GbP 1-2019 Loffreda

Wie der National Health Service privatisiert wurde

Und wie Aktivist*innen ihn retteten - von Giulia Loffreda


»Save the NHS«, »Keep our NHS public«, »Hands off the NHS« waren einige der bekannten Slogans, mit denen die Zivilgesellschaft, Aktivist*innen und Ärzt*innen beharrlich gegen den Privatisierungsprozess des NHS in Großbritannien kämpften. Dieser Artikel möchte kurz darstellen, wie der NHS finanziert und organisiert wurde, zudem die Geschichte einiger struktureller Änderungen des NHS inkl. des Privatisierungsprozesses erläutern und schließlich die Rolle einiger Aktivist*innen aufzeigen, welche ein weltweites Vorbild im Widerstand gegen kommerzielle Interessen wurden.


Wie der NHS ursprünglich finanziert wurde

In England wurde der NHS vor allem durch Steuereinnahmen finanziert, unterstützt durch staatliche Versicherungsbeteiligungen. Während der NHS zwar im Allgemeinen als frei zugänglich gilt, mussten Patient*innen doch seit 1951 für einige Leistungen zuzahlen (z.B. bei Rezepten oder zahnärztlicher Behandlung). Allerdings gibt es für viele Patient*innen Ausnahmeregelungen, inkl. für Patient*innen unter 16 oder über 60 Jahren, sowie für Empfänger*innen staatlicher Unterstützungsleistungen. Die bestehenden Ausnahmeregeln führten dazu, dass letztes Jahr 90% aller Rezepte ohne Zuzahlung abgegeben wurden. Die zusätzlichen Einnahmen durch Zuzahlungen variierten im Lauf der Jahre im Verhältnis zur Finanzierung aus allgemeinen Steuereinnahmen, staatlicher Versicherung und Versichertenbeiträgen von einem Maximum von 5% 1960 bis zu einem Minimum von 1,7% zwischen 2007 und 2011. In Großbritannien besitzen 10,6% der Bevölkerung eine private Krankenversicherung, wobei es sich bei der Mehrheit um betriebliche Policen handelt, die Angestellten als Teil ihrer Gesamtvergütung angeboten werden.

Das sogenannte New Public Management (NPM), strukturelle Anpassungen und Austerität

Das NPM, oft beschrieben als »markt-basierte Ideologie«, ist durch Vermarktung, staatliche Sparpolitik und Dezentralisation charakterisiert; es wurde in der Thatcher-Ära 1990 eingeführt und eröffnete die Privatisierung der öffentlichen Dienste. Als Konsequenz daraus wurde eine Quasi-Marktstruktur im Gesundheitssystem Großbritanniens implementiert: Öffentliche und private Anbieter konkurrierten miteinander darum, die jeweils besseren und schnelleren Dienstleistungen anzubieten. NPM sollte ein effektiveres und effizienteres öffentliches Gesundheitssystem hervorbringen, indem top-down umstrukturiert und überwacht wurde, verbunden mit Personalabbau sowie Dezentralisierung. Gesundheitsversorgung wurde so zur Ware, die durch den Markt angeboten wird, statt eines Rechts, das vom Staat geschützt wird.
Die Sparpolitik passt in das Bild von Budgetkürzungen, Schließungen und Privatisierung. Ein gutes Beispiel dafür, wie Austerität wirkt und mit Public Private Partnerships (PPP) verknüpft ist, zeigt sich an Kürzungen für Leistungen im Bereich der psychischen Gesundheit, wo private Anbieter Jahr für Jahr unglaubliche Gewinne einfahren. Das hat zu einem massiven Mangel an psychologischer Behandlung geführt.

Der Privatisierungsprozess

Der NHS wurde 1948 gegründet. Von Beginn an war er begleitet von zwei großen Kontroversen unter Politiker*innen: Zum einen sei er zu teuer, zum anderen würden die Leute ihn missbrauchen. Schließlich aber wurde diesen Politiker*innen das Gegenteil bewiesen; er war weder unerschwinglich, noch missbrauchten es die Menschen. Der NHS war eine der Säulen des Sozialstaates, den William Beverage während des zweiten Weltkriegs erdacht und umgesetzt hatte. Aneurin Bevan war der Architekt des NHS, wie wir ihn heute kennen. Er glaubte, dass die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern den Zugang zu den besten medizinischen Behandlungen gewähren sollte. Im NHS ging es um Umverteilung auf der Basis von Bedarfen, öffentlichem Eigentum und Rechenschaftspflicht Einige wenige private Interessen waren zwar immer gegenwärtig, aber Kommerzialisierung und Privatisierung wurden sorgsam ferngehalten, um Verschwendung vorzubeugen.
Mit dem Health and social care act (HSCA) von 2012 begannen sich Gesundheits-Aktivist*innen ernsthafte Sorgen um den NHS zu machen. Zentrale Inhalte des Gesetzes waren: 1) Es beseitigt die Pflicht des Gesundheitsministers, die Versorgung aller sicherzustellen. 2) Es führt neue Versicherungsstrukturen ein, und 3) gibt es der Minister*in die Möglichkeit, eine Wirtschaftsbürokratie einzuführen und es gibt Anbietern die Möglichkeit zu entscheiden, wer von der Versorgung profitieren wird. Die Implementierung des HSCA öffnete Tür und Tor für Versicherer auf risikostratifizierter Basis: Risiken müssen identifizierbar und vorhersagbar sein, und sie müssen einem Vertrag zugeordnet und übertragen werden. Fragmentierte und extrem bürokratische Strukturen wurden so eingeführt. Im alten Modell war die Minister*in verantwortlich für das Gesundheitsministerium und für alle Versicherten landesweit. In David Camerons (Premierminister von 2010-2016) neuer komplexer Wirtschaftsbürokratie hat die Minister*in zwar die ganze Macht, aber de facto keine Verantwortung mehr.
Die interessanteste Erfindung des HSCA sind die sogenannten Clinical Commissioning Groups (CCGs): Sie ersetzen die Primary Care Trusts (PCTs), welche von der Labour-Partei 1997 implementiert wurden, um die Bereitstellung von primären und gemeindebasierten Gesundheitsleistungen durch die verschiedenen Leistungserbringer im NHS auf regionaler Ebene zu organisieren. CCGs sind dabei in der Lage, Dienstleistungen von allen qualifizierten (auch privaten, Anm. der Redaktion) Anbietern zu erwerben.

