Dr. Jekyll and Mr. Hyde
Bernd Kalvelage zum Wandel des Arztbildes
Seit fast 50 Jahren kämpfen demokratische Ärztinnen und Ärzte gegen das Arztbild des »Halbgott in Weiß«. Bernd Kalvelage kommt hier zu dem ernüchternden Schluss, dass dieser Kampf noch lange nicht zu Ende ist. Das Arztbild hat sich gewandelt, bleibt aber problematisch.
»Arztbild« ist eine von Wunsch und Erfahrung geleitete Vorstellung, besser gesagt ein Vorurteil, und kein exaktes Abbild einer Person oder Berufsgruppe. »Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.« Latein war vor 50 Jahren, beim Beginn meines Medizinstudiums, gängige Geheimsprache der Ärzte. Heute sprechen wir verständlicher. Also: »Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.« In meinem Semester gab es unter 350 Studenten 14 Studentinnen. Inzwischen sollte sich das Arzt-Bild zu einem Ärzt*innen-Bild gewandelt haben. Es ist aber immer noch dominant von Männern gezeichnet, und deren Verantwortung für das Erscheinungsbild der Ärzteschaft verbietet mir eine gendergerechte Wortwahl. Es existiert ein Arztbild! Meine Wahrnehmung: Es digitalisiert sich, Farben der Wahl: das politische Spektrum, allerdings sehr gelbstichig und mit spärlichem Rotanteil (Ärztezeitung 18.09.2017), glänzend mit Technik, Perfektion und Erfolg, es verströmt Konkurrenz, passt sich jeweils den wandelnden Lichtverhältnissen an, hinterlässt beängstigende Schattenbilder, es hat seinen Preis und passt perfekt ins bürgerliche Ambiente, in dem es sich gewinnbringend versilbert. Diese Bildinterpretation bedarf einer Begründung.
Die Fortschritte der Medizintechnik erschaffen einen neuen, medizinische Wunder vollbringenden »Halbgott in Weiß«
Das Vertrauen in die Ärzte schwindet. Die selbstherrlichen Manipulationen einzelner Transplantationsmediziner zum Beispiel haben die Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung so stark beeinflusst, dass sich die Politik veranlasst sah, gesetzgeberisch einzugreifen. Für im Neoliberalismus sozialisierte und unkritische Medizinstudierende kann der »Halbgott« als Vorbild immer noch eine nachhaltige, »asozial-elitäre Grundimprägnierung« bewirken.
Paradoxer Konsens ist, Ärzte sollen sich nicht mehr wie Halbgötter aufführen (Halbgöttinnen gab es in der Medizin ohnehin nie), aber dennoch das göttliche Wunder der ewigen Gesundheit und Jugendlichkeit vollbringen. Die von verschiedensten Seiten geschürte Illusion, Gesundheit sei machbar wie neue Autos, entwertet aber Arzt und Gesundheit gleichermaßen durch die regelmäßig enttäuschten Erwartungen. Der Arzt wird zum genialen Gentechniker (Vorsicht: Größenwahn) oder zum Adressaten enttäuschter Kundenreklamationen (Vorsicht: burn out).
Wenn der Patient zum Kunden wird, wird der Arzt zum Verkäufer
Aus der Kundenrolle erwachsen dem Patienten Ansprüche an den Dienstleister: Anerkennung als (Geschäfts-)Partner, Qualität und Erfolgsgarantie, Luxusangebote, Reklamation bei Mängeln – um nur einige zu nennen. Die mit dieser neuen Rolle verknüpfte »Eigenverantwortung« kann jedoch gesellschaftlich zu verantwortende Gesundheitsrisiken verschleiern. Sie beinhaltet Strafandrohungen bei »Fehlverhalten« und kann den Kranken je nach Bildungsstand schlicht überfordern oder je nach Einkommen faktisch von der Versorgung ausschließen: von einem zeitnahen Arzttermin als Kassenpatient, von der Behandlung durch Spezialisten, die nur Selbstzahler annehmen, von notwendigen Kassenleistungen, die Ärzte – illegalerweise – als vom Patienten zu zahlende Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL, s.u.) anbieten, von notwendigen, teuren Medikamenten, die vom Arzt wegen einer befürchteten Budgetüberschreitung nicht verschrieben werden. »Der Arzt als Gewerbetreibender hat (besser gesagt »fühlt«, BK) keine Verpflichtung mehr, die Gesamtheit der Bevölkerung wahrzunehmen, er hat seine Kunden im Blick. Das sind die, die es sich leisten können, seine Dienst in Anspruch zu nehmen … Coca Cola hat keine Verpflichtung, alle Dürstenden dieser Welt zu stillen.« (Unschuld 2006) Nur der selbstbewusste Patient wird sich zu wehren wissen, wenn sein Kassenarzt sich so verhält.
