gesundheit.pdf)

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung im Gesundheitswesen, Nr. 4 Dezember 2019)


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