Einschub der Redaktion: Die CCGs wurden als regionale Planungsinstanzen der sekundären und gemeindebasierten Gesundheitsleistungen eingeführt. Sie setzen sich aus Allgemeinme­di­zi­ne­r*innen (General Practitioner -– GP), anderen Gesundheitsberufen, wie Pflegefachkräften und Laien einer Region zusammen. Sie sind Verwaltungsorgane des NHS und für die Planung und Beauftragung von Gesundheitsleistungen für die Menschen verantwortlich, die bei einem Mitglied des CCGs behandelt werden (meist bei einem der GPs) oder in der Region leben, die von einer bestimmten CCG abgedeckt wird und gleichzeitig in keiner anderen CCG eingeschrieben sind. Die CCG erheben, planen und evaluieren die regionalen Gesundheitsbedarfe und vergeben Verträge für die Erbringung von Gesundheitsleistungen z.B. an Krankenhäuser, Rettungsstellen, Gemeindegesundheitsdienste oder zunehmend auch GPs. Sie verwalten einen großen Anteil des gesamten Budgets des NHS und arbeiten unter wirtschaftlicher Konkurrenz zueinander. Während früher alle Menschen einer Region automatisch durch einen PCT versorgt wurden, können Menschen nun zwischen verschiedenen CCGs in ihrer Region wählen, aber auch die Versorgungsverantwortung der CCGs ist nicht mehr automatisch auf alle Bewohner*innen einer Region ausgeweitet.

Um Mitglied zu werden, müssen die Bürger*innen sich zunächst bei einem GP registrieren, allerdings können nicht alle GPs einer CCG beitreten und nicht alle Menschen haben effektiv die Möglichkeit, sich bei einem GP einzuschreiben. Theoretisch ist jeder Mensch, der sich dauerhaft in Großbritannien aufhält, berechtigt, primäre Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. Praktisch werden einige Bevölkerungsgruppen aber systematisch von der Versorgung ausgeschlossen wie z.B. Obdachlose oder Migrant*innen, weil sie u.a. keinen Nachweis ihres dauerhaften Wohnsitzes erbringen können (dieser ist aber Voraussetzung für eine Registrierung bei einem GP und somit bei einer CCG –- Anm. der Redaktion). Niemand ist mehr -– wie früher -– automatisch durch das Gesundheitssystem abgesichert. Bürger können beispielsweise auch ausgeschlossen werden, weil sie eine chronische Erkrankung haben, für die die CCGs die Behandlung nicht länger bezahlen wollen – sie müssen dann selbst zahlen oder die Behandlung abbrechen. Entweder aufgrund ihres sozioökonomischen Status oder ihres Ge­sund­heitszustandes können Bürger*innen heute also ggf. nicht berechtigt sein, einer CCG beizutreten.
Die Versorgung wird zunehmend privatisiert. Wegen des Verlusts regionaler Eigenverantwortung sind regionale Bedarfe nicht mehr die entscheidende Größe der Entwicklungen im Gesundheitssystem; kommerzielle Aktionäre haben es jetzt vom Gesetzgeber übertragen bekommen zu entscheiden, wer welche Versorgung bekommt. Eine unübersichtliche Anzahl neuer Firmen (z.B. Bupa, McKenzie, Virgin u.v.m.) wurde immer mehr in die Versorgungsstrukturen mit einbezogen und ersetzen langsam das bisherige System. Nach Schätzungen fließen Tag für Tag Millionen Pfund an NHS-Geldern in die Taschen kommerzieller Firmen. Der HSCA verpflichtet die CCGs dazu, jeden Vertrag über mehr als 615.278 Pfund auszuschreiben. Dies führte zu einer gewaltigen Zunahme von NHS-Verträgen mit profitorientierten Firmen wie Virgin Care und Care UK. In den Jahren 2017-2018 floss eine geschätzte Summe von 8,7 Milliarden Pfund vom NHS in die Taschen privater Anbieter.
Effektivität ist das Mantra der Privatisierung. Die Profitorientierung des Marktes war uns immer wieder eine Warnung vor der Privatisierung des Gesundheitssystems, zumal es keinen Hinweis auf eine höhere Effektivität in der Privatwirtschaft gibt. Wenn man Marktmechanismen zulässt, wird es im Gegenteil viel teurer. Dieser Widerspruch wurde deutlich, nachdem die Gesundheitsausgaben zwischen 1990 und 2012, also nach dem Beginn von Privatisierungen durch die Labour-Partei, drastisch stiegen. Neue Ineffektivitäten traten auf: Versicherungen, Rechnungen und Verwaltung, unnötige Dienstleistungen. Während zuvor nur 6% der Ausgaben für die Verwaltung verwendet wurden, sind es heute mehr als 40%. Der Markt erzeugt auch neuen Druck: z.B. all die unnötigen Dienstleistungen (und Beratungstätigkeiten), die heute gebraucht werden, um Profitmöglichkeiten zu eruieren.