Der Wandel vom Patienten zum »zahlenden Kunden« erodiert das professionelle Ethos. Spätestens, wenn Ärzte ihre »Kunden« nach Erwünschtheit sortieren (qua Warte- und Zuwendungszeit), tritt bestenfalls nur dem »guten Kunden« noch der »gute Arzt« entgegen. Die ärztlichen Leistungen, Empathie zum Beispiel, Wertschätzung und Gehör waren bisher – zumindest anspruchsmäßig – all inclusive. Wird Menschlichkeit zukünftig bepreist werden?
Wenn die Normen des Marktes auf das soziale Geben und Nehmen Anwendung finden, führt dies zu einer nachhaltigen Beschädigung menschlicher Beziehungen
Eine amerikanische Rentnervereinigung fragte bei Anwälten nach, ob sie für ein reduziertes Honorar von 30 Dollar bedürftige Rentner beraten würden. Das wurde mehrheitlich abgelehnt. Auf die erneute Befragung, ob sie ihre Dienste kostenlos zur Verfügung stellen würden, erfolgte überwältigende Zustimmung. Solange Honorar im Spiel war, legten die Anwälte Marktnormen an und empfanden das Angebot als unzureichend. Als es nicht mehr um Geld ging, zogen sie soziale Normen heran und berieten ohne Honorar. (Ariely 2008)
Ärzt*innen sollen selbstverständlich nicht nur ehrenamtlich arbeiten. Das Beispiel aus der Verhaltensökonomie ist aber ein Argument gegen eine »Einzelleistungsvergütung«, die jeden Handschlag des Arztes auf Euro und Cent genau honoriert. Dann wird der Hausbesuch unattraktiv und möglichst vermieden. »Die« Ärzte erliegen leicht der Versuchung, gutdotierte Untersuchungen (u.U. auch riskante) durchzuführen, auch wenn sie nicht notwendig sind. Dies ist durch die Erfahrung mit verschiedenen Gebührenordnungen, die mehr oder weniger pauschaliert waren, eindeutig bestätigt worden. Die Normen des Marktes prägen derzeit das Arztbild. Der aufmerksame Patient verliert sein Vertrauen in die Uneigennützigkeit des Arztes und dieser sein Charisma.
Wenn Arztpraxen zu Gesundheitszentren werden, stören Kranke den Betrieb, lohnt es sich mehr, Gesunde zu behandeln
Der Euphemismus, in allen möglichen Wortzusammensetzungen »Krankheit« durch »Gesundheit« zu ersetzen, spricht für einen verbreiteten Gesundheitswahn. Auf der anderen Seite steht eine geschürte Hypochondrie, Befindlichkeitsstörungen des Alltags oder des Alters zu neuen, kostspielig behandlungsbedürftigen, aber freilich »unheilbaren« neuen Krankheiten zu machen. Ärzte, als Spezialisten für Krankheiten, haben keine gemeinsame Vorstellung, was Gesundheit eigentlich ist. Bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition (van Spijk 2011). Dennoch wurden 2015 in den Praxen 33 Prozent aller Patienten »Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)« angeboten, deren Nutzen meist nicht nachweisbar ist und über deren Risiken (inzidenter Befund, somatische Fixierung) meist nicht aufgeklärt wird. Angst vor einer schlimmen Krankheit ist nicht mehr Anlass für Aufklärung, gründliche Untersuchung (im GKV-Rahmen ohne Zuzahlungen) und Ent-Ängstigung des »besorgten Gesunden«, sondern die wach zu haltende Geschäftsgrundlage der IGeL-Praxis.
IGeL-Mediziner unterlaufen alle Kontrollen der GKV und der Aufsichtsbehörden. Das Heilungsprivileg, das die Gesellschaft der Ärzteschaft anvertraut hat, wird jeglicher gesellschaftlicher Kontrolle entzogen: als ob Mr. Hyde und Dr. Jekyll in einer Gemeinschaftspraxis praktizierten.
