GbP 4-2019 Deppe

Bündnispartner oder Gegner im Klassenkampf?

Hans-Ulrich Deppe zur Soziologie des niedergelassenen Arztes (1976)

Wir dokumentieren hier – als Gegensatz und Ergänzung zum Text von Mareike Ledigen – einen Ausschnitt aus einem Buch von Hans-Ulrich Deppe aus dem Jahr 1976, in dem er Probleme einer sozialökonomischen und politischen Analyse diskutiert. Das hier formulierte Forschungsprogramm hat unseres Erachtens nach wie vor Gültigkeit und müsste aus der heutigen gesellschaftlichen Situation heraus erneut angegangen werden.

Die sozialökonomische Analyse, die den Anspruch erhebt, soziale Wirklichkeit zu erfassen, kann sich nicht darauf beschränken, soziale Merkmale und Erscheinungen des niedergelassenen Arztes – wie Anzahl, Verteilung, Einkommen, Arbeitsbedingungen, Erwartungen etc. – lediglich zu beschreiben. Sie ist dabei vielmehr angewiesen, sowohl die Ermittlungsvoraussetzungen solcher empirischer Befunde als auch deren Interpretation mit Aussagen über gesamtgesellschaftliche Verhältnisse zu verbinden, wobei die empirisch nachweisbaren Phänomene als notwendiger Ausdruck sozialökonomischer Strukturen und Prozesse zu begreifen sind. Im Folgenden wird daher von den Eigentums- und Aneignungsverhältnissen als dem materiellen Kern der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie deren Entwicklung ausgegangen. Diese bestimmen nämlich die Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über den Gang der Produktion, also die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, ebenso wie die Art der Erlangung und die Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum. Sie geben damit den Rahmen für die sozialstrukturelle Zuordnung gesellschaftlicher Gruppen und bilden die sozialökonomische Grundlage für deren politische Einschätzung.

Ein wesentliches Ziel der ökonomischen Koalition von Ärzteschaft und Kapital besteht darin, die – infolge eines verstärkten Gesundheitsverschleißes, des wachsenden Teils der alten Bevölkerung und des inzwischen eingetretenen wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Medizin – notwendig gewordene Steigerung der Gesundheitskosten von sich fernzu­halten und den Sozialversicherten voll aufzubürden. Über diese ökonomische Koalition hinaus besteht zwischen den Organisationen der niedergelassenen Ärzte und des Kapitals auch eine grundsätzliche politisch-ideologische Interessenidentität, die sich darauf konzentriert, jedem Ansatz von Vergesellschaftung mit dem Argument der »Freiberuflichkeit« entgegenzutreten.

Gesundheitskosten werden wie alle Sozialkosten mit der Verschärfung ökonomischer Krisen für den Prozeß der Kapitalverwertung zur Last, so daß das Kapital in solchen Zeiten zu einem verstärkten Abbau dieser indirekten Lohnkosten tendiert indirekten Lohnkosten tendiert. Diese Tendenz zur Aufweichung des Kartells von Ärzteschaft und Kapital in wirtschaftlichen Krisen kann sich jedoch mit zunehmender Politisierung ökonomischer Widersprüche auch wiederum genau in ihr Gegenteil verkehren – und zwar dann, wenn sich aufgrund der Einsicht der Lohn- und Gehaltsabhängigen in ihre sozialökonomische Lage eine Bewegung in Gang setzt, die das Kernprinzip solcher Krisenerscheinungen – nämlich das private Eigentum an den Produktions­mitteln – in Frage stellt. In solchen Perioden geschichtlicher Entwicklung neigen selbständig praktizierende Ärzte – wie die gesellschaftlichen Zwischenschichten überhaupt – infolge einer Verunsicherung ihrer spezifischen wirtschaftlichen Existenzform verstärkt dazu, staatlich-autoritäre Vorstellungen aktiv zu unterstützen. Insgesamt sind selbständig praktizierende Ärzte in ihren politischen Anschauungen als eine äußerst anfällige Gruppe einzuschätzen.
Mit zunehmender Entwicklung medizinischer Großinstitutionen im ambulanten Sektor ist damit zu rechnen, daß hier eine langsame Teilung der Ärzte in Eigentümerärzte und abhängig arbeitende Ärzte einsetzen wird, die dann die materielle Grundlage für die gewerkschaftliche Organisierung von Ärzten über das Krankenhaus hinaus auch in den ambulanten Bereich verbreitert. Dies wird jedoch voraussichtlich noch Jahre dauern.

