GbP 4-2019 Helmers

Mein ärztliches Selbstverständnis und Selbstbild

Von Kai-Uwe Helmers

Im Deutschen Ärzteblatt, regionalen Ärzteblättern und auch Zeitschriften der Kassenärztlichen Vereinigungen, sowie in den Zeitschriften der meisten Verbände, wird ein Selbstbild entwickelt, welches häufig falsch, teils reaktionär und häufig selbstüberhöhend ist. Es dient mehr der Werbung und der politischen Agitation.

Von ärztlicher Seite wird dabei besonders im ambulanten Bereich gerne mit der dem Arzt-Sein innewohnenden Unabhängigkeit argumentiert. Die »ärztliche Autonomie« drohe verloren zu gehen – sei es hierzulande durch staatliche Eingriffe und »drohende Staatsmedizin« oder durch die »Verknechtung« der ärztlichen »Heilkunst« durch die Wissenschaften oder durch ökonomischen Druck. Zu verstehen ist die Entwicklung nur im historischen Kontext eines Gesundheitswesens in einer modernen kapitalistischen Gesellschaft.

Zur Öffentlichkeitsarbeit der niedergelassenen Ärzt*innen gehört die Betonung der Nähe zu den Patient*innen und es wird herausgestellt, wieviel und was ärztlicherseits alles getan wird für die ambulante Versorgung. In den ärztlicherseits geführten Kämpfen geht es aber in der Regel nicht um Verbesserungen für Kranke, sondern um die Verbesserung der Einkommen der Ärzt*innen. Diese Forderungen werden sehr geschickt verfolgt, sodass – trotz der tragenden Rolle deutscher Ärzte im Nationalsozialismus – die Einkommen der Niedergelassen in der Bundesrepublik erheblich stiegen, insbesondere im Verhältnis zur Einkommensentwicklung in der übrigen Gesellschaft (bis in die 70er eine Verzehnfachung gegenüber einer Vervierfachung im Durchschnitt). Auf Regulierung ihrer Einkommen reagierte die niedergelassene Ärzteschaft mit Empörung und weiterer Kommerzialisierung: Es wurden Privatpatient*innen umworben, IGe-Leistungen erfunden und andere Geschäftsfelder entwickelt.

Dass die organisierten ambulant tätigen Ärzt*innen ihr finanzielles Interesse mit großem Geschick verfolgten, wurde und wird ärztlicherseits gerne kaschiert. Erich Wulff, Psychiater und als Professor für Sozialpsychiatrie bis 2003 tätig, schreibt dazu: »Die Mystifizierung der Arzt- Patient-Beziehung scheint mir also kein Zufall zu sein, sondern eine Notwendigkeit, die sich aus der Situation ergibt, ökonomischen Motiven folgen zu müssen und diese doch zu verleugnen«. Und im Weiteren heißt es: »So erscheint es mir beinahe ein Euphemismus, zu sagen, daß das Vergütungssystem die Arzt-Patient-Beziehung beeinflußt. Finanzielle Motive beeinflussen die Prioritäten und wirken sich so auf Entscheidungen aus, die nach der ärztlichen Berufsethik lediglich vom Wohle des Patienten abhängig gemacht werden dürften. Sie bringen den Arzt auch dazu, dem Eide des Hippokrates entgegen zu handeln, der von ihm verlangt, reiche und arme Kranke genau gleich zu behandeln. Derartige Anklagen sind allerdings schon häufig geäußert worden. Als bloße Fest­stel­lungen sind sie nahezu wertlos. Es muß darum gehen zu zeigen, auf welche konkrete Art und Weise ein ganz bestimmtes Vergütungssystem, dasjenige der Krankenkassen in der BRD, die Motive des ärztlichen Handelns beeinflußt, wie dadurch Prioritäten verschoben werden, wie dadurch die Gefahr entsteht, daß sowohl die rationale als auch die affektive Seite des Arzt-Patient-Verhältnisses zu einem Handelswert wird. Erfahrungsgemäß ist die individuelle Moral für eine ganze Berufsgruppe nur ein sehr schwacher Halt gegen die sich bietenden ›Versuchungen‹« (Erich Wulff 1971).

Ökonomisierung und Ethikboom

Im ökonomischen Transformationsprozess der letzten drei Jahrzehnte boomte die Medizinethik; ihr Ausbau entsprach dem Bedürfnis nach Entlastung und Verantwortungsabgabe der Akteur*innen. Moralische Belastungen entstehen beispielsweise durch eine zu schnelle Entlassung (»blutige Entlassung«) aus dem Krankenhaus, sehr häufiges Durchführen von gewinnträchtigen Interventionen wie Wirbel­säu­lenoperationen oder Herzkatheter-Untersuchung in der eigenen Krankenhausabteilung, ohne wirklich überzeugt zu sein, dass es medizinisch notwendig ist, oder auch ganz direkt in den Chefarztverträgen die Vorgabe von Quoten für durchzuführende Interventionen. Schlimm genug, so zu arbeiten und solche Dinge zu verrichten, aber das auch noch verantworten zu müssen, ist nicht erträglich, könnte etwa der unbewusste Tenor einer solchen Stimmung sein. Die Art des voluntaristischen Moralismus ist eine verbreitete und konsequenzlose Art der Entlastung. Hagen Kühn schreibt hierzu 2007: »Bereits die Unterstellung einer moralischen Sicherheit in der enorm widersprüchlichen Realität des ökonomisierten Gesundheitswesens ist hier unmoralisch, denn sie führt zur falschen Entlastung der unter Anpassungszwängen stehenden individuellen Ärzte von der Verantwortung.« Die Medizinethik folgte in der Vergangenheit häufig bloß affirmierend und stabilisierend dem ökonomischen Transformationsprozess. Richtig ist jedoch, die Strukturen für die Verhältnisse verantwortlich zu machen, Missstände zu benennen und eine Entlastung durch Veränderung herbeizuführen und entsprechend die Ärzt*innen dazu zu ermutigen und zu befähigen (empowerment). Auch wenn Verhältnisse nicht ad hoc geändert werden können, können diese über kurz oder lang gemeinsam positiv beeinflusst werden.