Wenn Krankenhäuser Profite machen müssen, werden sie zu Fabriken und der kranke Kunde wieder zum Objekt
Die Verwaltungen, die Konzerne und ihre Shareholder sind die neuen Machthaber in der Krankenhaushierarchie, und die Ärzte werden entgegen der als Ideal vertretenen alleinigen Verantwortung des Arztes zu deren »Knechten in Hinsichten« so Rhode schon 1962. Patient*innen werden mehr oder weniger gezielt, mehr oder weniger absichtsvoll »selektiert« nach ökonomischen Gesichtspunkten. Nach Möglichkeit sollen potentiell kostenträchtige Fälle aussortiert werden, die Samuel Shem in seinem Roman »House of God« (1996) als Gomers (Akronym für: Get out of my ermegency room) etikettieren lässt. Kranke können nicht mehr davon ausgehen, dass ihr Leiden im Mittelpunkt der ärztlichen Aufmerksamkeit steht und nicht völlig andere Profit- oder Profilierungsabsichten. Es bedürfte schon des Heldenmutes des gerade gestürzten Halbgotts, um sich dem in den Weg zu stellen. Zivilcourage schmückte zumindest in der jüngsten deutschen Vergangenheit selten das Arztbild. Hagen Kühn (2005) spricht von einer »moralischen Dissonanz« der Krankenhausmitarbeiter*innen und appelliert an die »politische Vernunft« (wessen?), »Institutionen und Steuerungsinstrumente so zu gestalten, dass die in ihnen handelnden Individuen nicht zu Helden werden müssen, um ihrer ethischen Verantwortung zu entsprechen.«
Das Marketing der Krankenhausbetreiber durchdringt die Patienten-Arzt-Beziehung wie ein schleichendes Gift. Es gibt Überlegungen, den »Arzt als Marke« (Storcks 2013) zu etablieren. Die Person des Chefarztes soll als strategisches Instrument zum »Imageaufbau« benutzt werden, es soll menscheln dürfen. »Marktkonformes Verhalten« der so aufgebauten Arzt-Persönlichkeit soll durch monetäre Anreize geweckt werden. Gleichzeitig wird gewarnt, wenn der zur Marke gemachte Chefarzt zu mächtig werde, drohe »eine starke interne Verhandlungsmacht gegenüber der Geschäftsführung«. Charisma und Patientenorientierung sind o.k. – solange sie die Geschäfte nicht stören.
Die Digitalisierung der Medizin ist – zumindest jenseits ihrer unmittelbar medizinischen Anwendung – janusköpfig. Sie kann Zeit für intensivere, gezieltere Patientenbetreuung schaffen und den Algorithmus liefern, Patient*innen und Beschäftigte subtil in die Logik der Gewinnmaximierung einzubinden. Sie wird entgegen mancher Alarmrufe, Ärzt*innen nicht ersetzen, ihnen aber eine zusätzliche Verantwortung aufgeben, Arztbild und Menschenbild, medizinischen Fortschritt und Menschenwürde zusammen zu bringen.
Dass »Krankheit ohne Politik nicht heilbar« (Deppe 1987) ist, gilt nicht für die Politik der ärztlichen Standesorganisationen
Das hohe Prestige, die Privilegierung und besondere Rechtsstellung der Ärzteschaft beruht auf dem Anspruch einer hohen Professionalität, aber seit mehr als einhundert Jahren steht standespolitische Hemdsärmeligkeit dieser entgegen: »Bisher haben wir Ärzte zu lange auf Standesehre und Standeswürde gepocht, ich sage ihnen Geld, Geld ist die Hauptsache.« (Hermann Hartmann, Gründer und Namensgeber des Hartmann-Bundes, 1900) Solange alle Strukturfragen der medizinischen Versorgung nach ökonomischen bzw. betriebswirtschaftlichen, honorarpolitischen Kriterien erfolgen, fehlt es an Professionalität. Rationierung medizinischer Leistungen (= Vorenthaltung von medizinisch sinnvollen Leistungen aus Kostengründen) wird als unausweichlich hingestellt, Rationalisierungen (= der zweckmäßig gesteuerte Einsatz vorgehaltener Maßnahmen) werden verweigert. Rationalisierung bedeutete, profitable Überversorgungen (ohne medizinischen Nutzen) abzustellen zugunsten einer besseren Versorgung nach dem Bedarf der Kranken und ihrer (schichtbedürftig unterschiedlichen, s.u.) Gefährdung. In ihrer sozialen Verblindung koaliert die Standespolitik, inklusive Wahlkampfhilfen, mit dem konservativ-rechten wie liberalen Parteienspektrum.
