GbP 1-2019 Dahlgren

Glaubenssätze, Wunschdenken und kommerzielle Interessen

auch in Schweden wird die Gesundheitsversorgung kommerzialisiert


Göran Dahlgren erklärt die marktorientierten Gesundheitsreformen in Schweden, beschreibt die Auswirkungen auf den Zugang und die Qualität der Gesundheitsversorgung und benennt die Gewinner und Verlierer dieser Umgestaltung.


1. Zwei große neoliberale Reformen

Die Gesundheitspolitik der letzten Jahre in Schweden war geprägt von neoliberalen marktorientierten Reformen, die insbesondere die Primärversorgung betrafen. Was passierte – und immer noch stattfindet –, ist eine schrittweise Transformation der primären Versorgung in ein mehr und mehr privatisiertes und profitorientiertes System. Die folgenden beiden Reformen waren die zentralen Vehikel für diese Transformation dar:
Das »Gesetz über die freie Wahl des Versorgungssystem« (»Lagen om vårdvalssystem«) wurde 2010 vom Parlament verabschiedet. Das Gesetz sieht vor, dass alle privaten, profitorientierten Anbieter, die bestimmte Kriterien erfüllen, in der öffentlichen Finanzierung bevorzugt werden. Diesen kommerziellen Anbietern wird darin auch das Recht eingeräumt, ihre steuerfinanzierten Gesundheitsleistungen an jenen Orten anzubieten, wo es für sie am profitabelsten erscheint. Der unterschiedliche Bedarf in den verschiedenen Regionen wird nicht berücksichtigt. Die für das Gesundheitswesen zuständigen Landräte (schwed. »Landstings«) können weder über die Anzahl noch den Ort jener Praxen mitbestimmen, die sie aber mit Steuergeldern finanzieren. Obwohl der Name des Gesetzes die freie Wahl suggeriert, hat es keinerlei Einfluss auf das Arzt- bzw. Versorgungswahlrecht der Bevölkerung.
Der Grund für die irreführende Namensgebung des Gesetzes war der Umstand, dass die Menschen in Schweden in Umfragen zwar eine freie Arztwahl bevorzugten, aber gleichzeitig sehr kritisch gegenüber einer Steuerfinanzierung von privater, profitorientierter Gesundheitsversorgung eingestellt waren. Dementsprechend sollte die »Wahlfreiheit« im Titel des Gesetzes verschleiern, dass der eigentliche Zweck in der »Stärkung der Privatisierung« besteht.
»Neue öffentliche Verwaltung« (New public management, NPM) nennt sich die zweite große Reform. NPM zwingt die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, sich fast genauso zu verhalten wie die privaten, profitorientierten Anbieter. Die öffentlichen Akteure müssen ihre Arbeit finanzieren, indem sie ihre Leistungen auf einem umkämpften Markt anbieten. Kostendeckende Erlöse wurden somit zu einem wichtigen Ziel für öffentliche Gesundheitseinrichtungen, obwohl dies nie öffentlich als Zielvorgabe beschlossen und kommuniziert wurde.
Die abzusehenden Auswirkungen dieser beiden Reformen wurden im Vorfeld ihrer Implementierung nie analysiert. Sie waren – und sind weiterhin – angetrieben durch neoliberale und konservative ideologische Glaubenssätze, Wunschdenken und starke kommerzielle Interessen. Die Sozialdemokraten haben diese Reformen widerwillig akzeptiert, während die linke Partei dagegen opponiert.
Die realen Auswirkungen dieser Reformen wurden nun – fast zehn Jahre nachdem das »Gesetz über die freie Wahl« ratifiziert wurde – durch mehrere nationale Behörden und Forschungsgruppen analysiert und ausgewertet. Besonderes Interesse galt dabei den Auswirkungen auf die Primärversorgung. Einige zentrale Ergebnisse dieser Analysen sollen hier kurz dargestellt werden.


