Gefährdet statt gefährdend
Von Andreas Wulf
Andreas Wulf diskutiert - von Traumatisierungen über Massenscreenings bis zu einer Karte für alle - wie Migration und Flucht mit Gesundheit zusammenhängen - und wie nicht.
Im März 2018 brachte die AfD im Bundestag eine kleine Anfrage über die Entwicklung der Krankheitszahlen von Malaria, Lepra, Typhus, Rückfallfieber, HIV sowie Krätze in Deutschland ein - bitteschön aufgeschlüsselt nach ethnischen Kriterien. Die Absicht war offenkundig. Denn obwohl seit 2015 keine relevanten Erhöhungen von Infektionskrankheiten für die Allgemeinbevölkerung zu verzeichnen ist und es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, solche rechtspopulistische Stimmungsmache zurückzuweisen, soll die Anfrage Bilder und Phantasien mobilisieren und damit diffuse Ängste befeuern. Neu ist das keineswegs. Immer schon gab es Tendenzen, Migration als gesundheitliche Gefährdung darzustellen - als Mittel ihrer Abwehr oder als Anlass für die Etablierung von diskriminierenden Sicherheitspolitiken.
Historisch waren es die großen Pestepidemien, in denen schon früh Kontrollstrategien der Zuwanderung zu Städten und Ländern entwickelt wurden. Diese wurden im Zeitalter der von Europa ausgehenden kolonialen Durchdringung der Welt angesichts sich global ausweitender Cholera-Epidemien und lokalen Bedrohungen für die Kolonialtruppen und -Beamten wie Gelbfieber, Schlafkrankheit und Malaria zu den modernen Konzepten von Quarantäne und Cordon Sanitaire perfektioniert. In diesen verstetigten sich - nicht zuletzt »im Dienste der Krankheitsabwehr« - administrative Ad-hoc-Maßnahmen zu systematischer Segregation von »wilden«, bedrohlichen Einheimischen und »zivilisierten« Kolonialisten in separaten Stadtvierteln.
Die Krankheit der anderen
Die Ursache von Krankheiten nach außen zu verlagern, dazu dienen Geschlechtskrankheiten mit ihrem »moralischen Überschuss« besonders gut - ein Prozess, den die moderne Soziologie »othering« nennt. Die Syphilis galt Jahrhunderte lang als die klassische Krankheit »der Anderen«, als »Import« rückkehrender Kolonisten. In den historischen Debatten repräsentierte sie die sexual-moralische Verwerflichkeit der amerikanischen Ureinwohner*innen. Auch innerhalb Europas wurde sie als Krankheit den fremden Soldaten zugeschrieben. Syphilis war die »französische Krankheit« im italienischen Neapel 1494/95 nach der Eroberung durch französische Truppen, in Frankreich wurde Syphilis die »Italienische Krankheit«, die Niederländer nannten sie im Unabhängigkeitskampf des 16. Jahrhunderts die »Spanische Krankheit«, bei den Russen hieß sie die »Polnische Krankheit« und im Osmanischen Reich die »Krankheit der Christen«.
Die aktuellen weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen werfen Fragen nach Gesundheit (und Krankheit) auf vielfältige Weise auf. Angesichts der beschriebenen Traditionslinie überrascht es nicht, dass Migration dabei als potentiell gefährlich, weil Krankheiten mit sich bringend, gedeutet wird. Tatsächlich sind Migrant*innen und Flüchtlinge nicht gesundheitsgefährdend, sondern -gefährdet. Weltweit sind es das physische und psychische Wohlergehen massiv schädigende und das Leben bedrohende Situationen und Verhältnisse, die Menschen zum Aufbruch bewegt, von Krieg und Gewalt über Ernährungsunsicherheit und vergiftete Umwelten bis zu zerstörerischer Ausbeutung. Auf den Flucht- und Migrationsrouten sind die Gesundheitsgefahren enorm, neben physischen Entbehrungen und psychischen Strapazen erleben viele unmittelbare Gewalt und Brutalität.
Ver-Lagerung der Flucht
Flüchtlingskrisen etwa in Ostafrika, rund um Syrien, oder in Bangladesch mit den Rohingya-Flüchtlingen sind tendenziell auf Dauer gestellt. Für Millionen Menschen bedeutet es ein jahrelanges Leben im Flüchtlingslager oder unter extrem armseligen Verhältnissen in Ländern, in denen sie nicht bleiben können. Hier gibt es zwar einen schmalen Zugang zu Gesundheitsdiensten, auch medico international unterstützt beispielsweise die Gesundheitsdienste von Partnern in den Rohingya-Zeltstädten oder mobile Einrichtungen der Flüchtlingsgesundheitsversorgung im Libanon. Die Ver-Lagerung der Flucht schafft hochproblematische »extraterritoriale Gebiete« mit Sonderregeln und Zugangskontrollen. Das verschärft die Isolation von Geflüchteten, statt sie zu integrieren. Gerade deshalb sind die aktuellen Diskussionen in Deutschland um die Seehoferschen »Anker-Zentren« so gefährlich. Lager sind Teil des Problems auch im gesundheitlichen Kontext und nicht Teil der Lösung.
