GbP 4-2019 Editorial

Seit dem im Sommer 2017 erstmals ein Themenheft von Gesundheit braucht Politik (GbP) zur Digitalisierung im Gesundheitswesen erschienen ist, hat die Dynamik dieser Umwälzung deutlich an Fahrt aufgenommen. Das ist nicht nur dem hyperaktiven Gesundheitsminister Spahn geschuldet, der in einem Rekordtempo mehr oder weniger durchdachte Gesetzesvorhaben vorlegt. Die Gier nach Gesundheitsdaten von Google und Co. hat längst das Gesundheitswesen erreicht. Schon lange greifen sie über kostenlose Gesundheitsapps Daten ab, um sie für Marketingzwecke zu gebrauchen. Gezielter agieren könnten die Konzerne allerdings, wenn sie die Daten aus Krankenakten mit Diagnosen und therapeutischen Maßnahmen nutzen könnten.

Ein Schritt in diese Richtung könnte das im November diesen Jahres im Bundestag diskutierte »Digitale Versorgung- Gesetz« sein. Turbomäßig soll die Errichtung einer Forschungsdatenbank mit wichtigen Kenndaten aller GKV-Versicherten durch die parlamentarischen Gremien durchgepeitscht werden. Ein individuelles Widerspruchrecht wird es nicht geben. Welchen konkreten Nutzen diese Datenbank erbringen soll, bleibt nebulös. Sicher kann man davon ausgehen, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, dass auch privatwirtschaftliche Unternehmen darauf Zugriff erhalten. Es wird versucht, mit dem ideologischen Konstrukt einer »Datenspende« Versicherten die Nutzung ihrer (mitunter unfreiwillig) zu Verfügung gestellten Daten schmackhaft zu machen. Dennoch ist es für Patient*innen und professionell im Gesundheitswesen Tätigen schwer zu entscheiden, was für eine wie auch immer gedachte Gesundheit zuträglich ist oder wo die Intimsphäre dem Profit geopfert wird.

Was ist bei der Digitalisierung zu begrüßen? Wie kann man aber auch rote Linien bestimmen, die nicht überschritten werden dürfen? Wo sollten wir uns verweigern und wann aktiv Widerstand leisten? Fragen, die sich nicht so ohne weiteres beantworten lassen. Bereits auf dem diesjährigen Gesundheitspolitischen Forum von vdää und Solidarisches Gesundheitswesen e.V. versuchten wir, uns diesem Themenkreis anzunähern. In diesem Heft wollen wir dies zum einen dokumentieren, zum anderen an der Editorial einen oder anderen Stelle die Debatte vertiefen: Michael Krätke beschreibt, welche Interessen aus marxistischer Sicht die Digitalisierung vorantreiben. Carina Borzim stellt die Thesen von Shoshana Zuboff zum Überwachungskapitalismus vor. Einen Kapitalismus, den Zuboff nicht überwinden will, sondern als einhegbar denkt. Wulf Dietrich beschreibt, wie der Gesetzgeber mit dem Implantatregistergesetz den Datenschutz aus seiner Sicht elegant aushebelt. Sicherlich ein Vorgehen, das für zukünftige Gesetzesinitiativen aufhorchen lässt. Wilfried Deiß legt dar, welche Art der Digitalisierung in der Arztpraxis für Patient*innen nützlich sein könnte und ab wann Ärzt*innen in Gefahr laufen, ihre Patient*innen digital zu schädigen. Mittlerweile gibt es auch eine Reihe empirischer Erfahrungen mit Gesundheitsapps, die sich wissenschaftlich überprüfen lassen. Norbert Schmacke und Heinz-Harald Abholz legen eine kritische Bilanz vor. Timo Beeker widmet sich der spezifischen Symptomatik der Digitalisierung in der Psychiatrie. Nadja Rakowitz resümiert die Diskussionen auf dem Gesundheitspolitischen Forum. Sicher ist, dass uns dieses Thema weiter beschäftigen muss.

Jürgen Kretschmer hat es auf der Tagung mit dem Bonmot »Digitalisierung ist die Lösung; was war eigentlich das Problem?« auf den Punkt gebracht. Dies könnte für weitere Debatten hilfreich sein.

Bernhard Winter


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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