2. Inanspruchnahme der Primärversorgung

Wachsende Kluft zwischen Stadt und ländlichen Regionen: Die Anzahl der steuerfinanzierten Gesundheitszentren stieg zwischen 2010 und 2012 um 20 Prozent, seitdem jedoch wurden jährlich nur noch wenige neue Zentren eingerichtet (2). Fast alle dieser neuen Gesundheitszentren waren private, profitorientierte Anbieter, die häufig im Besitz internationaler Kapitalinvestoren sind.
82% dieser steuerfinanzierten neuen Gesundheitszentren befinden sich in städtischen Regionen mit ohnehin schon ganz guten Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung (2). Dies kann nur teilweise durch die Urbanisierung erklärt werden. Fast keine neuen Versorgungszentren wurden in ländlichen, unterversorgten Gebieten eingerichtet. Von dem Teil der Bevölkerung, der zuvor bereits weit weg von einem Gesundheitszentrum lebte, muss seit der »Wahlfreiheitsreform« eine viertel Million Menschen noch weiter fahren, um versorgt zu werden. Typischerweise betrifft das vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen und einem erhöhten Bedarf von medizinischer Versorgung (3).

Die wachsende Kluft zwischen Stadtteilen mit hohen und niedrigen Einkommen: Innerhalb der städtischen Regionen wurden die meisten der neuen privaten Gesundheitszentren in ökonomisch bessergestellten Gegenden eröffnet. Eine Studie der nationalen Prüfbehörde (National Auditing Authority) zeigte, dass es keine Korrelation gab zwischen der Implementierung eines neuen Gesundheitszentrums und dem Bedarf an Leistungen. Es zeigte sich hingegen eine sehr starke Korrelation zwischen hohen Durchschnittseinkommen in einem Gebiet und der Eröffnung von neuen privaten, profitorientierten Gesundheitszentren (3).

Das Hauptaugenmerk scheint auf Patient*innen zu liegen, die eher kleine als schwerwiegende gesundheitliche Probleme haben: Menschen mit kleineren gesundheitlichen Problemen haben einer großen Studie zufolge ihre Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Vergleich zu Menschen mit schwereren gesundheitlichen Problemen gesteigert (4). Eine Umfrage unter Ärzt*innen einer primärversorgenden Einrichtung in Stockholm ergab, dass nur 1% der Antwortenden glaubte, dass die gegenwärtigen marktorientierten Reformen auch den Menschen mit schwerwiegenderen Gesundheitsproblemen zugute kämen. 78% der Ärzt*innen fanden, dass das System Menschen mit größeren Gesundheitsproblemen diskriminiert (5).


3. Versorgungsqualität des Gesundheitswesens

Deutlich weniger Vertrauen von Allgemeinmediziner*innen: Das Vertrauen von Allgemeinärzt*innen in das Gesundheitssystem hat seit der Umsetzung der Marktreformen deutlich gelitten. Während im Jahr 2012 noch 40% der Allge­mein­me­di­ziner*innen bejahten, dass das Gesundheitssystem gut funktioniere, waren es im Jahr 2014 nur noch 19% (7).

Die marktorientierten Reformen haben die Versorgungsqualität nicht verbessert: Die Qualität des schwedischen Primärversorgungssystems ist im Vergleich zu vielen anderen westeuropäischen Ländern verhältnismäßig schlecht. Nur 64% der Patient*innen haben eine Hausärzt*in. Die Entwicklung seit 2010 ist ebenfalls negativ, wenn man den zunehmenden Grad der Fragmentierung im Gesundheitswesen betrachtet (8), z.B. was die die Kooperation zwischen den Allgemein­mediziner*innen und anderen Fachrichtungen angeht (7). Es gibt viele Gründe für diese problematischen Entwicklungen, aber es scheint so, dass die Einführung des Konkurrenzprinzips zwischen den Leistungs­an­bie­ter*innen negative Auswirkungen sowohl auf die Kontinuität der Versorgung als auch die Zusammenarbeit der Anbie­te­r*innen hatte.