Auch am Ende der Reise ist es um die die physische und psychische Sicherheit sowie die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen und Migrant*innen oft schlecht bestellt. Illegalisierte fallen durch alle Netze, Geduldete verfügen über eingeschränkte Rechte. Diese harsche Realität steht im Gegensatz zu den Ansprüchen, die die Staaten auf der globalen Ebene der Gesundheitspolitik formulieren. Die Dokumente der Weltgesundheitsorganisation, die als Resolutionen auch im verhandelten Konsens von den Mitgliedstaaten der WHO angenommen werden, benennen das »Recht auf Zugang zu Gesundheit« und die universelle Absicherung im Krankheitsfall auch für Migrant*innen sowie für Geflüchtete als Zielvorgaben einer globalen Gesundheitspolitik, die jeder Mitgliedsstaat umsetzen soll. Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit könnte größer kaum sein.
In Deutschland hat der kurze »Sommer der Migration« 2015 die Debatten um die gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten und Migrant*innen in Bewegung gebracht - auch hier in der Janusköpfigkeit von potenziellen Gefährdern und Gefährdeten. In der Sorge, mit den Geflüchteten könnten Infektionskrankheiten ins Land gekommen sein, wurden etwa in Erstaufnahmelagern Massenscreenings durchgeführt. Das löste eine Diskussion über deren Umfang und Sinnhaftigkeit aus. Tropenmediziner*innen bezogen Stellung gegen eine unkritische Überdiagnostik hinsichtlich exotischer Krankheiten, Fachleute aus der Pädiatrie veröffentlichten eine eindeutige Stellungnahme zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen, in der sie Gesundheitslotsen statt Massenscreenings forderten.
Eingeschränkter Zugang
Auch in anderer Hinsicht zeitigte der Sommer der Migration überraschende Effekt: So gerieten die im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylBLG) festgelegten Einschränkungen der Gesundheitsversorgung auf breiter Front massiv in die Kritik. Mitte Juli 2018 hat etwa das Hessische Landessozialgericht starke verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich der gängigen Praxis geäußert: Geduldete müssten bei einem Aufenthalt, der nicht nur kurzfristig ist, den gleichen Anspruch auf alle medizinischen Leistungen haben, die auch für Deutsche laut dem Krankenkassengesetz gelten. Studien wie die von Bozorgmehr und Razum widerlegten den Mythos, die durch das AsylBlG bestimmte Mangelversorgung wirke kostensparend, und zeigten, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Gesundheitsausgaben erhöhen sich durch die Leistungseinschränkungen.
Seit vielen Jahren setzen sich die Medibüros und Medinetze in Deutschland für Menschen ohne zureichenden Krankheitsschutz ein. Mit ihrer von medico unterstützten Kampagne fordern sie die Einführung der Gesundheitskarte für alle Geflüchteten anstelle von individuell bei der Kommune zu beantragenden Behandlungsscheinen. Immerhin: Einige Bundesländer und Stadtstaaten haben entsprechende Karten eingeführt, andere die Zuständigkeit an die Kommunen delegiert. Von einer flächendeckenden Versorgung kann allerdings nach wie vor keine Rede sein. Noch immer sperren sich Bundesländer und gibt es einen Flickenteppich regional ganz unterschiedlicher Regelungen - mit der Folge, dass eine Person aus einer Kommune eine ganze andere Gesundheitsversorgung erhält als eine andere Person aus der Nachbarkommune.
Auch von der psychischen Versorgung bleiben viele ausgeschlossen. Eine Vielzahl von Geflüchteten sind aufgrund traumatisierender Erfahrungen auf Unterstützung angewiesen. Hierfür bedarf es entsprechender Angebote. Die bundesweit 37 spezialisierten Psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer, wie sie im BAfF zusammengeschlossen sind, tun, was sie können - ihre Ressourcen sind allerdings begrenzt. Einer aktuellen Erhebung des BAfF zufolge kann nur ein Bruchteil der Geflüchteten, die eine Behandlung oder Beratung anfragen, versorgt werden. Die Kapazitätsprobleme der Zentren sind eng mit der eingeschränkten Zugänglichkeit des Gesundheitssystems für Geflüchtete verbunden. So werden 93 Prozent der Psychotherapien in den Psychosozialen Zentren durch Projekt- und Spendengelder sowie in der Regel zeitlich begrenzte Zuschüsse aus Bundes- und Landesmitteln finanziert und nicht durch die eigentlich verantwortlichen Kostenträger des Gesundheits- und Sozialsystems, d.h. die Sozialbehörden, die Krankenkassen und die Jugendämter. Als sei die gesundheitliche Versorgung ein humanitärer Akt und nicht ein Menschenrecht.
Der Zugang zu medizinscher und therapeutischer Versorgung kann für Geflüchtete auch deshalb elementar sein, weil gesundheitliche Einschränkungen Abschiebhindernisse darstellen können. Hierzu müssen Betroffene allerdings von sich aus auf Krankheiten hinweisen und sie durch eine, nur mit großem Aufwand zu bekommende qualifizierte ärztliche Bescheinigung belegen. Das wird jedoch immer schwieriger - zumal der Gesetzgeber 2016 mit dem Asylpaket II die Maßstäbe noch einmal deutlich verschärft hat: Nur noch »lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden«, sollen eine Abschiebung verhindern können. Selbst bei Posttraumatischen Belastungsstörungen sind Abschiebungen seither möglich. Ärztinnen und Psychotherapeuten kritisierten dies scharf. Der Kampf um das Recht auf bestmöglichen Gesundheitsschutz und die Integration aller in die Regelversorgung - gleichberechtigt und bedarfsgerecht auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung - geht also weiter.
Andreas Wulf ist Arzt, Mitglied des Vorstands des vdää und arbitet für medico international in Frankfurt/M.
Die Langfassung des Textes ist zu finden unter: https://www.medico.de/gefaehrdet-statt-gefaehrdend-17162/
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ökonomisierung und Privatisierung international, 1/2019)