Auf diesem Hintergrund – der weitgehend bestehenden ökonomischen und politischen Interessenidentität von Ärzteschaft und Kapital einerseits und der zunehmenden Entwicklung der medizinischen Produktivkraft mit ihrer Tendenz, das ärztliche Arbeitsverhältnis qualitativ zu verändern, andererseits – ist der politische Stellenwert der niedergelassenen Ärzteschaft zu diskutieren und einzuschätzen. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, ob der niedergelassene Arzt objektiv politischer Bündnispartner der Klasse der Lohn- und Gehaltsabhängigen sein oder werden kann.

Es ist sicherlich nicht richtig, die niedergelassene Ärzteschaft generell und undifferenziert mit den dominierenden Fraktionen des Kapitals voll zu identifizieren, denn es konnte gezeigt werden, daß die Privilegien der niedergelassenen Ärzte als ökonomische Subventionen von seiten des Kapitals zu verstehen sind. Hinzu kommt, daß die Herkunft des ärztlichen Einkommens in der Niederlassung zu einem nicht unwesentlichen Anteil auf dem Einsatz der eigenen qualifizierten Arbeitskraft beruht.

Andererseits wäre es gleichwohl eine politische Fehleinschätzung, den selbständig niedergelassenen Arzt, nur weil er nicht zur monopolistischen Fraktion des Kapitals gehört oder weil es bei seiner Arbeit gar um Gesundheit geht, schon als Bündnispartner der Arbeiterklasse zu betrachten, Solche Positionen blenden die tatsächlich bestehende strukturelle ökonomische und ideologische Koalition von Kapital und Ärzteschaft – wie sie sich gegenwärtig besonders deutlich im Kampf um die »Selbstbeteiligung« und die Privatisierung öffentlich kontrollierter Bereiche des Gesundheitswesens zeigt – voluntaristisch aus ihrem Gesichtskreis aus.

Die Hypostasierung von Gesundheit, dem Arbeitsziel ärztlicher Tätigkeit, als Ausgang der politischen Einschätzung von niedergelassenen Ärzten, die in dieser Position immer wieder zum Ausdruck kommt, führt nicht selten dazu, daß Wille und Moral losgelöst von den materiellen Bedingungen als treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung angesehen werden. Deshalb kennzeichnen sich solche gesundheitspolitischen Aktivitäten auch gelegentlich durch ihr schlichtes Appellieren an eine tendenziell abstrakte Humanität, die freilich dem Bewußtsein vieler Ärzte entgegenkommt. Insofern ist es auch durchaus möglich, daß dieses politische Vorgehen kurzzeitige, pragmatische Erfolge erzielt. Die langfristige Wirkung ist jedoch in Frage zu stellen, wenn es nicht gelingt, die dafür verantwortlichen, allgemeinen sozialökonomischen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten (nicht nur als abstrakte Losungen!) in ihrer spezifischen Vermittlung zu erkennen, transparent zu machen und sie in die täglichen gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen einzubeziehen.

Die politische Einschätzung des niedergelassenen Arztes als Teil der gesellschaftlichen Zwischenschichten hat von der Analyse der Art und Weise seiner gesellschaftlichen Arbeit, deren Charakter wesentlich von den spezifischen Wirkungszusammenhängen des berufsständisch-privaten Eigentums geprägt wird, auszugehen. Da diese Arbeit Elemente der Kapitalverwertung enthält, ohne daß sie bereits vollständig unter das Kapitalverhältnis subsumiert werden kann, ist die politische Zusammenarbeit ambivalent. Es ist für die Arbeiterbewegung in Zeiten ökonomischer und politischer Krisen notwendig zu verhindern, daß die Ärzteschaft voll auf die ideologische Seite des Großkapitals getrieben wird.

Insgesamt sind die Ärzte, als Teil der gesellschaftlichen Zwischenschichten, für die Analyse aktueller gesellschaftlicher – insbesondere jedoch gesundheitspolitischer – Veränderungen ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Denn Zwischenschichten tendieren teilweise zu den Vorstellungen der Arbeiterbewegung, sind allerdings zugleich auch nach wie vor das Rekrutierungsfeld bzw. Bündnispartner für die Unternehmerschaft.

Die vorliegende Arbeit erhebt keineswegs den Anspruch, alle Elemente der Politisierung des Bewußtseins von niedergelassenen Ärzten zu erfassen. Es geht hier vielmehr darum, aufzuzeigen, welche Bedeutung den wesentlichen sozialökonomischen Bedingungen der ärztlichen Arbeit, die von dem Grad der Vergesellschaftung des spezifischen Eigentums an den Produktionsmitteln maßgeblich geprägt wird, für die Entwicklung des politischen Bewußtseins von niedergelassenen Ärzten beizumessen ist und wie sich diese Bedingungen auf ihr politisches Verhalten auswirken können.

Hans-Ulrich Deppe ist Arzt und Soziologe, er war bis 2004 Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie im Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist bis heute Mitglied im erweiterten Vorstand des vdää.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ärztliches Selbstverständnis heute, 2/2019)


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