Rettet die Pflege!
Das Volksbegehren bleibt unverzichtbar gegen den Pflegenotstand
Peter Hoffmann erläutert hier die gesundheitspolitischen Hintergründe der Volksbegehren zum Pflegenotstand. Auch wenn der Text für Bayern geschrieben ist, gilt die Argumentation in allen anderen Ländern ebenso.
Mit dem Volksbegehren wollen wir umsteuern und dem Pflegenotstand an bayerischen Krankenhäusern abhelfen. Dafür muss vor allem anderen der Pflegeberuf wieder attraktiv gemacht werden - mit Arbeitsbedingungen, die eine sinnstiftende Tätigkeit in der Pflege wieder ermöglichen und mit einem guten Gehalt. Entlastung ist für die Pflege nicht zu erreichen ohne eine gesetzlich vorgeschriebene Personalrelation von Pflegepersonal zu Patient*innen. Kernpunkt unseres Volksbegehrens ist also die gesetzliche Verpflichtung der Krankenhäuser auf ausreichend Pflegepersonal auf den Krankenstationen.
Mit diesem Text erklären wir, was die vom Minister verordneten Personaluntergrenzen und das Pflegepersonalstärkungsgesetz für die Krankenhäuser bringen und was nicht.
Unser Fazit: Nur die Kombination aus Spahnschem Pflegepersonalstärkungsgesetz und diesem Volksbegehren kann die erhoffte Wende zum Besseren bringen!
Unsere wichtigsten Kritikpunkte an den Spahnschen Gesetzen sind:
- Alle sind sich einig: Ohne Entlastung der Überlasteten, ohne eine Chance auf gute und befriedigende Berufsausübung in der Pflege wird in Zukunft kaum mehr jemand freiwillig diesen Beruf ergreifen. Die Bundesregierung hat wiederholt versprochen, die katastrophalen Arbeitsbedingungen zu verbessern und eine Personalbemessung für alle Bereiche einzuführen. Aber sie hat ihre Versprechungen wieder nicht eingelöst.
- Eine Personaluntergrenzenregelung für Pflegepersonal, die für nur vier Fachbereiche gilt, selbst dort nur ein absolutes Minimum vorschreibt statt einer Besetzung, die gute Pflege erlaubt, und obendrein Tricksen erlaubt, indem u.a. Personal zum Frisieren der Zahlen hin- und hergeschoben werden darf: Eine solche Regelung missachtet das Wohl von Patient*innen und Pflegenden.
- Wie bisher wird der tatsächliche Pflegebedarf von Patient*innen weiterhin in den gesetzlichen Neuregelungen an keiner Stelle erfasst und berücksichtigt. Stattdessen wurden die Vorgaben für Zahlenrelationen Personal zu Patient*innen willkürlich und auf Basis der jetzigen alltäglichen Unterversorgung festgelegt. Es fehlt somit die objektive Grundlage.
Personal-Untergrenzen für die Pflege - Vorgeschichte
Der Gesundheitswissenschaftler Prof. Schreyögg legte Ende 2016 im Auftrag des damaligen Gesundheitsministers Gröhe eine Untersuchung zu der Frage vor, in welchen Fachgebieten pflegerische Unterbesetzung nachweislich mehr Komplikationen verursacht. Die Studie beschrieb einen statistischen Zusammenhang für 15 medizinische Fachgebiete. Wir hätten eine Antwort auf eine andere Frage für ebenso wichtig gehalten: Genügt die durchschnittliche Besetzung mit Pflegekräften dem tatsächlichen Bedarf der Patient*innen an Pflegeleistungen im Krankenhaus? Diese Fragestellung wurde aber nicht untersucht. Das InEK (Institut für das Entgeltwesen im Krankenhaus) schreibt dazu: »Der Katalog zur Risikoadjustierung für Pflegeaufwand (Pflegelast-Katalog) geht von der Annahme aus, dass der Patient während seines stationären Aufenthaltes eine pflegerische Betreuung erhalten hat, die sich an seinem individuellen Pflegebedarf orientiert und diesem weitgehend entsprochen hat.« Zu Zeiten des Pflegenotstands eine reichlich zynische Annahme.
