Gesundheits-Apps
Rückschritt durch technischen Fortschritt - von Benjamin Wachtler
Der Markt der Gesundheits-Apps ist in den letzten Jahren rasant gewachsen. Derzeit finden sich in den App-Stores von Android und Apple zusammen ungefähr 130.000 Apps, die in der Rubrik Gesundheit geführt werden. Es herrscht Goldgräberstimmung in den Start-Ups der Metropolen: Es gilt, den Gesundheitsmarkt zu erobern, der mit seinen regulierten Strukturen ein immenses Einsparungs- und Modernisierungspotential verspricht und damit traumhafte Anlagemöglichkeiten für privates Kapital. Doch die Heilsversprechungen von Technologieindustrie und Teilen der Gesundheitswissenschaften können durch die Apps meist nicht erfüllt werden, wie Norbert Schmacke und Heinz-Harald Abholz in ihrem Beitrag deutlich machen. Neben der Tatsache, dass die allermeisten Apps keinen Nutzen, geschweige denn einen Zusatznutzen nachweisen können, ist zu befürchten, dass der »Gesundheits-App-Hype« zu einem Rückschritt hin zu einem biologisch-individualistischem Verständnis von Gesundheit, Krankheit, Prävention und Gesundheitsförderung führen wird.
Denn fast allen Anwendungen ist gemein, dass sie sich ausschließlich auf das individuelle Verhalten fokussieren oder die individuelle medizinische Therapie unterstützen sollen. Das individuelle Verhalten soll durch technische Unterstützung modifiziert werden und wird so isoliert zum alleinigen Handlungsfeld der Prävention. Damit wird das Gesundheitsverhalten losgelöst von seinen sozialen Bedingungen ausschließlich im Kontext der individuellen Verantwortung gedacht. Diese Fokussierung auf die individuelle Verhaltensprävention widerspricht dabei den Forderungen des Präventionsgesetzes, die lebensweltlichen Bedingungen in denen Menschen leben bei der Entwicklung von Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung miteinzubeziehen, und es ignoriert wesentliche Erkenntnisse aus Public Health und Gesundheitswissenschaften hinsichtlich wirksamer und nachhaltiger Interventionen der Gesundheitsförderung. Durch die in der Natur von Gesundheits-Apps liegende Fokussierung auf das individuelle Verhalten als alleinige Ursache von Gesundheit und Krankheit werden somit die weiteren gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Bereich von Medizin und Prävention entfernt. Die Potentiale der »Verhältnisprävention«, also der Vermeidung von Krankheit durch die Verbesserung der sozialen Bedingungen, in denen Menschen leben und arbeiten, drohen durch den digitalen Hype noch mehr als bisher ignoriert zu werden.
Gleichzeitig wird Gesundheits-Apps immer wieder das Potential zugeschrieben, die Gesundheitschancen zu verbessern. In Bezug auf die gesundheitliche Chancengleichheit zeigen die wenigen internationalen Studien jedoch, dass Gesundheits-Apps die soziale Ungleichheit weiter reproduzieren. Sie werden mehr von den Menschen in höheren sozioökonomischen Positionen genutzt und vergrößerten, sollten sie wirklich wirken, die soziale Ungleichheit in der Gesundheit eher. Bei wenig nachweisbaren Nutzen bergen Gesundheits-Apps als Ausdruck eines unreflektierten und unkontrollierten technischen Fortschritts also prinzipiell das Risiko zu einem theoretischen und praktischen Rückschritt im Bereich der präventiven Medizin und Gesundheitsförderung.
Dr. Benjamin Wachtler ist Mitglied im erweiterten Vorstand des vdää und arbeitet in Berlin.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung im Gesundheitswesen, Nr. 4 Dezember 2019)