Die Gleichbehandlung aller Patienten »ohne Ansehen der Person« ist ein verbreiteter Kunstfehler (Kalvelage 2014)
Je nach Bildung, Informiertheit und sozioökonomischem Status fallen viele Menschen durch unser medizinisches Versorgungsnetz. Dieses ist auf die bürgerliche Mehrheit der Gesellschaft zugeschnitten, der die meisten Protagonisten der Medizin selbst entstammen. Die Folge sind Verständigungsprobleme (Migration, Illiteralität) und Unverständnis, weil die sozialen Verhältnisse (Armut, Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Erziehungsprobleme, Desinformation uva.) nicht wahrgenommen werden. »Arme« sterben zehn Jahre früher (Lampert 2007), ein erheblicher Teil davon in einem medizinisch vermeidbaren Zusammenhang: 80.000 Todesfälle vor dem 75. Lebensjahr wären jährlich in Deutschland vermeidbar (in der EU 600.000 von insgesamt 1,6 Mio.) – wohlgemerkt nicht durch Präventionsmaßnahmen, sondern durch eine gezielte Ausrichtung von Praxen und Krankenhäusern auf die Kranken der besonders gefährdeten Gruppen der Gesellschaft (s.o.) – ein eklatantes Qualitätsdefizit der Versorgung mit sozialem Sprengstoff! (siehe: Eurostat 2018)
Ein niedriger sozialer Status führt schnell zur Etikettierung »Incompliance«. Der – hinter dem Nichtbefolgen ärztlicher Empfehlungen verborgene – Widerstand der Patient*in, ihr Nichtverstehen, die nicht an- und ausgesprochenen Ängste, die Überforderung, die sozialen Nöte und Zwänge können so nicht Eingang finden in ein individuelles, u.U. vom Routine-Standard abweichendes, für ihn/sie passendes Versorgungskonzept. Nötig ist eine bewusst ungleiche Behandlungsplanung, Ziel, die gleiche Qualität so zu erreichen. Die Verantwortung dafür wird nicht selten zu Politik und Krankenkassen hin verschoben, gelegentlich mit dem (un-) ärztlichen Hinweis auf die Nichthonorierung des angeblich zu großen Aufwandes der deshalb unterlassenen Hilfeleistungen.
Fazit
Dem Patienten tritt kein Arztbild entgegen. Als Ikone oder Popanz ist es nicht fähig zu Wandlungen. Leibhaftige Ärzt*innen müssen aus dem starren Rahmen steigen, sich an die Seite ihrer Patient*innen stellen. Solch ein dynamisches Gruppenbild ermöglichte echte Beziehungen und eine bessere Kooperation aller Gesundheitsberufe. Das wäre ein erster Schritt zu einem Wandel.
Dr. Bernd Kalvelage, Facharzt für Innere Medizin / Diabetologie, ; war fast 30 Jahre in Hamburg-Wilhelmsburg niedergelassen, hat Konflikte mit einigen Interessen in der Medizin, aber keine Interessenkonflikte.
Literatur
- Ärztezeitung online (18.9.2017), Leserumfrage zur Bundestagswahl 2017, https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/943369/umfrageergebnisse-aerzte-zeigen-grossen-koalition-rote-karte.html
- Unschuld, P.: »Der Patient als Leidender und Kunde«, Dtsch. Ärzteblatt 103 (17): A1136-8, 2006
- Ariely, D.: »Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen«, München 2008
- Spijk, P. van: »Was ist Gesundheit. Anthropologische Grundlagen der Medizin«, Freiburg 2011
- Rhode, JJ.: »Soziologie des Krankenhauses«, Stuttgart 1962
- Shem, S.: »House of God«, Stuttgart 1996
- Storcks, H., Fliege, A.: »Human Branding – Der Arzt als Marke«, KU Gesundheitsmanagement 8: 31-34, 2013
- Kühn, H.: »Patient-Sein und Wirtschaftlichkeit«, in: Jahrbuch für kritische Medizin 42, 2005
- Deppe, H-U.: »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«, Frankfurt/M 1987
- Kalvelage, B.: »Klassenmedizin«, Berlin 2014
- Lampert, T., Kroll, LE., Dunkelberg, A.: »Soziale Ungleichheit der Lebenserwartung in Deutschland«, Politik Zeitgeschichte 42/2007, S. 11-18
- Eurostat: »Amenable and preventable deaths of residents«, Juni 2018, in: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/pdfscache/41683.pdf, zugegriffen 24.05.2019
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ärztliches Selbstverständnis heute, 2/2019)