Das Konzept
Der Gesetzgeber gab daraufhin den Spitzenverbänden von Krankenkassen (GKV-SV) und Krankenhäusern (DKG) den Auftrag, für diese Bereiche Untergrenzen für Pflegepersonal festzulegen. Diese Bereiche wurden irreführend »pflegesensitiv« genannt als wären nicht alle Patient*innen in einem Krankenhaus »pflegesensitiv«. Die Verbände vereinbarten allerdings nur für sechs medizinische Fachgebiete Untergrenzen. Dort sollte demjenigen Viertel der Krankenhäuser mit dem schlechtesten Personalschlüssel Verbesserungen abgefordert werden. Es ging also nur darum, in Zukunft in einzelnen Fachgebieten einen Anstieg von Komplikationen in extrem unterbesetzten Abteilungen zu verhindern. Damit hatte man sich von dem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, Untergrenzen für das gesamte Krankenhaus einzuführen, weit entfernt. Umgekehrt können Krankenhäuser mit vergleichsweise besserer Besetzung aus dieser Datensammlung sogar herauslesen, wo sie noch Personal abbauen können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
Die Krankenhausgesellschaft verweigert sogar die Minimallösung
Am Ende unterzeichnete die Krankenhausgesellschaft DKG nicht einmal diese Minilösung. Das dafür notwendige Pflegepersonal sei auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Das Funktionieren der Krankenhäuser sei gefährdet. Damit waren die Verhandlungen geplatzt.
Die Personaluntergrenzen von Minister Spahn
Der dynamische Gesundheitsminister hat im vergangenen Jahr verkündet: »Wir haben verstanden« - und es wurden ein Pflege-Sofortprogramm und eine großangelegte Anzeigen-Werbekampagne zum Thema gestartet. Da die Selbstverwaltung zu keiner Übereinkunft gekommen war, musste das Bundesministerium (BMG) außerdem selbst im Oktober 2018 ersatzweise diese Personaluntergrenzen für die Pflege festlegen.
Am Ende blieben nur vier von ursprünglich 15 Fachgebieten übrig. Die Personaluntergrenze in der Intensivmedizin wurde für 2019 mit 1:2,5, ab 2020 mit einer Pflegekraft pro zwei Patient*innen bestimmt. Auf geriatrischen und unfallchirurgischen Stationen »darf« eine Pflegeperson tagsüber zehn, auf kardiologischen Stationen bis zu zwölf Patient*innen versorgen, nachts sogar doppelt so viele. Ein Teil der Pflegefachkräfte darf von Hilfskräften ersetzt werden, bis hin zu einem 40 %-Anteil nachts in der Altersmedizin.
Um die Untergrenzen in den genannten vier Fachgebieten zu erreichen dürfen die Krankenhäuser Personal von anderen Bereichen abziehen, für die keine Untergrenzen bestimmt sind. Während die Versorgung für eine Gruppe von Kranken also besser wird, wird sie für andere schlechter werden.
Bei genauer Betrachtung ist die Untergrenze gar keine
Es genügt, sie im Monatsdurchschnitt einzuhalten. Da haben diejenigen Patient*innen eben Pech, die zum falschen Zeitpunkt stationär liegen, scheint sich der Gesetzgeber gedacht zu haben.
Sanktionsmöglichkeiten
Wenn ein Krankenhaus die Personaluntergrenzen nicht einhält, folgen Sanktionen. Der Bundesgesetzgeber lässt der Selbstverwaltung die Wahl zwischen finanziellen Abschlägen oder Bettensperrung. Sinnvoll ist jedoch nur das Sperren von Betten, weil damit die Relation zwischen Personal und Patient*innen wieder austariert wird. Für 2020 hat er die Verbände zudem verpflichtet, Pflegepersonaluntergrenzen auch für die Bereiche Neurologie und Herzchirurgie zu vereinbaren.