Verlust knapper finanzieller Ressourcen für die Gesundheitsversorgung: Dadurch, dass sie profitable, aber unnötige medizinische Leistungen begünstigen, führen markt- und profitorientierte Reformen zu einem Verlust an öffentlichen Finanzmitteln. Hinzu kommt, dass viele der privaten Anbie­ter bzw. ihre Gesellschafter*innen Strategien zur Steuerhinterziehung bzw. legalen Steuervermeidung als Teil ihres Geschäftsmodells betreiben, wodurch dem Staat wichtige Einnahmen verloren gehen.


4. Wahrgenommene und medizinische Versorgungsqualität

Mehr private Anbieter vermochten die wahrgenommene Qualitätssteigerung der Versorgung nicht erhöhen: Die beobachteten Unterschiede in der Wahrnehmung der Versorgungsqualität zwischen öffentlichen und privaten Anbietern gleichen sich an, wenn die Unterschiede in Hinblick auf die Krankheitslast sowie den sozioökonomischen Kontext mitbetrachtet werden (9).

Gewinner und Verlierer: Die kommerziellen Anbieter und ihre Inhaber*innen sind die klaren Gewinner dieser marktorientierten Reformen. Menschen, die in städtischen Regionen mit einem relativ hohen Durchschnittseinkommen leben, werden durch diese Reformen begünstigt, insbesondere dann, wenn sie nur kleinere Gesundheitsprobleme haben. Die klaren Verlierer*innen dieser Entwicklung sind die Menschen aus ländlichen Regionen mit niedrigeren Einkommen, die chronische Gesundheitsprobleme haben. Darüber hinaus verlieren Gesundheitseinrichtungen die Möglichkeit, unprofitable aber notwendige Leistungen zur Verfügung zu stellen.

Abschließend sollte noch einmal betont werden, dass die meisten Effekte der Gesundheitsreformen profitorientiert sind und somit in direktem Konflikt mit den Grundsätzen, Zielen und ethischen Prinzipien des gültigen »Schwedischen Gesetz über die Gesundheitsversorgung« (Hälso- och sjukvårdslagen) aus dem Jahr 2007 stehen (10).


Göran Dahlgren ist Visiting Professor an University of Liverpool, ehemaliger Abteilungsleiter des »Health Service Department« im Ministerium für Gesundheit und Soziales, Schweden.

Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Kunkel


Literaturverweise

  1. Dahlgren G (1994): »Framtidens sjukvårdsmarknader- vinnare och förlorare«, Natur och Kultur (Future health care markets – winners and loosers. This book was published by Natur och Kultur)
  2. Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no 2015:6 (The National Authority for health care analyses, Report 2015:6)
  3. Riksrevisionen (2014), Rapport no 2014:22 (The National Auditing Authority, Report no 2014:22 )
  4. Myndigheten för vårdanalys (2013), Rapport 2013:1 (The National Authority for health care analyses, Report no 2013:1)
  5. Landstingsrevisorerna SLL (2012), Rapport nummer 10/20 (The auditors at Stockholm count council, Report no 10/2012)
  6. Beckman A, Anell A. (2013): »Changes in health care utilization following a reform involving choice and privatization in Swedish primary care: a five year follow up of GP visits«, University of Lund
  7. Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport no. 2015:9 (The National Authority for health care analyses, Report no. 2015:9
  8. Stiernstedt G et. al (2016), Dagens Medicin 13/1 2016 (Article by Göran Stiernstedt in the magazine »Medicine of today«)
  9. Myndigheten för vårdanalys (2015), Rapport 2015:5 (The National Authority for health care analyses, Report no 2015:5)
  10. Dahlgren G (2018): »När sjukvården blev en marknad – effekter och alternativ«, Premiss förlag« (»When the health care system became a market- effects and alternatives«, This book was published by Premiss)

Alle Texte außer Beckman et.al. wurden auf Schwedisch publiziert.

 

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ökonomisierung und Privatisierung international, 1/2019)


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