Eine entlarvende und befremdliche Redewendung ärztlicherseits ist die Beschreibung der Arbeit in der unmittelbaren Versorgung als Tätigkeit an der »Versorgungsfront« oder auch »Patientenfront«. Zum einem entlarvend, weil hier in einem Kriegsjargon gesprochen wird: An der Front stehen sich Feinde gegenüber. Zum anderen befremdlich, denn damit wird eine Distanz und Entfremdung von den Hilfesuchenden deutlich, die sicher die Kernmotivation der Ärzt*innen, Menschen helfen zu wollen, nahezu unkenntlich macht. Es ist Ausdruck von Entmenschlichung. Spätestens bei dem Gebrauch einer solchen Sprache sollten die Strukturen, die dazu führen, hinterfragt werden.

Fraternisierung statt Frontgerede

Ein menschlicher Beziehungsmodus muss von der Egalität bestimmt werden und dort, wo von der Versorgungsfront oder auch Patiententfront gesprochen wird, sollte eine Fraternisierung stattfinden. All das aber, ohne die Asymmetrie der Beziehung und die unterschiedliche Verantwortung zu leugnen und ohne sich als Helfender in dieser Art der Beziehung aufzugeben und nicht ohne auch für sich selbst zu sorgen.

In der primärärztlichen Versorgung begleiten wir Menschen über lange Zeit und kennen sie in ihren biopsychosozialen Bezügen. Diese Sicht führt jedoch auch dazu, Menschen generell umfassender zu sehen, unabhängig von der zeitlichen Dimension der Beziehung weitet sich so unser Horizont. So kann sich ein breiter und auch gesellschaftspolitischer Bezug in der Primärversorgung und in der Medizin entwickeln.

Aber die letzten drei Jahrzehnte sind durch die Ökonomisierung und Kommerzialisierung und damit inhaltliche Entwertung sozialer Arbeit gekennzeichnet, was insbesondere deutlich in der Medizin zu sehen ist (siehe insbesondere die beiden letzten Nummern der GbP). Anstatt dass sich interprofessionelle und interdisziplinäre primärärztliche Zentren entwickelten, haben z.B. MVZ und spezialisierte Praxen in der ambulanten Medizin »Rosinenpickerei« mittels lukrativ vergüteter Interventionen betrieben, während die sprechende Medizin weiter zurückgedrängt wurde. Es fließt in der ambu­lanten Medizin viel Geld in Herzkatheter-Untersuchungen, in bildgebende Verfahren usw., also in eine spezialisierte Überversorgung. Mit entsprechender Ausbildung und mehr Zeit in dem unmittelbaren Kontakt mit den Patient*innen könnte eine erheblich bessere Medizin gemacht werden.

So ist die (haus)ärztliche Tätigkeit nicht ohne einen umfassenden Blick möglich. Eine Leitschnur kann die egalitäre fraternisierende Beziehungsgestaltung sein. Handelt es sich in der Versorgung um eine akute Intervention, ist die Behandlung relativ einfach. Meist jedoch liegen die Dinge kom­plexer. So müssen Kranke geschützt werden vor Überversorgung und ökonomischer Ausbeutung mittels IGeL-Angeboten. Auf der anderen Seite ist es auch notwendig, darauf zu achten, dass behandelbare Erkrankungen auch entsprechend behandelt werden. Es gehört jedoch auch dazu, auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten und fehlende Behandlungsnotwendigkeiten zu achten. Schließlich sind sehr viele krankmachende Faktoren von uns kaum zu beeinflussen, wie Überlastung bei der Arbeit und im sozialen Leben durch bestehende Geschlechter- und Klassenverhältnisse. Das jedoch lässt sich jedoch auch benennen und vertieft damit das therapeutische Bündnis und kann auch zu unvorhergesehenen Lösungen führen.

Durch Strukturänderungen und Einbeziehung anderer medizinischer Berufe in die Primärversorgung, die eben nicht alleine von Ärzt*innen geleistet werden sollte, könnten sicher zahlreiche Spezialisten überflüssig gemacht werden bzw. deren Tätigkeiten in primärärztliche Tätigkeiten überführt werden. Die Versorgung könnte dem Bedarf so besser gerecht werden, sie sparte Ressourcen und könnte mit seinem horizontalen, egalitären, interprofessionellen und interdisziplinären Ansatz in der heutigen Gesellschaft beispielgebend wirken.

Eine humane Medizin ist ein realistisches Zukunftsprojekt!

Kai-Uwe Helmers ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Hamburg und Mitglied der vdää Regionalgruppe Hamburg.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ärztliches Selbstverständnis heute, 2/2019)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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