Auch der Bundesrat kritisiert dieses Konzept
»Die Personalschlüssel müssen (...) umfassend gelten. Des Weiteren ist auszuschließen, dass der Personalschlüssel auf anderem Wege - etwa durch zeitliche Beschränkungen oder die Erfüllung des Personalschlüssels durch Auszubildende oder Hilfskräfte - ausgehebelt wird. Insbesondere ist darüber hinaus wichtig, dass der Personalschlüssel ausreichend hoch ist für eine bedarfsgerechte Versorgung. Denn die Personalschlüssel sollen nicht nur Untergrenzen sein, sondern eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung ermöglichen. Hierfür ist wichtig, dass er die Relation Pflegepersonal zu Patientinnen ausreichend abbildet.«
Die Zukunft: bedarfsgerechte oder betriebswirtschaftliche Steuerung der Pflege
Im Koalitionsvertrag waren Pflegepersonaluntergrenzen ursprünglich für alle Fachbereiche der Krankenhäuser angekündigt. Stattdessen soll zukünftig eine statistische Maßzahl, genannt »Pflegepersonalquotient«, eingeführt werden. Sie soll für das jeweilige Haus das vorhandene Fachpflegepersonal in Relation setzen zum in den DRGs kalkulierten Pflegeaufwand. Zur Kalkulation dieses durchschnittlichen Pflegeaufwands innerhalb einer DRG erfassen alle Kalkulationshäuser des DRG-Systems ihren jeweiligen eigenen Pflegeaufwand. Dieser wird dann an das InEK weitergemeldet zur Berechnung des Durchschnitts und des Gesamt-Behandlungsaufwandes für die jeweilige DRG.
Bei dieser Kalkulation bleibt nach wie vor die Frage offen, ob die Pflege angemessen und ausreichend ist oder ungenügend. Jede nicht mit einer Fachkraft besetzbare Stelle, jede Stelle, die aus Profitgier gestrichen wurde, drückt die rechnerischen Durchschnittskosten für Pflege nach unten - losgelöst vom Pflegebedarf. Bei der Berechnung des Pflegepersonalquotienten werden obendrein all die unterschiedlichen medizinischen Fachbereiche in einen Topf geworfen (»Ganzhausansatz«) und daraus eine einzige Zahl errechnet. An dieser einen Zahl soll erkennbar sein, ob ein Haus üppig oder ungenügend mit Pflegekräften ausgestattet ist.
Wie aussagekräftig eine solche Zahl ist, bleibt Spekulation. Sicher aber ist: Eine Zahl erweckt immer den Eindruck unbestechlicher Präzision. Damit lassen sich politische Entscheidungen als vermeintlich »objektiv«, »sachgerecht« und »notwendig« verklären.
Worauf wir uns einstellen müssen
Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass in einer gar nicht so fernen Zukunft versucht werden wird, personell (laut Pflegepersonalquotient) vergleichsweise gut ausgestatteten Krankenhäusern das Budget zu kürzen. Bei rechnerisch schlechter Ausstattung mit qualifiziertem Personal wäre auch der Versuch denkbar, Krankenhäuser zu schließen ohne weitere Diskussion darüber, wie notwendig sie für eine Sicherstellung der Versorgung sind.
Damit wäre man, statt bei einer bedarfsgerechten pflegerischen Versorgung, auf leisen Sohlen bei einer betriebswirtschaftlichen Steuerung des Pflegebereiches anhand Benchmarks angelangt. »Nurse related groups« (NRG) unterstützen dann, vergleichbar mit den DRG, eine Pauschalierung von Entgelten, die man beliebig nach oben oder nach unten manipulieren kann, weil ihnen die einzig objektive Grundlage fehlt: der pflegerische Versorgungsbedarf der betroffenen Menschen.
Das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PpSG) - Vorgeschichte
Mit zwei Pflegestellen-Förderprogrammen sollte bereits seit 2009 die Situation in der Pflege verbessert werden. Die Voraussetzungen waren kompliziert, die Antragstellung bürokratisch, das dafür ausgelobte Budget gering. Laut Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen wurden 2016/2017 von den zur Verfügung gestellten 330 Mio. Euro nur 157 Mio. Euro abgerufen. Die Wirkung war also gering.