Die Rolle der Aktivist*innen

Der NHS ist so etwas wie das Herzstück des britischen Nationalismus; sogar die Brexit-Befürworter benutzten es, um Emotionen zu schüren (das Versprechen, durch den Brexit würden 350 Mio. Pfund/Woche für den NHS frei, war einer der Grundpfeiler der Pro-Brexit-Kampagne; es wird inzwischen als vorsätzliche Lüge betrachtet). Der Brexit spielt auch eine große Rolle in der gesellschaftlichen Mobilisierung, die gegenwärtig in Großbritannien stattfindet. Es wird davon ausgegangen, dass der Personalmangel schlimmer und die Wartezeiten sich verlängern werden und dass die Streichung von Geldern Probleme bei der Versorgung mit Arzneimitteln aufwerfen wird. Die Armut, die wichtigste soziale Determinante von schlechter Gesundheit, wird ansteigen.
Gesundheitsprofessionelle bleiben die wichtigsten Verbündeten des NHS. Sie wurden aufgefordert, die öffentliche Kampagne »Keep Our NHS Public« zu unterstützen, auch aus Angst, dass durch all die amerikanischen Versicherungsfirmen das amerikanische Modell in GB eingeführt werden könnte. Es kam zu einer wirklichen gesellschaftlichen Mobilisierung. Anhänger der Kampagne begutachteten das Gesetz (HSCA) von 2012 und kamen zu dem Schluss, dass der Regierung in Bezug auf den NHS nicht mehr vertraut werden könne. Das Gesetz war in jeder Hinsicht ein Fehlschlag: längere Wartezeiten, schlechtere Qualität, höherer Ausfall von Leistungen, weniger Personal und sinkende Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter*innen.
Verminderte staatliche Finanzierung des Gesundheitssystems schuf in anderen Staaten, wie z.B. in Deutschland, einen Raum, in welchem private Firmen erstarken konnten. Warum passierte das nicht in GB? Viele denken, dass die Aktivist*innen eine Schlüsselrolle dabei spielten, den NHS zu schützen.
Es ist bemerkenswert, wie sehr die Öffentlichkeit seit 1983 die Kernaufgabe und die Prinzipien des NHS unterstützt. Der King’s Fund, der einflussreichste Think Tank in GB, versichert, dass private Firmen keine größere Rolle im Gesundheitssystem spielen werden und dass es für alle Politiker*innen, die das ändern wollten, politischer Selbstmord wäre. Akti­vist*innen des NHS –- inklusive Prof. Stephen Hawking –- die Zivilgesellschaft, Patient*innenenorganisationen und Angestellte im NHS bekämpften und bekämpfen den Privatisierungsprozess.
Zeitungen wie der Guardian garantierten eine große mediale Aufmerksamkeit. Verschiedene Netzwerke wie »Members of People’s Health Movement UK« und »Keep Our NHS Public« arbeiteten gemeinsam an der Anti-Privatisierungs-Kampagne. Zweifellos wurde die Kampagne für andere Aktivist*innen weltweit ein Symbol an gesellschaftlicher Solidarität, um das Gesundheitssystem gegen wirtschaftliche Interessen zu verteidigen. Nichtsdestotrotz darf die Wachsamkeit nicht nachlassen: Wir alle müssen die Grundsätze des NHS immer wieder aufs Neue schützen, denn die Regierung wird erneute Privatisierungs-Versuche unternehmen.

Giulia Loffreda ist aktiv im Peoples Health Movement UK. Der englische Originaltext mit Referenzen und Literatur ist über die Redaktion zu beziehen. –

Übersetzung aus dem Englischen: Eva Pelz

 

Genaueres hierzu findet sich immer noch in der Ausgabe 2/2014 von Gesundheit braucht Politik, das sich dem Thema NHS und den Privatisierungsversuchen gewidmet hatte.

 

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ökonomisierung und Privatisierung international, 1/2019)


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