Das aktuelle Förderprogramm
Dem Förderprogramm geht eine kräftige Kürzung voraus: Als erstes wurden die Budgets der Krankenhäuser 2019 um 300 Mio. Euro gekürzt (Kürzung des sog. Pflegezuschlags). Dafür wird laut Gesetz in 2019 jede zusätzliche oder aufgestockte Pflegestelle, (sofern die Tätigkeit überwiegend am Bett stattfindet) in vollem Umfang von den Kassen refinanziert, zusätzlich die laufenden Gehaltserhöhungen, einschließlich struktureller Steigerungen, mit Sachgrund sogar übertarifliche Gehaltszuwächse. Die Gelder sind zweckgebunden. Für neue Stellen muss die Verwendung nachgewiesen, ansonsten muss Geld zurückgezahlt werden.
Die Zusage gilt für ausgebildetes Krankenpflegepersonal im Stationsdienst (ausgenommen Funktionsdienst, Hilfskräfte und Altenpfleger*innen). Sie gilt nicht für die anderen Berufsgruppen, die am Patient*innenbett tätig sind. Bei den neuen Pflegestellen entfallen Wirtschaftlichkeitsprüfung und Obergrenzen. Die Häuser brauchen nicht mehr 10% Eigenanteil zu bezahlen. Allerdings bedarf es einer Betriebsvereinbarung mit der betrieblichen Interessensvertretung der Beschäftigten.
Kostendeckende Pflegebudgets
2020 werden im Rahmen einer grundlegenden Systemveränderung die Pflegekosten komplett aus dem DRG-System herausgenommen und kostendeckend außerhalb des Fallpauschalensystems vergütet. Die 2019 erweiterten Stellenpläne gelten als Sockel für die Verhandlungen über Pflegebudgets des Folgejahrs für die einzelnen Häuser.
Jede Stelle wird bezahlt - Einzug ins Schlaraffenland?
Falls nicht mit Betriebsvereinbarungen gezielt und konkret Entlastung geplant wird, steht leider zu befürchten, dass zusätzliche Pflegekräfte überwiegend eingesetzt werden, um zuvor gesperrte Betten wieder zu öffnen und die wirtschaftliche Tätigkeit des Krankenhauses auszuweiten. Das Zahlenverhältnis Pflegekräfte pro Patient*innen wird so aber nicht verbessert. Eine solche Unternehmensstrategie entlastet nicht Pflegekräfte bei der Arbeit und steigert nicht die Attraktivität des Pflegeberufs. Und sie wird die Fluchtbewegung aus der Pflege nicht abmildern.
Nur die Kombination mit unserem Volksbegehren wird die Wende bringen. Das Volksbegehren nimmt den feststellbaren Pflegebedarf der konkreten Patient*innen als Bemessungsgrundlage in den Blick und erlaubt auf Basis der sog. PPR (Pflegepersonalregelung) die Kalkulation einer auskömmlichen personellen Besetzung.
Damit erst werden gute Pflege und befriedigende Tätigkeit in der Pflege wieder ermöglicht. Das Pflegepersonalstärkungsgesetz stellt die Finanzierung der dafür notwendigen Stellen sicher. Das Volksbegehren erzwingt sowohl die überfällige Personalbedarfsermittlung als auch die angemessene pflegerische Besetzung in allen Krankenhausbereichen. Nur mit der Kombination von Pflegepersonalstärkungsgesetz und bayerischem Volksbegehren lässt sich das Versprechen einer Verbesserung der Arbeitssituation in der Pflege und einer besseren Pflege für die Patient*innen wirklich einlösen.
Dass das Volksbegehren gegen das Artensterben1 die nötige Anzahl an Unterschriften nicht nur erreicht sondern bei weitem übertroffen hat, stimmt uns zuversichtlich. Wir zählen auf unsere Mitbürger*innen, mit diesem Plebiszit für eine zuverlässig bessere Pflege im Krankenhaus zu sorgen als Daseinsvorsorge in unser aller Interesse.
Peter Hoffmann
- Gemeint ist das Volksbegehren »Artenvielfalt & Naturschönheit in Bayern - Rettet die Bienen!«, https://volksbegehren-artenvielfalt.de/
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ökonomisierung und Privatisierung international, 1/2019)